Jedes zweite Unternehmen kann derzeit offene Stellen nicht besetzen, weil es keine passenden Talente findet. Gleichzeitig scheuen viele Unternehmen angesichts der angespannten wirtschaftlichen und der unübersichtlichen geopolitischen Lage vor Neueinstellungen zurück. Die Einstellungsquote in Deutschland ist von 2023 auf 2024 um 20 Prozent gesunken. Welche Folgen hat all das für das Talent Management in Unternehmen?
Interessante Antworten auf diese Frage hat Stephanie Conway, Senior Director und Leiterin des globalen Talent Development bei der Business-Plattform LinkedIn. Seit 2013 beschäftigt sich Conway mit Talent Management und weiß: Aktuell gibt es besonders viele gegensätzliche Herausforderungen. Angestellte wollen gerne weiterhin flexibel von zuhause aus arbeiten, während viele Unternehmen ihre Teams zurück ins Büro rufen. Einerseits gibt es Einstellungsstopps, andererseits suchen wachsende Abteilungen händeringend nach Expert:innen. Alle wünschen sich, dass ihre Belegschaft mehr Hard Skills auf dem Gebiet Künstlicher Intelligenz und digitaler Arbeitsmethoden aufbaut. Gleichzeitig sind Soft Skills, auch Human Skills genannt, in der angespannten Lage besonders wichtig.
CHRO-Roundtable zum Talent Management
Von diesen Herausforderungen berichten auch die Teilnehmer:innen am CHRO-Roundtable von Egon Zehnder im November 2024. Wie sie damit umgehen können und welche Innovationen und Tools ihnen dabei helfen, das diskutierten sie mit Guest Speakerin Stephanie Conway, die ihre Erfahrungen mit Einblicken ins LinkedIn-Netzwerk und in ihren eigenen Arbeitsalltag teilte. Zum CHRO-Roundtable kamen Personalverantwortliche aus den unterschiedlichsten Branchen zusammen, um sich auf Augenhöhe miteinander über Talent Management in agilen Zeiten auszutauschen.
Innovationen für ein zeitgemäßes Talent Management
Auf der Suche nach solchen agilen Lösungsansätzen setzen viele der CHROs auf innovative Tools und Ansätze, wie eine interaktive Umfrage beim Roundtable zeigte. Durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz, Job Crafting, Talentplattformen, Reverse Mentoring, Coaching, Up- und Reskilling wollen sie ihre internen Talente noch besser an das Unternehmen binden und deren Kompetenzen entwickeln.
Auf die Marktreife und Einführung neuer Technologien oder die Umsetzung groß angelegter Kompetenzmanagement-Programme können viele CHROs aber nicht warten. Oft sind jetzt pragmatische, schnell wirksame Lösungsansätze gefragt. Für schwankenden Personalbedarf hat Conway eine mögliche Lösung parat: „Wir erarbeiten gerade ein Konzept, wie wir noch besser mit Agenturen und anderen Dienstleistern zusammenarbeiten und unsere Ressourcen noch flexibler gestalten können", sagt die Leiterin des Talent Development bei LinkedIn.
Welche spannenden Talent-Management-Innovationen sehen Sie aktuell?
Interne Mobilität fördern
Als weitere pragmatische Lösung sieht Conway die Förderung der internen Mobilität: Unternehmen sollten den Wechsel zwischen Abteilungen und Teams erleichtern und gezielt fördern, rät sie. Darauf setzen bereits fast alle der Teilnehmer:innen des CHRO-Roundtables, wie eine kurze Umfrage zeigte. Auch laut LinkedIn-Trends-Report ist die interne Mobilität in Unternehmen erneut gestiegen. Die Möglichkeit für interne Wechsel binde die Mitarbeiter:innen darüber hinaus länger an das Unternehmen – berichtete eine Teilnehmerin des Roundtable.
Diese Beobachtung macht auch Conway, die in agiler Talententwicklung über Abteilungs- und Bereichsgrenzen hinweg eine große Chance sieht: „Mit internen Wechseln können Unternehmen bestehende Personallücken schnell füllen“, sagt sie. Schließlich fällt die Einarbeitungszeit selbst bei einem veränderten Aufgabenbereich kürzer aus als bei der Einstellung externer Talente. Die wechselnde Person kennt schließlich schon den Arbeitgeber, die Unternehmenskultur und vielleicht sogar ein paar der Kolleg:innen. Gleichzeitig können HR-Verantwortliche so überbesetzte Abteilungen verkleinern und in wachsenden Bereichen Lücken füllen.
Talent Management und Talent Development gehen Hand in Hand
Die steigende interne Mobilität zahlt auch auf die Agilität des Unternehmens ein und kann dieses im Bestfall sogar resilienter für Krisen machen. Ist die Belegschaft erst einmal offen für Abteilungswechsel und sieht diese als Chance für die eigene Entwicklung an, gewinnen HR-Verantwortliche an Handlungsspielraum. So wird es zum Beispiel leichter, eine effiziente Lernkultur zu etablieren. „Wir bei LinkedIn versuchen zum Beispiel aktuell, die Einstellung unserer Mitarbeiter:innen zum Thema Lernen zu erweitern“, sagt Conway.
Wenn es um den Aufbau von Kompetenzen und Skills für den Beruf gehe, würden viele Talente erst einmal an klassische Weiterbildungen denken. „Dabei entsteht eine echte Lernkultur schon dort, wo Talente im Austausch mit ihren Kolleg:innen, mit anderen Abteilungen, über ihr Netzwerk oder durch Online-Kurse laufend dazulernen.“ Wie wirksam diese Offenheit für neue Erfahrungen und für ein permanentes Dazulernen ist, sei vielen gar nicht bewusst, sagt die Talent-Development-Expertin. Human Skills wie die Bereitschaft und Offenheit zum lebenslangen Lernen werden ihrer Einschätzung nach in Zukunft immer wichtiger.
Kollegin KI hilft beim Up- und Reskilling
Neben dem Ansatz, im Team und voneinander zu lernen, setzt LinkedIn allerdings auch auf Unterstützung durch Künstliche Intelligenz. Insbesondere kommt ein hauseigenes Tool zum Einsatz: der LinkedIn Learning Coach. Die Nutzer:innen können mit einem virtuellen Coach chatten. Der hat Antworten auf Fragen wie zum Beispiel: Wie kann ich Aufgaben und Verantwortlichkeiten effektiver delegieren? In die Antwort bezieht der Chatbot die Position des oder der Fragestellenden mit ein und versucht, eine passende Antwort zu finden. Dabei greift er unter anderem auf die Inhalte von E-Learning-Formaten des LinkedIn-Learning-Programms zurück.
Der KI-Coach kann darüber hinaus auch einen persönlichen Weiterbildungsplan erstellen. „Dieser Schritt ist bei LinkedIn mittlerweile Pflicht, bevor Mitarbeiter:innen Kontakt zu einem menschlichen Coach aufnehmen“, sagt Conway. Angestellte und Trainer:in können die Zeit dann nämlich effektiv und zielgerichtet direkt für die eigentliche Weiterbildung nutzen.
Das Beispiel zeigt: Auch im Talent Management können KI-Tools eine wichtige Rolle einnehmen. Der KI-Coach kann ad hoc Fragen beantworten, und gleichzeitig den Weg zu einer konzentrierten Zusammenarbeit ebnen. „Und mit dieser Einstellung erscheint es gar nicht mehr so gegensätzlich, dass wir im Talent Management gleichzeitig KI- und Human Skills ausbauen müssen“, resümiert Stephanie Conway.