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Standpunkt: Kompetenz-Mix mit Wirkung

Audit Committee Quarterly III/2019 zum Thema „Chaos und Kapital”

Unternehmen im digitalen Wandel brauchen agile Aufsichtsräte

In meinen Gesprächen mit Aufsichtsräten wird zunehmend deutlich, dass sich viele eine zeitgemäßere Rolle im Unternehmen wünschen. Sie wollen weg von einem allein auf Finanzen und Formalien beschränkten Fokus. Stattdessen sehen sie die Notwendigkeit, sich intensiver mit den Inhalten zu befassen und den Vorstand dabei zu ermutigen, neu, anders – oder überhaupt – über disruptive Trends in ihrer Branche und in der Gesellschaft insgesamt nachzudenken. Kurz gesagt: Sie wollen das in vielen Fällen zu eng interpretierte klassische Korsett der Kontrolleure sprengen, weil sie den dringenden Bedarf des Vorstands nach mehr kompetenter Beratung sehen.

Und tatsächlich gehört es ja auch zu den wichtigsten Aufgaben von Aufsichtsräten, Verschiebungen in Wirtschaft, Gesellschaft und Politik frühzeitig zu antizipieren und diese mit dem Vorstand zu diskutieren. Dies gilt umso mehr in einer Zeit der digitalen Transformation, auf deren Wucht und Tempo viele Unternehmen ihre Antworten noch finden müssen. In einem digitalen Umfeld, in dem Künstliche Intelligenz immer mehr Raum gewinnt, müssen grundlegende Entscheidungen, zum Beispiel über die Produktpipeline oder angebotene Services, häufiger und kurzfristiger getroffen werden. Zugleich gilt es, agil zu bleiben, um die Ziele bei noch nicht vorhersehbaren neuen Entwicklungen anpassen zu können. Auch wenn die Zukunft schon immer unsicher war – heute ist sie weniger klar denn je, weil sich immer mehr Parameter gleichzeitig verändern. Wie werden Banking, Mobilität, Automotive, Schifffahrt etc. künftig aussehen?

Hinzu kommen Herausforderungen durch eine sprunghafter gewordene politische Rahmensetzung. Ein Beispiel dafür sind die Handelskonflikte, die insbesondere für die stark exportorientierten Unternehmen in Deutschland eine gewaltige Herausforderung darstellen. Überhaupt drängt die Politik in einer durch die umfassende Digitalisierung aller Lebens- und Wirtschaftsbereiche enger zusammenrückenden Welt noch stärker auf die Tagesordnung. Die gegenwärtigen Krisen, die vom Iran über Nordkorea bis zum Brexit und zur Klimapolitik reichen, haben einen weltweiten oder zumindest einen europäischen Impact. Die Ballung der politischen Herausforderungen ist enorm und nicht vergleichbar mit früheren Zeiten.

Vor diesem technologischen, wirtschaftlichen und politischen Passepartout ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Aufsichtsräte als zu stark durch Formalisierung, Regulierung und Haftungsrisiken beengt empfinden. Denn zugleich sehen sie die dringende Notwendigkeit, dem Vorstand verstärkt Impulse für die inhaltliche Auseinandersetzung zu geben und notwendige Strategieveränderungen zu begleiten.
 

Lernbereitschaft, Neugierde, Anpassungsfähigkeit

Damit Aufsichtsgremien eine zeitgemäße Rolle übernehmen können, müssen sie – insgesamt gesehen – noch diverser als heute zusammengesetzt sein – einschließlich Kompetenzen und Alter. Gute und schlechte Unternehmensführung und -überwachung sind zwar grundsätzlich vom Alter unabhängig. Auffällig ist aber, dass es regelmäßig einen erheblichen Alters- und damit auch Erfahrungsunterschied zwischen dem Vorstand und dem Aufsichtsrat gibt. Dies birgt Gefahren. So finden sich Trends, die sich mit der Digitalisierung erst voll entfalten oder neu entstehen, häufig nicht mehr im Erfahrungsschatz eines in einer anderen – analogen – Zeit geprägten ehemaligen Unternehmenslenkers, der heute Aufsichtsrat ist.

Fähigkeiten lassen sich natürlich nicht am Alter bemessen, doch liegt es in der Natur der Sache, dass es schwieriger sein kann, die teils grundstürzenden neuen Entwicklungen zu kontrollieren und lenkend zu begleiten sowie zukünftige Trends vorherzusagen, wenn man als Vorstand nicht mit den vielen digitalen Kanälen konfrontiert wurde, über die heute verkauft, kommuniziert und entwickelt wird.

Aus dieser Perspektive ist eine Verjüngung der Gremien für eine erfolgreiche Überwachung, Kontrolle und Gestaltung erforderlich. Dabei geht es gar nicht so sehr um das biologische Alter, sondern um das Mindset. Gefragt sind Lernwilligkeit, Neugierde und intellektuelle Anpassungsfähigkeit. Denn die digitale Revolution fordert genau diese Qualitäten von denen, die sie gewinnbringend gestalten wollen.
 

