Angesichts von Pandemie, Lieferengpässen, Krieg und Inflation verspüren Unternehmen zunehmend Druck, sich schwindelerregend schnell verändern zu müssen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Der Chief Human Resources Officer (CHRO) eines Automobilzulieferers beispielsweise berichtete am HR-Roundtable von einem Cyberangriff, der die Kommunikation im Unternehmen auf private Mobilgeräte zurückwarf. Eine andere Teilnehmerin erinnerte sich an den Ausbruch des Ukraine-Kriegs, von dem sie mitten in einem Meeting erfuhr. „Wir haben buchstäblich über Nacht eine Taskforce ins Leben gerufen, um auf den Businessdruck zu reagieren. Aber ein solches Ereignis weckt existenzielle Ängste. Damit unter Druck behutsam umzugehen, ist ungleich diffiziler.“
Nach Ansicht von Dirk Mundorf müssen sich Unternehmen darauf einstellen, dass der Ausnahmezustand zur Regel wird. Der Leiter der deutschen HR-Praxisgruppe von Egon Zehnder verwies auf Studien, die eine Zunahme psychischer Erkrankungen durch Dauerstress nahelegen. „Viele Unternehmen haben erkannt, dass sie die psychische Resilienz ihrer Mitarbeiter:innen und ihres Führungspersonals unterstützen müssen. Allerdings suchen sie noch nach den richtigen Mitteln und Wegen.“
Erschöpfung als Risiko für individuelle Performance
Vor diesem Hintergrund hielt Jogi Rippel einen Vortrag zur Frage, wie die Menschen an der Spitze von Organisationen in einer von Krisen geprägten Zeit Wirkung entfalten können. Tignum hat Führungsteams in Europa und den USA über ein Jahr begleitet und Einblicke in deren Physiologie und Gewohnheiten von über 1.000 Führungspersönlichkeiten erhalten. Fast alle Teilnehmer:innen gaben an, sich ausgelaugt zu fühlen und den eigenen Ansprüchen deshalb nicht genügen zu können (96 %). Bei neun von zehn Teilnehmer:innen schlägt sich diese gefühlte Überforderung im Autonomen Nervensystem nieder, wie Tignum per Stresshormonmessung ermittelte. Kaum jemand findet Regeneration, zwischen den Schlag auf Schlag folgenden Meetings in sich zu gehen. Dies ist laut Jogi Rippel aber eine wesentliche Voraussetzung dafür, in der jeweiligen Situation optimal zu Diskussion und Lösung beizutragen. „Im ersten Meeting kann es notwendig sein, aufmerksam zuzuhören. Im zweiten ist der eigene Input gefragt. Darauf sollte man sich mental einstellen.“ Auch das Homeoffice stellt Führungspersönlichkeiten vor Herausforderungen. „Kaum jemandem gelingt es, das Berufliche vom Privaten zu trennen. Vom Frühstückstisch direkt in die erste Konferenz – das ist die Regel.“ Insbesondere im Vorfeld strategisch bedeutsamer Meetings wäre es unabdingbar, mehr als nur Zahlen, Daten und Fakten zu sortieren, so Jogi Rippel. Das Gehirn müsse die Gelegenheit bekommen, sich auf die Situation einzustellen.
Denkmuster überprüfen
Was also können Führungspersönlichkeiten tun, um angesichts rasch aufeinander folgender Krisen einen kühlen Kopf zu bewahren? Zunächst, so Jogi Rippel, gelte es, folgende Tatsachen anzuerkennen:
- Krisen verlaufen nach wiederkehrenden Mustern. Es ist nichts Neues, dass Turbulenzen optimalen Leistungen im Wege stehen. Zeitdruck, Überlastung und der Mangel an Ressourcen beispielsweise seien bekannte Begleiterscheinungen.
- Die derzeitige Dekade beginnt besonders disruptiv und könnte noch herausfordernder werden.
- Egal was geschieht: Am Ende zählen nur Ergebnisse. Trotz Krisen müssen die Zahlen stimmen.
