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Öffentlicher und sozialer Sektor

Leadership und Geopolitik: Transatlantische Partnerschaft neu denken

Stuttgarter Gespräche 2024

Politik und Wirtschaft stehen in diesem Sommer klar unter dem Eindruck wichtiger Wahlen in der EU und in den USA: Die Europawahl hat im Mai 2024 antieuropäische und rechtsextreme Kräfte in vielen Ländern der Europäischen Union gestärkt. Die in der Folge kurzfristig angesetzte Neuwahl des französischen Parlaments brachte zunächst den Rechtspopulisten, dann überraschend einem Linksbündnis Rückenwind. Die jüngsten Entwicklungen haben insgesamt zu Verunsicherung geführt.

Diese Verunsicherung ist auch deshalb so groß, weil sich die jüngsten politischen Ereignisse vor dem Hintergrund multipler Krisen abspielen. Dazu zählen zum Beispiel der Ukraine-Krieg und eine mögliche Bedrohung, die von China ausgehen könnte. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Wer führt? Wer gibt in den notwendigen Debatten den Ton an? Und wenn die Politik ihre Führungsrolle in diesen Debatten nicht ausfüllt, welche Rolle fällt dann der Wirtschaft zu?

In den kommenden Monaten richtet sich damit der Blick nicht nur der politischen Entscheider:innen, sondern auch der Führungspersönlichkeiten in den Unternehmen auf die anstehenden US-Wahlen, unter deren Eindruck sich die Polarisierung des Landes verstärkt.

Wie entscheidend die politischen Weichenstellungen in diesem Wahljahr sind, zeigt auch eine aktuelle Umfrage von Egon Zehnder.

Wir haben 223 CEOs und Top-Führungspersönlichkeiten deutscher Großunternehmen und Mittelständler gefragt, wie sie auf die US-Wahl blicken – und welche Erwartungen sie in der aktuellen geopolitischen Lage an die Politik in Deutschland und Europa haben.
 

Das Bild, das die Antworten der Top-Führungspersönlichkeiten zeichnen, ist ambivalent.

Unentschlossene EU,
gespaltene USA:
Wer führt?

Eine als wenig handlungsfähig wahrgenommene Bundesregierung und eine unentschlossene EU, ein mit sich selbst beschäftigter Partner USA –
inmitten großer geopolitischer Herausforderungen ist Führungspersönlichkeiten vieler deutscher Unternehmen unklar: Wer führt in die Zukunft?

Wenn Sie an die aktuelle geopolitische Lage denken, welche der folgenden Themen beschäftigen Sie am meisten?

(Mehrfachnennungen möglich)

Transatlantische Beziehungen
im Wandel:
Chancen und Risiken

Die befragten Führungspersönlichkeiten bewerten die Beziehungen zwischen Deutschland und den USA grundsätzlich als (eher) gut. Die USA sind aus ihrer Perspektive Wettbewerber, aber auch weiter wichtiger Partner. In einer Wiederwahl Trumps sehen 70 Prozent der Befragten ein großes Risiko mit potenziell katastrophalen Folgen nicht nur für die USA, sondern auch für Europa und Deutschland.

Fast jede:r dritte Befragte sähe in einem Wahlsieg Trumps allerdings sogar eine Chance: 30 Prozent der Befragten erhoffen sich von Trumps möglicher Wiederwahl einen Impuls für positive Veränderungen auch in Europa: So könnte die EU dadurch einen Anstoß bekommen, selbst mehr Verantwortung auf der geopolitischen Bühne zu übernehmen und stärker „auf eigenen Füßen zu stehen“. Die Umfrageergebnisse zeigen auch: Viele der Befragten blicken weiter anerkennend insbesondere auf die wirtschaftliche Dynamik in den USA.
 

Wie würden Sie die aktuelle Beziehung zwischen Deutschland und den USA bewerten?

Wünsche an die Politik:
Mehr Fokus, mehr Pragmatismus, Führungsrolle ausfüllen

Vor dem Hintergrund der angespannten geopolitischen Lage haben wir die Top-Führungspersönlichkeiten gefragt:

„Wovon würden Sie sich für Deutschland mehr wünschen, um für die aktuellen und zukünftigen geopolitischen Herausforderungen gewappnet zu sein?“

In den Antworten zeichnen sich einige Kernthemen ab: Die Befragten wünschen sich einen deutlichen Fokus auf Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft, mehr Pragmatismus, Führungsstärke, eine klare geopolitische Positionierung und eine strategische Agenda.

