Früher fiel es Anwaltskanzleien leicht, Talente anzuwerben. Es genügten großzügige finanzielle Anreize, Ruhm und Status des Rechtsanwaltsberufs und die Aussicht auf eine Stellung als Partner – und sei diese Zukunft noch so fern. Generationen von Studierenden schlugen den gleichen ausgetretenen Pfad zum Anwaltsberuf ein. Am Ziel angekommen glichen ihre Denk- und Arbeitsweisen sowie ihr Führungsstil denen ihrer Vorgängerinnen und Vorgänger wie eine Robe der anderen.
Seit einigen Jahren fällt es Kanzleien allerdings schwerer, gleichsam mit einem Fingerschnipsen die gewünschte Zahl an Wunschkandidatinnen und -kandidaten zu akquirieren und nachhaltig an sich zu binden. Das liegt an Entwicklungen im Markt, die am Status des Anwaltsberufs kratzen. So hängt es zunehmend von der nicht beeinflussbaren und oft unvorhersehbaren Firmenstrategie und von Marktzwängen ab, ob der erträumte Aufstieg zum Partner gelingt. Die Equity Partnership, einst der heilige Gral jedes Großkanzleijuristen, hat insgesamt an Zugkraft und Glanz eingebüßt.
Außerdem lässt sich die Generation Y nicht mehr allein mit generösen Gehältern locken. Junge Menschen legen zunehmend Wert auf eine sinnstiftende und inspirierende Arbeitsumgebung. Auch berufliche Sicherheit und Work-Life-Balance haben für viele Absolventinnen und Absolventen an Bedeutung gewonnen. Folglich erscheinen ihnen Start-ups, Konzerne, die Rechtsabteilungen der „Big Four“ Wirtschaftsprüfungsgesellschaften sowie der öffentliche Dienst inzwischen oftmals attraktiver als der mit erheblichen persönlichen Opfern im Privatleben verbundene Wettbewerb in einer Großkanzlei.
Veraltetes Verständnis von Kultur
Der gravierendste Nachteil der Kanzleien besteht aber in einer veralteten Unternehmenskultur, welche sich jeglichen Modernisierungsversuchen erfolgreich widersetzt hat und dem modernen Verständnis von „Kultur“ nicht gerecht wird.
Der Begriff „Unternehmenskultur” ist vielen Kanzleien ein Rätsel: zu vage, zu theoretisch – ein Hirngespinst, oft gleichgesetzt mit „weniger Billables“. Erst allmählich begreifen zumindest einige, dass die Zeichen der Zeit auf Wandel stehen. Doch auch sie schauen oft noch von der Seitenlinie zu. Die meisten Sozietäten haben es trotz vermehrter Versuche in der jüngsten Vergangenheit nicht geschafft, eine für die Top-Talente von heute ansprechende Kultur nachhaltig in ihrer DNA zu verankern und diese auch zu leben. Zudem haben es viele versäumt, ihr Geschäftsmodell, ihre Kommunikation und ihre Arbeitsweise zu modernisieren. Selbst die Digitalisierung, die ganze Branchen in eine neue Zeit katapultiert hat, stieß für lange Zeit bei Anwältinnen und Anwälten vom alten Schlag auf Desinteresse.
Führungskräfte als Katalysator von Kulturwandel
Wie also soll ein Kulturwandel zukünftig gelingen, und welche Kulturelemente sollten in den Vordergrund rücken? Die Antwort liegt in den Führungskräften der Sozietäten.
Eine ansprechende und im Markt bekannte positive Unternehmenskultur ist ein wesentlicher Differenzierungsfaktor, der im Kampf um die Anwerbung und das Halten von Top-Talenten einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil ausmachen kann. Insbesondere das Abwehren von Abwerbungsversuchen gelingt nur in einer attraktiven, zeitgemäßen Arbeitsumgebung. Junge Juristinnen und Juristen möchten sich nicht nur das Handwerkszeug aneignen. Sie verlangen von ihren Vorgesetzten, sie zu weltmännischen Klienten-Managern auszubilden. Sie möchten sich von Überfliegern inspirieren lassen, die sie ausbilden und ihr Wissen weitergeben. Und sie wünschen sich authentische Rollenmodelle, denen nachzueifern für junge Anwältinnen und Anwälte erstrebenswert ist und die das kollaborative Arbeiten zu einem inspirierenden Teamwork machen.
Es ist nach wie vor richtig, dass Mitarbeitende nicht Unternehmen verlassen, sondern Vorgesetzte. Deshalb sollten Kanzleien in die Führungsqualitäten ihrer Partnerinnen und Partner investieren und leistungsstarke Teams bilden, die Wachstum fördern und zugleich die Basis einer neuen Unternehmenskultur schaffen. Jede Veränderung beginnt beim Verhalten. Deshalb gilt es, beginnend an der Führungsspitze, tradierte Mentalitäten – bewusste und unbewusste – zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Werte und Einstellungen die von den Equity Partnerinnen und Partnern vorgelebt werden, gehören auf den Prüfstand, nicht nur als Lippenbekenntnis oder Werbeanzeige, wenn Top-Talente überzeugt werden sollen. Wie in jeder Organisation kaskadiert in der Folge das Wertesystem in die Sozietät.
Ganz allmählich wird den Anwaltskanzleien bewusst, dass die Tage eines vermeintlich festgefügten Wertesystems vorüber sind. Konzepte, die lange als belanglos vernachlässigt wurden, werden nun immerhin in Erwägung gezogen. Dazu zählen Diversität und Inklusion, Legal Tech und das Gleichgewicht zwischen Arbeit und Freizeit. Noch bleibt allerdings abzuwarten, ob der Berufsstand den Sinneswandel verinnerlicht. Nur so kann Veränderung langfristig wirken. Die Aufarbeitung aller bisherigen Versäumnisse kann darin bestehen, Sinn zu stiften, Werte zu definieren und die Vorbildfunktion anders als bisher zu interpretieren. Auf diese Weise könnte auch der nach wie vor steinige und mit vielen Opfern verbundene Weg zur Partnerschaft erleichtert werden. Wer den Kampf um Talente gewinnen will, muss überzeugende Angebote machen, Bindungen pflegen und vor allem seine Kultur weiterentwickeln.