Im Zeitalter eines verschärften Wettbewerbs um die besten Köpfe nimmt der Personalverantwortliche oder Chief Human Resources Officer (CHRO), wie wir ihn im Folgenden nennen, eine Schlüsselrolle bei der Talententwicklung ein. Insbesondere muss er dafür sorgen, dass die Entwicklung des Potenzials vielversprechender Mitarbeiter nicht an den Egoismen einzelner Führungskräfte scheitert. Eine Herausforderung, die ein hohes Maß an Kommunikationskompetenz erfordert.
Bis vor einigen Jahren galt das Personalwesen im Unternehmen oft als angestaubtes, abgeschlossenes Subsystem mit behäbiger Behördenstruktur. Verwalten statt gestalten lautete nicht selten die Devise. Doch der scharfe Wind der Veränderung weht längst auch durch die Amtsstuben der Personaler. Denn wenn sich die Unternehmenswelt in rasantem Tempo verändert, immer globaler wird und an Komplexität zunimmt, müssen die Human- Resources-Manager mindestens das Tempo halten, wenn nicht gar einen Schritt voraus sein, um sinnvoll agieren zu können.
Im Fokus steht hier vor allem der Chief Human Resources Officer. Der Vorstandschef oder Geschäftsführer kann zwar relativ schnell eine Strategie entwickeln oder ändern, neue Dienstleistungen, Produkte und ihre Herstellungsprozesse initiieren oder die Konzentration auf das Kerngeschäft verordnen – ohne die Umsetzung durch die passenden, qualifizierten Mitarbeiter blieben sie Theorie. Hier ist der CHRO als Taktgeber seiner HR-Mannschaft maßgeblich gefordert, die Unternehmensziele mit einem proaktiven und auf die Unternehmensstrategie abgestimmten HR-Management maßgeblich zu unterstützen und zu realisieren.
Zukunftsorientierte und über die Kirchturmspitze ihres Ressorts hinausschauende HR-Manager verstehen sich auch längst als Business-Partner der Unternehmensführung. Die Aufgabe der Personalabteilung ist es dabei nicht, den Führungskräften die Arbeit abzunehmen, sondern sie sollen diese dazu befähigen, ihre Aufgaben wahrzunehmen. Dabei haben die Personalmanager und besonders der CHRO selbst eine Vielzahl von Herausforderungen zu bewältigen. Sie müssen das Unternehmensziel Wachstum auch unter schwierigen Bedingungen im Auge behalten, gleichzeitig haben sie es im Rahmen der Globalisierung mit einer zunehmend vielfältigen und divergenten Belegschaft zu tun. Zudem erfordert die demographische Entwicklung in den Industrieländern neue Ansätze zur Mitarbeiterrekrutierung und -entwicklung. Eine neue anspruchsvolle Generation von Führungskräften und Mitarbeitern hat eigene Vorstellungen von Work-Life-Balance und Karrierechancen, fordert neue Formen der Zusammenarbeit und mehr Flexibilität. Dazu braucht es effektive und effiziente HR-Prozesse.
Trotz dieser Fülle an Aufgaben ist vielen CHROs sehr klar, wo der Schwerpunkt der HR-Arbeit in den kommenden Jahren liegen muss. In Umfragen unter den obersten Personalverantwortlichen großer Konzerne nannte über die Hälfte der Befragten ein internationales und integriertes Talentmanagement als ihr primäres Ziel. Die Personalleiter in mittelständischen Firmen sehen die Situation ähnlich. In einer von der Leuphana Universität in Lüneburg wissenschaftlich begleiteten Studie bezeichnete die Mehrheit der beteiligten HR-Chefs die Aufgabe, Talente zu finden und zu entwickeln, als ihre größte Herausforderung. Rund drei Viertel der Befragten aus 323 mittelständischen Unternehmen gaben an, dass die Gewinnung qualifizierter Mitarbeiter den Schwerpunkt für die Personalarbeit in den kommenden drei bis fünf Jahren bilden wird. Den größten Handlungsbedarf sahen die Teilnehmer der Studie darin, die Arbeitgeberattraktivität am Arbeitsmarkt herausstellen, effektivere Rekrutierungswege zu nutzen und den Auswahlprozess insgesamt zu verbessern.
