Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine erlebt Europa eine beispiellose Welle der Solidarität mit Geflüchteten. Die meisten Unternehmen beteiligen sich direkt oder indirekt an den Aktionen. Zwei Drittel (65 %) der befragten Chief Human Resources Officers (CHRO) geben beispielsweise an, dass sie ihren Mitarbeiter:innen die Organisation von Hilfe ermöglichen. Ein Viertel der Unternehmen (26 %) stellt einzelne Mitarbeiter:innen dafür von der Arbeit frei. Ein Drittel (32 %) organisiert selbst Hilfe, die Hälfte (48 %) unterstützt die Aktionen anderer Organisationen.
Mitarbeiter:innen ergreifen Initiative, Führung bietet Rahmen
Beim HR-Roundtable von Egon Zehnder bekräftigten einige Teilnehmer:innen, dass die Hilfsbereitschaft über Spenden hinausgeht. So berichtete die Personalchefin eines Verpackungsherstellers aus einem Werk in Polen, in dem auch etliche ukrainische Pendler:innen arbeiten, polnische Kolleg:innen hätten ihnen spontan Unterkunft angeboten. Inzwischen verleihe ein Netzwerk den Hilfen Struktur, unterstützt von HR. Der CHRO eines Maschinenbauers bestätigte, dass sich die Fülle an Hilfsangeboten nur dank der Einsatzbereitschaft von Mitarbeiter:innen und moderner Technik kanalisieren lasse. „Schon nach der Flut im Ahrtal hat sich ein Sharepoint bewährt. Das kommt uns in der gegenwärtigen Situation zugute.“ Auch der Personalvorstand eines Chemieunternehmens ist der Ansicht, die Ressourcen einer HR-Abteilung reichten nicht aus, die Steuerung in Krisen allein zu übernehmen. „Die Initiative kommt vermehrt von unten. Das müssen wir als HR offen eingestehen und konstruktiv nutzen.“
Reaktionsschnelligkeit und Resilienz
Eine große Mehrheit der Unternehmen gründete nach Kriegsbeginn eine Taskforce (64 %). Diese Reaktion beruhe teilweise auf Erfahrung, kommentierte die Personalleiterin eines Softwareunternehmens: „Wir erleben nicht erst mit der Pandemie und dem Ukraine-Krieg, dass Krisen zum Normalzustand werden. In immer kürzeren Abständen stellen wir Mitarbeiter:innen für Aufgaben ab, die niemand vorhersehen konnte.“ Der Klimawandel und der Kampf um Ressourcen werden insbesondere Führungskräften Reaktionsschnelligkeit und Flexibilität abverlangen.
In diesem Zusammenhang rückt die Rolle von HR in den Fokus. Nach Ansicht der Teilnehmer:innen des Roundtables müssen Personaler:innen Führungskräfte einstellen beziehungsweise fördern, die Resilienz beweisen und „Krise können“. Dazu gehören auch der Wille und die Fähigkeit, einem um sich greifenden Fatalismus entgegenzutreten. 43 % der CHROs beobachten, dass der Krieg bei vielen Menschen Ohnmachtsgefühle erheblich verstärkt. „Ganz generell stehen Unternehmen zunehmend vor der Aufgabe, Mitarbeiter:innen jene Stabilität zu bieten, die in der Gesellschaft insgesamt verloren geht“, so eine Teilnehmerin.
Haltung finden, bewahren und Konflikte moderieren
Wie groß diese Herausforderung ist, wird im Ukraine-Krieg unter anderem anhand offen zutage tretender Konfliktlinien deutlich. Die Personalleiterin eines Biotechnologieunternehmens gesteht, dass die Auseinandersetzungen zwischen ukrainischen und russischen Mitarbeiter:innen Ratlosigkeit hervorriefen: „Wir haben uns Werte wie Respekt und Nähe auf die Fahne geschrieben. Die stehen derzeit auf der Probe, weil sich politische Diskussionen nicht unabhängig davon führen lassen.“
Die Unternehmen stehen teils massiv unter Druck, intern sowie öffentlich Stellung zu beziehen. In 71 % der befragten Unternehmen hat der CEO diese Verantwortung übernommen und sich gegenüber den Mitarbeiter:innen klar auf die Seite der Ukraine gestellt. 38 % der Unternehmen bieten Führungskräften Hilfe an, das Kriegsgeschehen und seine Folgen kommunikativ und psychologisch zu begleiten. Die Maßnahmen reichen von Leitfäden über Hotlines und Schulungen bis zur Unterstützung bei Traumata.
