Fragt man Vorstandsmitglieder und Aufsichtsräte nach dem Bild, das die deutsche Gesellschaft von Frauen in Top-Führungspositionen hat, fällt das Urteil sehr schlecht aus. „In Deutschland“, sagt ein Interviewpartner, „grassieren Vorurteile“. Das gesellschaftliche Modell hierzulande habe sich nicht in der Geschwindigkeit entwickelt, in der sich die öffentliche Meinung zum Thema Parität der Geschlechter in den Führungsrollen entwickelt hat, heißt es in einem anderen Gespräch. Der Grund: Tradierte Rollenmuster entfalten immer noch ihre Wirkung.
Wenn Organisationen von oben männlich geprägt sind (siehe unternehmensbezogene Faktoren), wirken nicht nur intern, sondern auch nach außen bestimmte geschlechtsspezifische Stereotype, die unweigerlich in teils unbewusste Erwartungen münden. Frauen, die bis in die Vorstandsetage Karriere machen, werden diese Erwartungen zwangsläufig enttäuschen – weil es kein gelerntes Bild von Frauen in Top-Führungsrollen gibt.⁹
Das ist der Grund, so sagen Interviewpartnerinnen und -partner von FGS Global und Egon Zehnder, warum die Leistung von Frauen oft abgewertet wird. Man verweigere ihnen die Anerkennung für ihre Erfolge, bestrafe sie gar noch für ihre Kompetenz – und für Verhaltensweisen, die bei Männern positiv bewertet würden. In einem der Interviews bringt es die Interviewte auf den Punkt: „Man muss sich bewusst sein, dass man als Frau auf einem schmaleren Grad wandelt: Bestimmtes Verhalten ist bei Männern kompetent, durchsetzungsstark und sympathisch“, sagt sie. „Bei Frauen gilt es vielleicht noch als durchsetzungsstark, eventuell als kompetent, aber mit Sicherheit nicht mehr als sympathisch.“
Gleichzeitig ist die gesellschaftliche Erwartung in Deutschland an Frauen mit Kindern immer noch vorhanden, den Nachwuchs möglichst lange selbst zu betreuen. In den Interviews berichten Führungspersönlichkeiten von Mitarbeiterinnen, die von Kolleginnen und Kollegen kritisiert wurden, weil sie kein ganzes Jahr Elternzeit genommen hatten. „Die gesellschaftlichen Normen und Denkweisen machen es Frauen sehr schwer, das zu tun, was sie für das Beste halten“, lautet ein prägnantes Zitat hierzu aus einem der Interviews.
Auch die öffentliche Berichterstattung ist immer noch nicht frei von Genderstereotypen. Wenn Redaktionen männliche Vorstände befragen, stehen berufliche Aspekte im Vordergrund, das hat FGS Global in Studien zum Thema ermittelt.¹⁰ In Interviews mit weiblichen Board-Mitgliedern ist dagegen häufiger Privates Thema: ihre Familie oder Kindheit etwa. Auch Äußerlichkeiten wie Frisur, Make-up und Kleidung spielen in der Berichterstattung viel häufiger eine Rolle als bei Männern.
Sentiment-Analysen zeigen, dass die Medienberichterstattung über Frauen generell schneller ins Negative kippt als bei Männern, sobald die Person bekannter wird.¹¹ Soziologisch ausgedrückt verstoßen sie gegen soziale Erwartungen an typisch weibliches Verhalten. Die Kritik an Frauen in öffentlichen Positionen ist in Sozialen Medien dabei auffällig schärfer, beleidigender und bedrohlicher als an Männern. Und wenn eine erfolgreiche Frau scheitert, tut sie das in der Berichterstattung selten als Einzelfall, sondern sehr häufig stellvertretend für die Sache aller Frauen.
„Pionierinnen kriegen den meisten Ruhm, aber auch die meiste Prügel“, sagt eine Vorständin. „Dass sie oft scheitern, ist normal. Wir sind jetzt in einer Zwischenphase, in der Frauen nicht das Gefühl haben, ganz allein zu sein. Jetzt geht es darum, den Schritt in die Normalität zu schaffen und nicht mehr eine Ausnahme sein zu müssen.“ Eine andere Interviewpartnerin geht noch einen Schritt weiter: „Es heißt dann immer: Die Frau ist gescheitert“, sagt sie. „Aber nie: Und wieder hat ein Konzern es nicht geschafft, eine Frau zu integrieren.“
Viele Medien haben diese Schieflage durchaus erkannt und versuchen, aktiv gegen Stereotype anzuarbeiten. Auch indem sie Vorständinnen und anderen weiblichen Top-Führungspersönlichkeiten sehr bewusst Sichtbarkeit verschaffen. Etwa durch Top-100-Frauen-Listen. Einige der Interviewpartnerinnen sahen das aber nicht nur positiv: Solche „Toplisten“ – so eine Stimme – würden die ohnehin vorhandene Knappheit an weiblichen Führungsvorbildern zusätzlich überzeichnen und den Eindruck zementieren, dass Frauen an der Spitze eine „Besonderheit“ sind.