Doch es reicht nicht, High Potentials für das eigene Unternehmen zu gewinnen; vielmehr kommt es darauf an, sie optimal weiterzuentwickeln. Talentmanagement beginnt bei der Potenzialanalyse zur Teilnehmerauswahl und reicht über die Gestaltung der Förderprogramme bis hin zur Laufbahnplanung für talentierte Nachwuchskräfte, um diese mit einer attraktiven Entwicklungsperspektive an das Unternehmen zu binden.
Dabei übernimmt der CHRO zwischen der Unternehmensführung, dem Management der Geschäftsbereiche und Abteilungen sowie den Talenten eine wichtige Scharnierfunktion. Er muss, unterstützt von seinem Team, vor allem intensiv mit den Fachbereichen kommunizieren. Denn gerade beim Thema Potenzialbewertung gibt es in der Praxis noch große Unsicherheiten, obwohl die überragende Bedeutung des Potenzials speziell von Führungskräften für die langfristige Unternehmensstrategie unbestritten ist. Zum einen fehlte es lange an einer aussagekräftigen Methodik zum Potenzial-Assessment. Diese Lücke ist inzwischen geschlossen (siehe auch Auf der Suche nach den verborgenen Schätzen). Zum anderen gibt es im Umgang mit den identifizierten High Potentials im Unternehmensalltag einige Schwachstellen, die nicht selten ins Gegenteil der intendierten Ziele umschlagen.
Talentmanagement als integrierte Aufgabe
In der Vergangenheit hatten Organisationsexperten oft eine Verlagerung der Verantwortung von Personalaufgaben auf die direkten Führungskräfte beobachtet; eine Entwicklung, die teils der Schwäche mancher Personalabteilungen geschuldet war, teils der in vielen Unternehmen jahrelang favorisierten Dezentralisierung. Wirkungsvolles Talentmanagement kann aber nur funktionieren, wenn es in der Organisation als integrierte Aufgabe verstanden wird, bei der die Führungsverantwortlichen der Bereiche und Abteilungen Hand in Hand mit dem CHRO zusammenarbeiten. Beim Personalchef der Organisation müssen die Fäden zusammenlaufen. Er muss mit seinem Team dafür sorgen, dass Potenzial überall in der Organisation nach einem einheitlichen und nachvollziehbaren Standard erfasst wird. Die HR-Spezialisten müssen wissen, wo die identifizierten High Potentials in der Organisation arbeiten und in Abstimmung mit der Unternehmensführung Einfluss auf ihre weitere Entwicklung nehmen können.
Zu den entscheidenden Aufgaben des CHRO zählt, dass die HR die Bedeutung des Themas Potenzial bei den Führungskräften in den Geschäftsbereichen und Abteilungen, den unmittelbaren Vorgesetzten der Talente, verankert. Zunächst sollte der CHRO in seiner Arbeit mit den Führungskräften dabei der Bekämpfung eines weit verbreiteten Irrglaubens große Aufmerksamkeit widmen: dass bisherige Erfahrung und derzeitige Performance hinreichende Informationen über das Potenzial eines möglichen Nachwuchsstars liefern. Was ein Mitarbeiter in der Vergangenheit geleistet, welche Erfahrungen er gesammelt, welche Hürden er genommen hat und wie er im Leistungsvergleich zu seinen Kollegen im Team aktuell abschneidet, sagt nur begrenzt etwas darüber aus, was er in der Zukunft zu leisten noch im Stande ist. Genau diese Frage aber muss stellen, wer das Potenzial eines Mitarbeiters ausloten will. „Have they …?“ und „Do they …?“ sind zweifellos relevante Fragen, wenn das Potenzial von Mitarbeitern zur Diskussion steht – aber weit entscheidender sind „Can they …?“ und „What if …?“. Entscheidend ist, dass Potenzial dabei überall im Unternehmen mit Hilfe der gleichen Methodik erfasst und bewertet, somit objektiv vergleichbar wird und nicht von persönlichen Sympathien oder subjektiven Bewertungen einzelner Vorgesetzter abhängig ist.
