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Der deutsche Mittelstand und die Europawahl – die EU-Wirtschaftspolitik am Scheideweg

Bereits zum zehnten Mal können im Juni dieses Jahres etwa 350 Mio. Wähler:innen direkt das Europäische Parlament wählen und damit die Inhalte der nächsten Legislaturperiode von 2024 bis 2029 mitgestalten. Angesichts der kontinuierlich gewachsenen Bedeutung der Rechtsakte der EU-Institutionen für wesentliche Aspekte des Wirtschaftens und der gesellschaftlichen Interdependenz in Deutschland ist es absolut verständlich, dass auch mittelständische Unternehmen in Deutschland ihre Erwartungen an die zukünftige europäische Wirtschaftspolitik zunehmend deutlich artikulieren. So basieren mittlerweile etwa 60 Prozent der deutschen Gesetzgebung in den Bereichen Wirtschaft und Handel, Migration und Umwelt auf EU-Richtlinien.

Die Dominanz der EU-Gesetzgebung ist nicht konfliktfrei. Vor allem der anhaltende Trend zu Dirigismus und zur Regulierung kleinster Sachverhalte schmälert die Akzeptanz der EU bei allen nationalen Stakeholdern. Mittelständische Unternehmen fühlen sich in ihrer unternehmerischen Freiheit und dem eigenen gestalterischen Beitrag zum nationalen Wirtschaftswachstum immer weiter eingeschränkt. Nahezu alle aktuellen Umfragen in Deutschland zeigen, dass Unternehmer:innen beim Begriff Europa erst an die Schlagworte Bürokratie, Überregulierung und Berichtspflichten denken, bevor sie die überragenden Errungenschaften und Vorteile der Europäischen Union – 75 Jahre Frieden in Europa, geopolitische Stabilität, die Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes sowie das erreichte Wachstum – anführen.

Nachträglich wirkt die Aussage von Edmund Stoiber, die er vor acht Jahren bei der Beendigung seiner Tätigkeit als Anti-Bürokratie-Ratgeber bei der EU traf, wie ein Wunsch statt der Beschreibung einer neuen Realität: Er sehe hinsichtlich des Bürokratieabbaus »ein grundsätzlich neues Denken in Brüssel« und es werde nicht alles in Brüssel geregelt, was dort geregelt werden könne. Vielmehr sehen wir auf europäischer Ebene und – wesentlich getrieben durch die Ausnahme der 1:1-Umsetzungen von EU-Vorgaben – auch im nationalen Recht, dass die sog. One-in-one-out-Regel sich weit von ihrer Namenslogik entfernt hat. Mittlerweile treten für jede abgeschaffte EU-Regel fünf neue in Kraft, die häufig Elemente der Mikrosteuerung und Überregulierung beinhalten. Jüngste Beispiele sind die Kontroverse um die nunmehr beschlossene EU-Lieferkettenrichtlinie und die geplanten EU-Vorhaben im Rahmen der Neujustierung der EU-Wirtschaftssicherheitsstrategie (Critical Raw Materials Act).

Die Ziele der Förderung humaner Bedingungen in Entwicklungs- und Schwellenländern sowie des Schutzes der europäischen Wirtschaft angesichts der Abhängigkeit von außereuropäischen Staaten beim Bezug seltener Erden und notwendiger Rohstoffe rechtfertigen die politische Befassung und europäische Rechtsetzung. Auch die Spirale in Richtung weiterer wirtschaftlicher Entkopplung zwischen den USA und China zwingt die EU, eine fortlaufende Standortbestimmung der europäischen Wirtschaft vorzunehmen. Mittlerweile nehmen Unternehmen in Deutschland aber zumindest deren Umsetzung als Perspektivwechsel der EU – hin zu mehr Kontrolle und Einschränkung unternehmerischer Gestaltung sowie der Reduzierung von freiem Handel und offenen Märkten – wahr. Dabei sollten staatliche Diversifizierungspflichten und Produktionsvorgaben auf das Allernötigste begrenzt und ein staatlich gelenkter Außenhandel ein nur theoretisches Szenario bleiben.

Umso wichtiger ist in dieser Phase, in der sich Europa sicherheitspolitisch, aber insbesondere auch wirtschaftspolitisch am Scheideweg befindet, dass sich die Unternehmen noch intensiver am politischen Diskurs öffentlich beteiligen. Nach einer aktuellen Egon Zehnder Studie will sich die große Mehrheit mittelständischer Unternehmer:innen angesichts der aktuellen Herausforderungen noch stärker in die geopolitische Debatte einbringen. Um ihnen Gehör zu verschaffen, sollte die EU-Administration in der neuen Legislaturperiode aber eine Kurskorrektur vornehmen und die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit sowie die Stärkung des Binnenmarktes wieder ganz oben auf ihre Prioritätenliste stellen. Derzeit steht dort der Green Deal und das Ziel, bis 2050 keine Netto-Treibhausgase mehr auszustoßen. Während dieses Ziel und die inhaltlichen Programmpunkte für mehr Klima- und Umweltschutz in der EU im Wesentlichen anerkannt sind und die Anstrengungen zur Erreichung der Pariser Klimakonferenzziele allgemein konsensfähig sein sollten, scheint die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen aktuell ein Schattendasein zu führen und nicht ausreichend im Fokus. Ohne Wachstumsdynamik bleibt Europa aber von den USA und China abgehängt.