Mediale Motive entstehen natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern sie reflektieren gesellschaftliche Grundstimmungen. Sie spiegeln letztlich wider, was Wortführende und Entscheiderinnen und Entscheider denken und äußern.
Auch in der unternehmenseigenen Kommunikation finden sich Stereotype. Eine Studie der Boston Consulting Group in Zusammenarbeit mit der TUM hat 2022 gezeigt, dass in Pressemitteilungen zu Führungswechseln männlichen Führungspersönlichkeiten häufiger Leadership- und Business-Kompetenzen zugeschrieben werden als weiblichen Führungspersönlichkeiten, deren Kompetenzen vor allem im Talent- und Projektmanagement genannt werden.¹²
Es lässt sich also zusammenfassen: Alle gesellschaftlichen Akteure sind in der Pflicht, an ihrer Perspektive zu arbeiten.
Zentrale gesellschaftliche Faktoren
In Deutschland sind tradierte Rollenmuster für Frauen und Männer immer noch vorhanden und auch in der öffentlichen Berichterstattung zu finden.
Frauen, die sich entgegen dem Rollenmuster verhalten, werden besonders kritisch beurteilt, ihr Scheitern wird gerne als ein Scheitern „aller Frauen“ verallgemeinert.
Um eine kulturelle Veränderung zu erreichen, stehen alle gesellschaftlichen Akteure in der Verantwortung, ganz besonders aber die Medien.
Stimmen aus unserer Studie:
„Uns fallen zwischen Mitte 20 und Mitte 30 immer noch zu viele Frauen raus, die zwar danach wiederkommen und arbeiten, aber zu allein sind in der Frage: Wer schultert die familiäre Verantwortung? Da übernehmen die Frauen in Deutschland einfach mehr.“
„Bei Frauen kommt noch dazu, dass es einen sozialen Prototyp gibt von: Wie sieht eine ideale Frau aus, die vielleicht Mutter ist, die alle mögen? Die Frauen sind in einem Spannungsfeld: Will ich eigentlich diesem sozialen Prototyp genügen? Oder mache ich mich davon frei?“
„Sie haben meine Kleidung kommentiert, wie ich von der Persönlichkeit her bin. Ich habe eine Stunde über Inhalte gesprochen, aber das Portrait über mich als Frau war nicht inhaltlich, sondern immer nur: Wie organisiert sie ihren Alltag usw.“
„Ich glaube, viele Frauen sehen das so: Sie haben keine Lust, sich mit Konflikten zu beschäftigen, die aus irgendwelchen statusgetriebenen und egoistischen Motiven entstehen.“
„Wenn Frauen erfolgreich sein wollen, müssen sie die männlich geprägten Spielregeln kennen. Sie können dann immer noch entscheiden, was sie davon annehmen und was nicht.“
„Ich rate den Frauen, stärker auf den Tisch zu hauen. Ich habe immer wieder erlebt, dass die Moderationsfähigkeit und der Drang, Konsens herzustellen, Frauen auf die Füße fällt. Solange Frauen in den Gremien weiterhin in der Unterzahl sind, wird diese Diskussionskultur ein Problem bleiben.“
„Wenn man von außen kommt, sollte man sich am Anfang wirklich viel Zeit nehmen, um die einzelnen Stakeholder kennenzulernen.“
„Früher dachte ich, dass ich kein professionelles Networking brauche. Ich dachte, wenn ich gut bin und meine Arbeit gut mache, werde ich wahrgenommen. Aber ich habe erkannt, dass Männer das anders sehen. Für Männer ist das Knüpfen von Kontakten ein Teil der Arbeit.“
Eine neue und bessere Kultur entsteht, wenn viele Sichtweisen zusammenkommen können und ein neues Ganzes bilden. Unsere Studie ist nur ein Beitrag dazu. Wir glauben an Ko-Kreation und möchten Sie einladen, Ihr Feedback mit uns zu teilen: kommunikation@egonzehnder.com, femaleleaders_eu@fgs-global.com
9 Heilman, 2001: Description and Prescription: How Gender Stereotypes Prevent Women’s Ascent Up the Organizational Ladder
10 FGS Global, März 2020: Die Ausnahme, die Rabenmutter, die Kämpferin. Bias in der medialen Darstellung von Top-Managerinnen / FGS Global, März 2021: Von Star-Gründerinnen und Quotenfrauen. Bias in Interviews mit Top-Managerinnen
11 Shor, van de Rijt & Kulkarni, 2022: Women Who Break the Glass Ceiling Get a “Paper Cut”: Gender, Fame, and Media Sentiment
12 Boston Consulting Group, Dezember 2022: Gender Diversity Index