Der CHRO und seine Mitarbeiter müssen, unterstützt vom Vorstand, bei allen Führungskräften mit Personalverantwortung die entsprechende Sensibilität nicht nur für die Einschätzung, sondern auch für die weitere Entwicklung von Potenzial wecken und fördern. Gelingt es nicht, hier ein gemeinsames Mindset zu erarbeiten, ist die Gefahr groß, dass die Führungskräfte die falschen Mitarbeiter auf die Überholspur setzen, während wirkliche Talente – unterfordert oder mit inadäquaten Aufgaben abgespeist – entweder verkümmern oder dem Unternehmen frustriert den Rücken kehren. In mehr als 60 Prozent aller Fälle, in denen Mitarbeiter ein Unternehmen verlassen, sind Probleme mit dem unmittelbaren Vorgesetzten der ausschlaggebende Grund.
HR- oder Business-Profi?
Stellt sich die Frage, über welche Fähigkeiten und Kompetenzen der CHRO verfügen muss, um diesen vielfältigen Herausforderungen am besten gerecht zu werden. Zwei Denkschulen haben sich hier etabliert. Die einen geben dem gediegenen HR-Professional den Vorzug, der die administrativen Basisaufgaben des Personalressorts aus dem Effeff beherrscht. Andere Unternehmen wiederum präferieren bei der Wahl ihres CHRO solche Manager, die nicht originär aus dem Personalwesen kommen und stattdessen beispielsweise erfolgreich einen Geschäftsbereich geleitet haben. Welchem Typus der Vorzug gegeben wird, hängt nicht zuletzt auch von der Branche und der Situation des Unternehmens ab. Bei Dienstleistungen, die stark vom direkten persönlichen Kontakt zwischen Mitarbeitern und Kunden bestimmt werden, etwa im Consulting, bietet sich eher der „naturalisierte“ HR-Manager an. Handelt es sich um ein klassisches, stark reguliertes Industrieunternehmen, spricht einiges für den gestandenen HR-Professional. Ideal ist eine Kombination des Besten aus beiden Welten – HR und Business. Denn jeder Perspektivwechsel fördert die nötige Offenheit im Denken und Handeln, die ein guter CHRO heute braucht.
Vor allem eine Erkenntnis gehört heute in die Magna Charta jeder Unternehmens-HR: Talent muss der gesamten Organisation zur Verfügung stehen.
Zu einem solchen „open mindset“ zählt heute vor allem eine ganz zentrale Erkenntnis: Talent muss der gesamten Organisation zur Verfügung stehen, nicht dem unmittelbaren Vorgesetzten, der Abteilung oder einem Bereich. Dieser Grundsatz gehört in die Magna Charta jeder Unternehmens-HR. Auch wenn jeder Vorgesetzte seine hochtalentierten Mitarbeiter verständlicherweise nur ungern ziehen lässt, sind persönliche oder Ressort-Egoismen gerade im Umgang mit High Potentials nicht nur fehl am Platz, sondern kontraproduktiv. Sie bergen die Gefahr einer Fehlallokation der Talent-Ressourcen: Weil die Führungskraft nicht „loslassen“ kann oder will, wird der Mitarbeiter in einer Abteilung oder in einem Team festgehalten, wo er sein Potenzial für das Unternehmen nicht voll entfalten kann. Häufig sorgt auch fehlende Nachhaltigkeit bei der Potenzialentwicklung für Frustration. Die Führungskraft erteilt einem Mitarbeiter den Status „hoffnungsvolles Talent“ – doch anschließend passiert nichts mehr. Mit seinem Strohfeuer hat der Vorgesetzte größeren Schaden angerichtet, als hätte er das Thema gar nicht erst zur Sprache gebracht. Der symbolische Ritterschlag zum potenzialträchtigen Talent hat Hoffnungen geweckt, die enttäuscht werden – Hoffnungen auf mehr Gehalt, ein spannendes Projekt, eine Auslandsentsendung. Irgendwann wird der High Potential vermutlich kündigen und im schlimmsten Fall ausgerechnet beim schärfsten Konkurrenten aufblühen.