- Gewinnen werden Unternehmen, die Resilienz beweisen und Krisen als Ansporn begreifen, besser zu werden. Das schließt die Fähigkeit ein, noch während einer Krise für die nächste zu lernen.
Jogi Rippel stellte anschließend ein Modell vor, das die Wirksamkeit von Führung (impact) mit der individuellen Bereitschaft (readiness) ins Verhältnis setzt. Laut Tignum hängt der Grad der Wirksamkeit von drei Zuständen ab: Functional readiness umfasst die Kenntnisse und Fähigkeiten, die eine Führungspersönlichkeit braucht und die sie kontinuierlich auf dem neuesten Stand halten muss. Role readiness beschreibt die tiefe Überzeugung, mit der eine Führungspersönlichkeit ihrer Verantwortung gerecht wird und Ziele anstrebt. Personal readiness hingegen bringt die oben beschriebene mentale Agilität ein: Habe ich genug Energie, kann ich Energie geben, und bin ich für meine vielfältigen Aufgaben mental gerüstet? Diese Form der Bereitschaft potenziert die beiden anderen und spielt sich auf drei Ebenen ab:
- Gehirn und Körper: Funktionieren alle Körpersysteme optimal?
- Tägliche Herausforderungen: Habe ich die richtigen Tools, um mit den täglich wechselnden Themen, Herausforderungen und Unvorhergesehenem optimal umzugehen (z. B. Meeting to Meeting Transition, Work to Home Transition, Makro- und Mikro-Regeneration)?
- Kritische Momente: Wie stelle ich sicher, dass mein Gehirn in wichtigen Momenten optimal funktioniert und meine beste Leistung abrufen kann?
Lernen vom Leistungssport
Jogi Rippel warnte davor, das Gefühl ständiger Übermüdung physiologisch zu verstehen. Er beobachte vielmehr, dass sich Führungspersönlichkeiten kognitiv und emotional erschöpft fühlen. „Dieses Problem lösen Sie nicht mit mehr Schlaf.“ Ein Teilnehmer des Tignum-Feldversuchs habe stolz berichtet, wie multitaskingfähig ihn das Homeoffice mache: „Ich kann an Meetings teilnehmen und gleichzeitig E-Mails beantworten.“ Genau darin liege aber ein Problem, so Jogi Rippel. Der Sinn fürs Wesentliche gehe verloren. Wenn Teilnahme mit purer Anwesenheit verwechselt werde, trete eingebildete Produktivität an die Stelle von Ergebnissen.
Die Unternehmen, die sich am Feldversuch beteiligt haben, investieren viel Energie in Wohlbefinden und Gesundheit (Ebene 1). Die Ebenen 2 und 3 hingegen bleiben unterbelichtet. Jogi Rippel schlägt deshalb eine Wende im Denken vor. „Wer Anstrengung und Stress managt, statt sie nur zu ertragen, wird stärker und widerstandsfähiger.“ Diese Reise beginnt laut Jogi Rippel bereits mit der Zielsetzung. Viele Unternehmen formulieren straffe KPIs wie: Wir wollen unsere Resultate doppelt so schnell zu den halben Kosten erreichen. Betriebswirtschaftlich führe daran oft kein Weg vorbei. Aber es fehle die Komponente der persönlichen und kollektiven Verbesserung: „Wir wollen dabei 10 Prozent besser werden“, beispielsweise besser vorbereitet, energischer, produktiver, widerstandsfähiger. Diesen Bestandteil der KPIs brachte Jogi Rippel auf die Formel „BeMore statt DoMore“.
Bedürfnisse erkennen und anerkennen
Die anschließende Diskussion begann mit einer Kritik der bestehenden Metriken. „Offenbar fehlen uns bei Befragungen die Werkzeuge, um die Bedürfnisse der Mitarbeiter:innen präzise herauszufinden“, vermutete eine CHRO. Hier gelte es, gemeinsam mit den Dienstleistern nachzusteuern und Fragen zu ergänzen. Jogi Rippel bestätigt diese Annahme. Anders sei es unter anderem kaum möglich, Erfolge beim KPI „BeMore“ zu messen.