Was Unternehmen jetzt von der Politik erwarten

Die Herausforderungen sind groß – die Erwartungen an die Politik aus den Führungskreisen der Unternehmen sind es auch. Die 5 wichtigsten Wünsche an die Politik auf einen Blick:

Rolle in der Welt

Gefordert wird eine ergebnisorientierte und nicht ideologieorientierte Politik mit dem Mut, Unklarheiten später zu klären; weniger Weltverbesserungsambitionen, mehr Realismus und Sachverstand.

Pragmatismus

In der unsicheren geopolitischen Lage hilfreich wäre eine klar und strategisch geführte Agenda, die sich auf Kernthemen wie Bildung und Wirtschaft konzentriert. Zudem wünschen sich Unternehmer:innen von der Politik die Bereitschaft, auch unpopuläre Entscheidungen zu treffen.

Bürokratieabbau und Wettbewerbsfähigkeit

Förderlich wäre eine klar und strategisch geführte Agenda, die sich auf Kernthemen wie Bildung und Wirtschaft konzentriert.

Mut, Entschlossenheit, Machen

Klare Entscheidungen, schnelle Umsetzung, um zukünftige Herausforderungen anzugehen und Chancen zu ergreifen: Machen und nicht nur reden wird gefordert.

Sicherheit

Verteidigungsfähigkeit stärken, Verteidigungsausgaben deutlich erhöhen. Klare politische Linie in Verteidigungs- und Migrationsfragen und Einsatz für Demokratie und Freiheit.

Leadership und Geopolitik: Zurückhaltung auf der öffentlichen Bühne

Die Umfrage zeigt deutlich: Der Wunsch nach mehr Führung und einer konstruktiveren Zusammenarbeit mit der Politik ist groß. Doch nur wenige CEOs bringen sich selbst laut und deutlich in die geopolitischen Debatten ein.

Wie würden Sie Ihre Beteiligung an der geopolitischen Diskussion am ehesten beschreiben?

Interview

„Die USA sind auf ein prosperierendes Europa angewiesen“

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Zeitenwende, die wir auch im Miteinander von Politik und Wirtschaft erleben, gestaltet werden kann. Welche Haltung ist erforderlich, welches Miteinander? Und: Was können deutsche Führungspersönlichkeiten von amerikanischen Wirtschaftsführer:innen lernen – und umgekehrt?

Trotz „America First“-Rufen auf der einen Seite des Atlantiks und besorgter Blicke auf den US-Wahlkampf auf der anderen bleibt die deutsch-amerikanische Beziehung für beide Länder wichtig. Welche Rolle der Ukraine-Konflikt dabei spielt, wie US-Amerikaner:innen auf die deutsche „Zeitenwende“ blicken, und warum in den USA Unternehmer:innen deutlich offensiver auf der politischen Bühne mitmischen als hierzulande: Das erklärt Ben Hodges, Ex-US-Generalleutnant und Militärexperte, im Interview.

In unseren Umfragen unter CEOs und Führungspersönlichkeiten berichten viele Unternehmenslenker:innen, dass das Thema Geopolitik auf ihrer Agenda ganz nach oben gewandert ist – und dass sie sich unter Druck sehen, sich zu diesen Themen zu positionieren. Wie erklären Sie sich das?
Ben Hodges: Das ist eine spannende Entwicklung. Die kulturellen Erwartungen, die man hierzulande an Menschen in Entscheidungspositionen stellt, haben sich verändert.

Wie meinen Sie das?
Ben Hodges: Die meisten Menschen hier in Deutschland hatten in den zurückliegenden Jahrzehnten eine starke Aversion dagegen, sich mit den harten Realitäten unseres Sicherheitsumfelds wirklich auseinanderzusetzen. Von Menschen außerhalb der Politik hat man gar nicht erst erwartet, das zu tun. Wenn sich Entscheider:innen aus der Wirtschaft zu geopolitischen Krisen und Konflikten öffentlich geäußert hätten, hätte das sogar irritiert. Diese gesellschaftliche Erwartungshaltung ändert sich jetzt.

Woran machen Sie diese Veränderungen fest?
Ben Hodges: Ich beobachte zum Beispiel, dass man hier seit Kurzem anders über das Militär spricht als früher. Inzwischen berichten mir Menschen, mit denen ich hier in Deutschland spreche, zum Beispiel: Mein Sohn denkt darüber nach, zur Bundeswehr zu gehen. Und sie unterstützen das. Noch vor fünf Jahren war das völlig anders.