Wo derartige Gefahren erkennbar sind, muss der CHRO seine Prozess- und Toolhoheit geschickt einsetzen – also mögliche Defizite des Vorgesetzten bei der Talententwicklung ergründen, ihn auf das Problem ansprechen und gemeinsam mit ihm und dem Mitarbeiter einen besseren Weg suchen. Dazu bedarf es vor allem eines gut moderierten Kommunikationsprozesses mit allen Beteiligten. Das mag mitunter mühsam sein und einige Zeit kosten – aber es ist eine Investition in Talent und damit in die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens.
Kommunikationskompetenz gefragt
Die Kommunikationskompetenz der Personaler ist aber bereits vor dem eigentlichen Potenzial-Assessment gefordert. Insbesondere die Ansprüche der vielfältig vernetzten „Generation Y“ stellen die HR-Verantwortlichen heute vor neue Herausforderungen. Der Personalchef eines deutschen Automobilkonzerns berichtete kürzlich, dass seinen Mitarbeitern abends um acht eine Frage per Facebook gepostet wurde – und am nächsten Morgen um sieben kam schon die erboste Nachfrage, warum denn noch niemand geantwortet hätte. Der Kritisierte reagierte umgehend und ließ ein Schichtsystem für die 24/7-Beantwortung besonders dringender Twitter- oder Facebook-Anfragen einrichten. Das Beispiel zeigt: Die allseits umworbenen High Potentials der Generation Y verlangen – und erreichen –, dass die potenziellen Arbeitgeber sich auf ihre Spielregeln einlassen.
Ein schlecht geführtes Interview mit einem Bewerber führt mit einiger Wahrscheinlichkeit dazu, dass der Kandidat seinem Ärger per Twitter Luft macht, sobald er den Ausgang passiert hat. Bei entsprechender Verbreitung können derartige Nachrichten äußerst negativ auf das Employer Branding des betreffenden Unternehmens zurückschlagen. Gleiches gilt für Unternehmen, die sich dem Thema Potenzial nur bei sonniger Konjunktur widmen und in schwierigen Zeiten die Entwicklung ihrer Talente vernachlässigen. Damit schaden sie dem Ruf des Unternehmens nachhaltig – und dürften später, bei anziehender Konjunktur, Schwierigkeiten haben, bei den High Potentials zu punkten. Ganz abgesehen davon böten gerade Restrukturierungsaufgaben vielversprechenden Talenten ideale Gelegenheiten, sich in einem Team zu bewähren und ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.
Die Generation Y oder die Digital Natives, jene Nachwuchstalente, die mit Smartphone, Computer und Internet aufgewachsen sind, stellen die HR-Verantwortlichen in den Unternehmen aber noch in anderer Beziehung vor besondere Herausforderungen. Noch nie hat sich eine nachwachsende Generation so uneinheitlich in ihren Erwartungen, Wünschen und Vorstellungen gezeigt. Zu diesem Ergebnis kommt eine kürzlich von Egon Zehnder veröffentlichte Studie. Aus der starken Individualisierung lässt sich kein Muster ableiten, kein einheitliches Bild zeichnen. Aufgabe des CHRO wird es sein, die heterogenen Erwartungshaltungen der Talente und die Spielregeln auf dem sich ständig verknappenden Markt für High Potentials korrekt einzuschätzen und daraus eine Potenzialstrategie zu entwickeln, die sich als integraler Bestandteil in die allgemeine Unternehmensstrategie einfügt – und gleichzeitig mit den Zielen der Organisation harmoniert. Doch auch mit dem besten Team kann der CHRO diese Herausforderung nicht bewältigen: Benötigt wird eine gemeinsam mit dem Vorstand entwickelte Vision und Strategie, die von allen Führungskräften im Unternehmen verstanden und unterstützt wird.
DIE AUTOREN
Isabelle Langlois-Loris ist seit 1999 Beraterin bei Egon Zehnder, Brüssel. Sie leitet die globalen Aktivitäten der Human Resources Practice und ist Mitglied der Consumer und Financial Services Practices.
Co-Autor ist Stefan Ries, der von 2011 bis 2014 Berater im Frankfurter Büro von Egon Zehnder war.