Ein Beispiel für die Dysfunktionalität Brüsseler Politik sind die zukünftig für Unternehmen zu erwartenden Einschränkungen bei Kapitalmarkt- und Fremdfinanzierungen, da diese direkt und indirekt den Nachhaltigkeitsvorgaben des Green Deal entsprechen müssen. Banken dürfen nur Geschäftsmodelle finanzieren, die damit einhergehen. Durch die im Jahr 2024 erstmalig anzuwendende Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) wird der Entwicklungsstand der nachhaltigen Geschäftsmodelle der Unternehmen vergleichbar transparent, sodass sich hieraus mittelfristig ein faktischer und legaler Zwang für das Finanzierungsverhalten sowohl der Banken als auch der in Europa regulierten institutionellen Investoren ergibt. Neben dem Mehraufwand durch Berichts- und Transparenzvorgaben, der gerade für den Mittelstand mittlerweile teilweise erdrückende Anforderungen mit sich bringt, sehen global agierende Unternehmen mit relevanten Assets im außereuropäischen Ausland, insbesondere den USA, das zukünftige Risiko der Divergenz der Asseteinschätzung. Deutsche mittelständische Unternehmen entwickeln darauf reagierend Strategien, in den USA Vehikel der eigenständigen Finanzierung zu nutzen, die sie von dem Risiko der Nichtfinanzierbarkeit im Zuge der EU-Vorgaben unabhängig machen. Dies hat für Deutschland zur Folge, dass der Standort weiter an Relevanz einbüßt und die für eine Transformation notwendigen Renditen anderen Wirtschaftsräumen zur Verfügung stehen. In die andere Richtung – aber mit vergleichbarer Folge – setzen erste US-amerikanische Equity-Investoren bereits Strategien um, in Wettbewerber europäischer Unternehmen oder Private Equity Funds zu investieren, die nicht nach EU-Recht reguliert sind. Hier droht aus europäischer Perspektive ein gefährlicher Teufelskreis, den es zu stoppen gilt, bevor es zu spät ist.

Aus diversen Gründen werden auch ohne EU-Regulierung nicht alle Industriebereiche in Deutschland wettbewerbsfähig bleiben. So mancher Hidden Champion wird sein Geschäftsmodell nicht bzw. nicht schnell genug den Veränderungen durch weitere Digitalisierung und künstliche Intelligenz anpassen können. Dennoch werden die neuen EU-Vertreter:innen die hohe Innovationskraft des deutschen Mittelstands weiter fördern müssen, um die Attraktivität der EU insgesamt zu erhalten. Sie müssen in ihrer Rechtsetzung implizieren, dass Treibhausgasminderung, industrielle Wettbewerbsfähigkeit, Verlässlichkeit in Rohstoff- und Güterbeschaffung sowie finanzielle Leistbarkeit sich wechselseitig bedingen. Darüber hinaus müssen sie die so häufig geforderten Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Dynamik schaffen, z. B. mit der Beschleunigung und Vereinfachung der Zuwanderung von Arbeitskräften aus Drittstaaten, der Ermöglichung besserer Datennutzung, der zügigeren Genehmigungsverfahren auf EU-Ebene, der Erhöhung der Resilienz der Lieferketten durch neue Rohstoff- und Handelsabkommen mit wichtigen Partnern wie Indien und Indonesien oder dem Abbau der bürokratischen Hemmnisse.

Gerade deutsche mittelständische Unternehmen haben von der EU und den Grundfreiheiten des europäischen Binnenmarktes umfassend profitiert. Es gilt daher für die Unternehmer:innen,  auch abseits von der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen aktiv an der Gestaltung unserer Gesellschaft im Rahmen einer zukunftsfähigen EU teilzunehmen. Für die zu wählenden Vertreter:innen in den EU-Organen sollte die Ermöglichung eines Rechtsrahmens relevant sein, der einen Fokus auf eine wirksame Befreiung der Gesellschaft und der Wirtschaft von unnötigen Innovations- und Entwicklungseinschränkungen legt und den Mehrwert der Europäischen Union für die Wirtschaft wieder mehr in den Vordergrund rückt.

Der Beitrag ist erschienen in: Audit Committee Quarterly „Europawahl 2024“, I / 2024. Veröffentlichung auf unserer Website mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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