Eine andere Teilnehmerin verwies darauf, wie wenig es Menschen in der westlichen Kultur nach wie vor gelinge, die Grenzen der Belastbarkeit zu erkennen und Emotionen zu reflektieren. „An der Oberfläche gelten Gefühle in einer professionellen Umgebung nicht mehr als verpönt, aber Menschen legen erlernte Muster so schnell nicht ab.“ Darin sehe sie ein Hindernis für personal readiness. Jogi Rippel ermunterte in diesem Zusammenhang dazu, das eigene Selbstbild regelmäßig zu prüfen: Wer möchte ich sein? Was möchte ich erreichen? Solche Fragen seien auch und gerade Führungspersönlichkeiten zumutbar, denn an der Spitze dürfe sich niemand ein vages Selbstbild leisten.
Regeneration ist mehr als Wellness
Zudem gelte es, dem Kampf gegen die permanente Erschöpfung strategische Bedeutung zu verleihen. „Im Unternehmen sollte klar sein, welche Maßnahmen kurz- und welche langfristig greifen“, so der Tignum-Gründer. „Das Wellness-Wochenende ist gut und schön, reicht aber nicht.“ Die HR-Verantwortliche eines Logistikunternehmens bestätigt diesen Eindruck: „Regeneration findet traditionell am Wochenende statt. Angesichts der dauerhaft angespannten Situation müssen wir sie aber in den Alltag integrieren.“ Dazu Jogi Rippel: „Sehr richtig. Denn Regeneration ist keine Schwäche, sondern ein Werkzeug der Leistungssteigerung.“
Es gehe keineswegs darum, Führungspersönlichkeiten noch mehr Aufgaben aufzubürden. Vielmehr erleichterten Fokus und Konzentration auf das Wesentliche unterm Strich die Arbeit. In Vorbereitung des nächstens Meetings genügt es laut Jogi Rippel beispielsweise oftmals, sich selbst Fragen wie diese zu beantworten: Wie möchte ich auf die anderen wirken? Was werde ich tun, um diese Wirkung zu erzielen? Wie sollen sich die anderen nach dem Meeting fühlen? „Andernfalls lässt uns das Gehirn immer wieder nach bekannten Mustern verfahren, und das bringt niemanden im Raum weiter.“
Abschließend widmete sich der HR-Roundtable der Frage, wie realistisch die Implementierung des Prinzips „BeMore“ im eigenen Unternehmen sei. Die Reaktionen fielen gemischt aus. Eine Teilnehmerin berichtete von dem Versuch, Führungspersönlichkeiten Pausen zwischen Meetings zu verordnen. Das sei gescheitert. Der HR-Verantwortliche eines Maschinenbauers warf ein, dass der Erfolg solcher Programme stark von der Einsicht jedes:r Einzelnen abhänge. Eine Empfehlung aus dem Plenum dazu lautete, die Umsetzung weniger den Individuen zu überlassen, als jeweils gesamte Teams mitzunehmen. „Die Teammitglieder sollen bei uns gemeinsam entscheiden, was sie für ihre Performance brauchen. Das wird dann verbindlich niedergeschrieben.“ Laut Jogi Rippel ist das ein guter Anfang: „Programme für ganze Unternehmen sind oft zu grobmaschig, während Einzelcoachings die Teamperspektive vermissen lassen.“ Wo die Zahl der Flugmeilen noch immer als Statussymbol gelte, müssten Teamdynamiken hinterfragt werden.
Dirk Mundorf von Egon Zehnder griff diese Beobachtung in seinem Schlussstatement auf. Den eigenen Wert beispielsweise an der Länge der Arbeitstage zu messen, sei nicht nur oberflächlich, sondern gefährde das psychische Wohlbefinden und damit die Kreativität und Innovation. „Unternehmen sollten klar und eindeutig definieren, worin ihr Purpose besteht. Das hilft einzelnen Mitarbeiter:innen und ganzen Teams dabei, den von Jogi Rippel angesprochenen Fokus zu finden.“