Eine klare Haltung gegenüber der russischen Aggression bedeutet aber auch, Spannungen auszuhalten und zu moderieren. Der CHRO eines Chemieunternehmens beispielsweise berichtete, ukrainische und russische Kolleg:innen seien im Intranet so aneinandergeraten, dass Beiträge gelöscht werden mussten.
Folgen wirtschaftlicher Turbulenzen
Der CHRO eines polymerverarbeitenden Unternehmens sprach darüber hinaus betriebswirtschaftliche Folgen einer klaren Parteinahme an. „Wer sich jetzt aus ethischen Gründen aus Russland zurückzieht, wird mit Enteignung rechnen müssen.“ Das Ukraine-Geschäft sei bereits abgeschrieben worden. Insgesamt gehen 59 % der Unternehmen davon aus, der Krieg werde die eigenen Geschäftspraktiken mittel- oder gar langfristig verändern. Die Personalchefin eines Technologiekonzerns berichtete, man wickelte derzeit Hals über Kopf das Servicezentrum in Moskau ab. Der Absatzmarkt Russland sei über Nacht und auf unvorhersehbare Zeit weggebrochen. Dieses Beispiel illustriert ein weiteres Ergebnis der Befragung: 91 % der CHROs schließen sich der Aussage an, in der gegenwärtigen Krise sei Agilität mehr denn je gefragt. Ein Drehbuch gebe es nicht.
Angesichts der zu erwartenden wirtschaftlichen Turbulenzen äußerten einige Teilnehmer:innen des Roundtables die Sorge, die Intensität der Solidarität mit Geflüchteten werde nachlassen. Ein CHRO spannte den Bogen zu den CSR-Aktivitäten der Wirtschaft: „Der Wohlstand der vergangenen 20 Jahre hat den Boden dafür bereitet, dass Unternehmen Ressourcen jenseits des Kerngeschäfts bereitstellen können.“ Möglicherweise hätten diese Jahre darüber hinaus die stark purpose-getriebene Einstellung der jungen Generation von Führungskräften begünstigt. Ob und wie sich diese Entwicklung fortsetze, sei noch nicht abzusehen.
Mehr als eine Modeerscheinung: im Beruf Sinn stiften
Auf diese Zweifel ging Felix Oldenburg ein. Der Vorstand der gut.org gAG und Mitinitiator der Plattform unterkunft-ukraine.de, die Egon Zehnder mit Pro-Bono-Mandaten unterstützt, verwies auf die außerordentliche Hilfsbereitschaft in Ländern, die bei Weitem nicht das Wohlstandsniveau Deutschlands aufweisen. Auch der Trend zur Nachhaltigkeit werde seiner Ansicht nach fortdauern, so Oldenburg. „Der Fokus der CSR hat sich verschoben. Die Unternehmen versuchen nicht mehr nur, die negativen Auswirkungen der eigenen Geschäftstätigkeit zu minimieren, sondern zur Lösung gesellschaftlicher Probleme insgesamt beizutragen.“ Dies wiederum mache sie attraktiv für Menschen, die im Beruf Sinn stiften wollten. „Junge Talente suchen Engagementerfahrung und nutzen dabei ihre genuinen Kompetenzen. Arbeitgeber:innen, die dafür den Rahmen schaffen, gewinnen in Zukunft die besten Führungskräfte.“
Resilienz ausbilden
Nach Ansicht der Berater:innen von Egon Zehnder zeigen Debatte und Befragung, dass Krisen zur neuen Normalität gehören. Erfolgreich agieren jene Unternehmen, die Resilienz ausprägen. Dazu brauchen sie in allen Bereichen empathiefähige Führungskräfte, die von sich aus Verantwortung übernehmen. Führung allein von der Spitze her hat sich überlebt, weil Ereignisse wie die Ukraine-Krise agiles Handeln von allen Leistungsträger:innen erfordern.
Die Autor:innen gehören zur HR-Praxisgruppe von Egon Zehnder in Deutschland.