Bohrende Fragen statt ritualisierter Abläufe

Als Antwort auf die digitale Herausforderung reicht eine diverse Zusammensetzung von Aufsichtsräten allerdings nicht aus. Diversität ist kein Selbstzünder, der stockende Prozesse von alleine wieder in Fahrt bringt. Um die notwendigen Räume für Diskussionen, für Nachfragen und verschiedene Perspektiven zu öffnen, braucht es vor allem eine gelebte Kultur. Diese zu etablieren und lebendig zu halten, ist harte Arbeit, und sie ruht auf Persönlichkeiten, die selbst bereit sind, sich zu transformieren. Bei der Frage, wer in den Aufsichtsrat berufen werden sollte, kommt es also nicht allein auf die unabdingbare fachliche Kompetenz an. Es müssen auch Fragen gestellt werden wie: Was treibt die Person in ihrem Innersten an? Wie beeinflusst sie die Teamdynamik? Wie flexibel geht sie mit Impulsen von innen und außen um? Nur aus der zustimmenden Beantwortung auch solcher Fragen ergibt sich eine hinreichende Gewissheit, dass eine Kandidatin oder ein Kandidat jenseits oberflächlicher Diversity-Kennzahlen tatsächlich auf die Kulturveränderung an der Unternehmensspitze einzahlt.

In diesem Sinne bergen Aufsichtsgremien gerade in Zeiten des Wandels ein enormes Potenzial, um als Sparringspartner und Impulsgeber des Vorstands zur richtigen Weichenstellung beizutragen. Sie auf Finanzen und Formalien zu beschränken, wäre angesichts der Herausforderungen grob fahrlässig.

Ein geändertes Verständnis und Selbstverständnis des Aufsichtsrats muss sich allerdings auch in dessen tatsächlicher Aufsichtspraxis niederschlagen. Strategische Fragen oder Markt- und Wettbewerbsthemen haben heute aus Sicht vieler Aufsichtsräte zu wenig Platz auf der Agenda. Hinzu kommt: Vieles wird in den Ausschüssen vorab geklärt, die Diskussionen im Aufsichtsrat selbst verkümmern anschließend in lange eingeübten Ritualen. Welches Gremienmitglied mag sich da schon unbeliebt machen mit kritischen Nachfragen? Es wäre sicher deutlich hilfreicher, wenn bohrende Fragen mehr zum guten Ton gehörten als immer wieder repetierte Verweise auf das Haftungsrecht oder historisch gewachsene Gepflogenheiten im Unternehmen. Hier tut ein Kulturwandel not, damit Diversität im Denken und Handeln, frische Perspektiven und neue und alte Erfahrungen im Diskurs zum Tragen kommen. So entsteht ein Resonanzraum, in dem Vorstände Ideen testen und neue Impulse gewinnen können.
 

Strategie in Personal übersetzen – auch im Aufsichtsrat

Gute Aufsichtsratsvorsitzende sorgen deshalb dafür, dass die für einen lebendigen Diskurs notwendige Zeit zur Verfügung steht und Themen wie Markt, Strategie, Digitales und Personal auf der Tagesordnung einen festen Platz finden. Außerdem fördern sie die Kompetenzen im Gremium selbst, indem sie sich und ihren Kolleginnen und Kollegen folgende Fragen stellen:

● Welcher persönliche und professionelle Lebensweg bis zum Eintritt in den Aufsichtsrat verspricht eine bestimmte Kompetenz – in der benötigten Tiefe –, auf die das Gremium angewiesen ist? Woran erkennen wir diese Erfahrungen in der Diskussion, und kommen sie dort auch zum Tragen?
● Wo ist unser (geo-)politischer Sachverstand verankert?
● Wo sind Mitglieder, die in sich schnell entwickelnden Märkten wie den USA oder Asien Erfahrungen gesammelt haben? Und die trotzdem Erfahrungen mit dem deutschen Corporate-Governance-System, seinen Regularien und der Mitbestimmung mitbringen?
● Welche Mitglieder können eine sichtbare Nähe zur neuen digitalen Welt vorweisen?
● Wo sind Vertreter von Branchen und aus Funktionen, die mehr Erfahrung haben mit technologischer Disruption, mit der digitalen Transformation, im Umgang mit neuen Kunden und Kanälen?

Nach einer solchen Betrachtung ist relativ schnell klar, ob das Gremium gut genug aufgestellt ist oder ob es perspektivisch in den Nachbesetzungen, die in 12, 24 oder 36 Monaten anstehen oder möglich sind, Veränderungen geben muss. Wünschenswert ist dabei eine gute Balance zwischen Kontinuität und frischen Impulsen. So lassen sich die gegenwärtig benötigten Kompetenzen ergänzen, ohne gewachsenen Sachverstand zu verlieren. Dies wäre zeitgemäß. Denn wenn es wahr ist, dass die Digitalisierung alle Bereiche der Wirtschaft erfasst, macht sie auch vor dem Aufsichtsrat nicht halt.

Der Artikel erschien zuerst im Audit Committee Quarterly – Das Magazin für Corporate Governance von KPMG und ist auch dort abrufbar.

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