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Nachhaltigkeit

Nachhaltigkeit im Aufsichtsrat

Wie Expert:innen für Nachhaltigkeit die Corporate Governance großer Unternehmen verändern

Als Connie Hedegaard 2016 in den Aufsichtsrat des Windkraftherstellers Nordex berufen wurde, war sie eine Pionierin – als erste Expertin für Klimawandel, Umweltschutz und ESG in einem deutschen Aufsichtsrat. Bereits mit 24 Jahren war sie als jüngste Abgeordnete ins dänische Parlament eingezogen, später leitete sie als Umwelt-, Klimaschutz- und Energieministerin die UN-Klimaverhandlungen in Kopenhagen (COP 15) und 2010 wurde sie die erste EU-Kommissarin für Klimaschutz.

Drei Jahrzehnte hat es gedauert, bis der Begriff der »Nachhaltigen Entwicklung«, wie er im Abschlussbericht der Brundtland-Kommission geprägt wurde, auf der strategischen Ebene der Unternehmensführung in Deutschland angekommen ist. Heute ist es weitverbreitet, ausgewiesene »ESG-Expert:innen« in die Aufsichtsräte zu berufen und das Thema gleich in mehreren Ausschüssen auf die Tagesordnung zu setzen.

Das Profil dieser Persönlichkeiten ist ein Spiegelbild des sich wandelnden Selbstverständnisses von Unternehmen. Aus einer »Shareholder Economy«, in der die verlässliche Steigerung von Quartalsergebnissen mit den höchsten Unternehmensbewertungen belohnt wurde, ist eine »Stakeholder Economy« geworden, in der Gesetzgeber und Regulatoren, Kunden, langfristig orientierte Investoren, Zivilgesellschaft, Mitarbeitende und Öffentlichkeit – gestützt auch durch neue wissenschaftliche Erkenntnisse – immer neue und weiter reichende Erwartungen an Unternehmen stellen. So reicht es heute nicht aus, gute Finanzergebnisse zu liefern. Wie diese entstehen, mit welchen Geschäftsmodellen, mit welchen Arbeitsbedingungen im eigenen Unternehmen und in der Lieferkette, mit welchem Ressourcenverbrauch und mit welcher Wirkung auf die Treibhausgaskonzentration in der Atmosphäre und auf die Biodiversität – das sind heute entscheidende Faktoren für die Unternehmensbewertung und damit den Zugang zum Kapitalmarkt. Mehr noch: Heute ist Haltung gefragt – zu einem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ebenso wie zur Bedrohung der Demokratie durch Populismus und extremistische Parteien. Das Unternehmen ist in unserer jederzeit informierten Gesellschaft ein mündiger Staatsbürger geworden, ein Corporate Citizen, von dem wir planetare und gesellschaftliche Verantwortung ebenso wie ethisch vorbildhaftes Verhalten erwarten.

Dieser gestiegenen Komplexität im Bezugsrahmen haben Unternehmen zunächst auf operativen Ebenen Rechnung getragen. Zentralabteilungen wurden eingerichtet, Berichtssysteme für Nachhaltigkeitsdaten aufgebaut, Experten für Umwelt- und Klimaschutz, für Menschenrechte, für Compliance und Lieferkettenmanagement eingestellt sowie strategische wie operative Unternehmenseinheiten und -funktionen häufig in eine integrierte Steuerung von unternehmerischer Nachhaltigkeit einbezogen.

Spätestens mit dem Pariser Klimaabkommen 2015 und multilateralen Vereinbarungen auf nationale Reduktionspläne (National Determined Contributions) für Treibhausgas-Emissionen hat sich das unternehmerische Bewusstsein für die strategische Bedeutung des Klimawandels auch in die Aufsichtsgremien vorgearbeitet. Seit dieser Zeit werden immer mehr Expert:innen für »ESG« oder Nachhaltigkeit in Aufsichtsräte berufen. In Deutschland haben sich inzwischen knapp die Hälfte der DAX40-Unternehmen für diesen Weg entschieden. Dazu haben mehr als die Hälfte dieser 40 Unternehmen entweder einen dedizierten Nachhaltigkeitsausschuss im Aufsichtsrat eingerichtet oder haben die Thematik auch in ihrer Nomenklatur dem Strategie-, dem Prüfungs- oder dem Compliance-Ausschuss zugeordnet. Dass sich beides signifikant positiv auf die Nachhaltigkeitsperformance der Unternehmen auswirkt, hat eine europaweite quantitative Studie bestätigt, die wir 2022 mit der Universität Göttingen durchgeführt haben.

Aus unserer Erfahrung in Europa lassen sich grundsätzlich drei verschiedene Typen von Nachhaltigkeitsexperten im Aufsichtsrat erkennen:

Der Typ Weltbürger:in: Menschen, die sich aus tiefer Überzeugung schon früh mit dem Paradigma der Nachhaltigkeit beschäftigt haben. Sie denken kosmopolitisch, verstehen sich also in erster Linie als Weltbürger:innen, die in Verantwortung für die Menschheit, die Weltgesellschaft und den gemeinsamen Planeten handeln. Professionell sind sie meist in einem politischen, akademischen oder zivilgesellschaftlichen Umfeld sozialisiert worden und haben hier höchste Führungsverantwortung übernommen. Sie denken systemisch, oft auch geostrategisch, kennen politisch-regulatorische Dynamiken und erschließen dem Unternehmen oft ein breites Netzwerk zu politischen Entscheider:innen. Beispielsweise Bayer und Mercedes haben sich für diesen Typus ESG-Expert:in entschieden.

Der Typ ESG-Generalist:in: Hierbei handelt es sich um Führungspersönlichkeiten, die die Bandbreite der ESG-Themen und Regularien kennen und in ihren eigenen Unternehmen meist als Chief Sustainability Officer zumindest koordinativ verantworten. Sie kommen oft nicht aus dem operativen Geschäft, sondern aus Stabs- und Servicebereichen wie Strategie, Personal oder Legal & Compliance. Unternehmen wie Adidas, Deutsche Telekom und Evonik haben sich für diesen Typus ESG-Expert:in entschieden.

Der Typ Industrielle:r Transformator:in: Diese Persönlichkeiten erkennen nicht nur die dringende Notwendigkeit industrieller Geschäftsmodelltransformationen, sie sehen darin auch das kommerzielle Potenzial für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Sie kommen oft aus dem operativen Geschäft von Energieversorgern oder energieintensiven Industrien und verstehen, wie man Geschäfte dekarbonisiert. Beispielsweise Heidelberg Materials und SEFE haben sich in Deutschland für diesen Typus ESG-Expert:in entschieden.

Darüber hinaus haben sich in den letzten Jahren insbesondere die Prüfungsausschuss-Vorsitzenden europäischer Großunternehmen zu Expert:innen in der immer komplexeren ESG-Regulatorik weiterentwickelt. Doch eine Beschränkung der Aufsichtsratsrolle auf die »ESG Compliance« eines Unternehmens trägt die Gefahr, die strategische Dimension der unternehmerischen Nachhaltigkeit, die vielfach notwendige Geschäftsmodelltransformation und die Zielkonflikte finanzieller, gesellschaftlicher und planetarer Wertschöpfung auszublenden.

Der Beitrag ist erschienen in:
Audit Committee Quarterly extra "Nachhaltigkeit", I / 2024. Veröffentlichung auf unserer Website mit freundlicher Genehmigung des Verlags.

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