Wie erklären Sie sich diesen Mentalitätswandel, der in Deutschland nicht nur als kulturelle, sondern auch als außen- und sicherheitspolitische „Zeitenwende“ bezeichnet wird?
Ben Hodges: Ich glaube, die Menschen in Deutschland haben seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine nach und nach ein realistischeres Verständnis der tatsächlichen Bedrohungslage entwickelt. Die Wahrnehmung in der Bevölkerung verändert sich. Die Bedeutung militärischer – oder allgemeiner: geopolitischer – Zusammenhänge ist vielen bewusster geworden. Sie erwarten daher jetzt auch von Menschen, die in diesem Land Verantwortung tragen, dass sie sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Und das bekommen auch Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft zu spüren.

In der Umfrage geben viele CEOs an, dass sie fehlendes Leadership als eines der grundlegenden Probleme in der aktuellen politischen Lage sehen: eine unentschlossene EU, eine zerstrittene Bundesregierung, eine gespaltene USA. Fehlt es tatsächlich an klarer Führung?
Ben Hodges: Ja. Nehmen wir das Beispiel Ukraine: Die US-Regierung zögert, konsequent gegen Russland vorzugehen. In Deutschland ist man verunsichert darüber, was passieren würde, wenn die USA vielleicht in Zukunft keinen Schutzschild mehr gegen Atomwaffen aus Russland sicherstellen. Anders als Frankreich und Großbritannien hat Deutschland keine eigenen Atomwaffen und fühlt sich daher verletzlich, geht also nicht in eine klare Führungsrolle in diesem Konflikt. Es gibt kein klares, gemeinsames Leadership, keine Klarheit über die gemeinsamen Ziele.

Weil alle zögerlich agieren, fehlt es also insgesamt an einer klaren Führung?
Ben Hodges: Ja: Statt klarer, strategisch gut begründeter Schritte sehen wir aktuell oft diese kleinteiligen und teils widersprüchlich wirkenden Entscheidungen. Dabei gibt es historische Beispiele dafür, wie wichtig klare, gemeinsame strategische Ziele und eine offensive Kommunikation dieser Ziele sein können.

An welches Beispiel denken Sie konkret?
Ben Hodges: Versetzen wir uns zum Beispiel einmal in den Januar 1942: Roosevelt ist Präsident, Churchill ist Prime Minister, sie treffen sich in Washington. Wir befinden uns zeitlich etwa einen Monat nach Pearl Harbour, Japan ist im pazifischen Raum militärisch gerade extrem erfolgreich. Niemand in Amerika will in und für Europa in den Krieg ziehen, es gibt eine große „America First“-Bewegung. Doch Churchill und Roosevelt treffen gemeinsam die klare Entscheidung: Was hier auf dem Spiel steht, ist so groß, dass wir gemeinsam vorgehen müssen. Und unsere strategische Priorität muss sein, im ersten Schritt Nazi-Deutschland zu besiegen. 

Mit dieser Klarheit konnte Roosevelt das amerikanische Volk überzeugen, dass eine gemeinsame Anstrengung, dass ein Sieg über Nazi-Deutschland wichtig ist. Es ist ihm gelungen, die Bevölkerung, auch die Unternehmen, die Industrie, hinter diesem Ziel zu versammeln. Eine vergleichbare Klarheit der Ziele und der Kommunikation, zum Beispiel gegenüber Russland, fehlt heute.

Welche Folgen hat das?
Ben Hodges: Es führt zu einem Vertrauensverlust in die politische Führung. Auch andere Beteiligte außerhalb der Politik positionieren sich nicht klar, sondern nehmen eine abwartende Haltung ein. Ich denke aber, dass man nicht nur der Politik die Schuld geben kann. Führungsfiguren aus der Zivilgesellschaft, zum Beispiel respektierte und anerkannte Unternehmer:innen und andere Business Leader, können und sollten dabei helfen, das Vertrauen in die Politik, in die Medien, in das demokratische System wieder zu stärken. Sie können zum Beispiel klar sagen: Ich unterstütze die Bundeswehr. Sie können sich gegen Fake News positionieren und an gemeinsame Werte und Ziele erinnern. Es ist das wichtigste Prinzip von Leadership, so wie ich es verstehe: Übernehmt Verantwortung für die Mission – und sorgt dafür, dass sich alle in eurem Team ebenfalls verantwortlich fühlen.

Unserer Umfrage zufolge setzen sich viele CEOs tatsächlich mit geopolitischen Themen intensiv auseinander und sehen sich selbst in der Verantwortung – haben aber Hemmungen, sich zu diesen Themen öffentlich zu äußern. Ist das in den USA anders?
Ben Hodges: In den USA sind Akteure aus der Wirtschaft grundsätzlich stärker in der Politik engagiert und bei politischen Themen sichtbarer als in Deutschland.
Das liegt vor allem daran, dass in unserem System sehr viel privates Kapital für die Wahlkämpfe benötigt wird. Dadurch ist es normaler und akzeptierter, dass sich Unternehmer:innen auf der politischen Bühne zeigen und positionieren – auch zu geopolitischen Fragen.

Was können deutsche Führungspersönlichkeiten hier von den USA lernen?
Ben Hodges: Die allermeisten Politiker:innen haben auch in den USA keine unternehmerische Erfahrung, das ist strukturell schon ähnlich wie in Deutschland. Die Unternehmer:innen, die auf der öffentlichen Bühne auftreten, übernehmen daher eine wichtige Rolle: Sie bringen die Perspektive der Wirtschaft ein und lenken den Blick darauf, dass politische Entscheidungen Auswirkungen auf die Wirtschaft haben.

Die meisten deutschen Top-Führungspersönlichkeiten bezeichnen das Verhältnis zwischen Deutschland und den USA laut unserer Umfrage grundsätzlich als gut – allerdings beobachten sie die „America First“-Bewegung skeptisch. Wie schätzen Sie den Zustand der deutsch-amerikanischen Beziehungen ein?
Ben Hodges: Deutschland ist der wichtigste Verbündete der USA in Europa. Sicher nicht immer der beliebteste Verbündete, aber der wichtigste. Genauso sind die USA nicht immer Deutschlands liebster Partner und Verbündeter – aber es ist allen klar, dass diese Beziehung essenziell für beide Seiten ist. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch, um die aktuellen geopolitischen Herausforderungen zu bewältigen.

Welches sind denn aus Sicht der USA aktuell die größten geopolitischen Herausforderungen?
Ben Hodges: Aus Sicht der aktuellen Administration stellen Russland, China, Iran und Nordkorea die wichtigsten Bedrohungen dar. Aber auch die Einwanderung und die Inflation sind große politische Herausforderungen.

Wie könnten unsere Länder bei der Lösung der Konflikte noch besser zusammenarbeiten?
Ben Hodges: Wenn man sich die genannten Länder anschaut, also: Russland, China, Iran und Nordkorea, dann haben sie eins gemeinsam: Sie wollen die internationale Ordnung, wie wir sie kennen, radikal verändern. Sie streben eine multipolare Ordnung an, in der Europa und die USA, oder der Westen insgesamt, keine dominante Rolle mehr spielen. Es ist daher extrem wichtig, dass Europa und die USA eng zusammenarbeiten. Deutschland und die USA sind dabei wichtige Partner mit gemeinsamen geopolitischen Zielen. Aktuell ist eines der wichtigsten Ziele, dafür zu sorgen, dass die Ukraine den Krieg gegen Russland gewinnt. Es geht nicht nur darum, dass die Ukraine überlebt – sondern dass sie tatsächlich gewinnt. Und dass Russland zurückgedrängt wird in die Grenzen von 1991.

Und wie steht es um die Bereitschaft zu wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Zeiten von „America First“?
Ben Hodges: Um die eigene Wirtschaft zu stärken, sind die USA ganz klar auch auf ein prosperierendes Europa angewiesen, immerhin ist die EU einer unserer wichtigsten Handelspartner. Hier gibt es also ein großes Interesse an einer wirtschaftspolitischen Zusammenarbeit. Die großen Themen wie den Umbau der Lieferketten oder auch das Thema Migration sollten wir gemeinsam angehen, denn sie beeinflussen den Wohlstand in unseren beiden Ländern. Ich denke, Deutschland könnte sehr hilfreich dabei sein, Wege zu finden, wie die USA und Europa wirtschaftlich auch in Zukunft erfolgreich zusammenarbeiten können. Die Interessen beider Seiten in der wirtschaftlichen Zusammenarbeit konstruktiv zusammenzubringen, das wird in den kommenden Jahren eine sehr wichtige Aufgabe für die Politik sein.

Herr Hodges, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Zur Person

Frederick Benjamin „Ben“ Hodges ist General­leutnant a. D. der United States Army. Er hat als Soldat für die USA im Nahen Osten gekämpft. Bis Ende 2017 war der heute 66-Jährige Befehls­haber der US-Streit­kräfte in Europa. Heute lebt er in Frankfurt am Main und ordnet das Geschehen in der Ukraine als Militär­experte regelmäßig in deutschen Medien ein. Er ist mit der deutsch-US-amerikanischen Historikerin Alexandra Schwarzkopf verheiratet.

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