Dr. Sebastian Harrer, Head of HR bei ING Deutschland
Silos aufbrechen und über Teamgrenzen hinweg zusammenarbeiten – so will die deutsche Tochter der niederländischen Großbank ING ihre Effizienz und Innovationskraft steigern. Besonders gefordert ist in diesem dreistufigen, 18-monatigen Prozess die Personalabteilung. Im Interview blickt Dr. Sebastian Harrer, Head of HR bei ING Deutschland, auf den Beginn der Transformation zurück und erläutert unter anderem, was es mit Obeya-Sessions auf sich hat und wie sich die Feedbackkultur wandelt.
Egon Zehnder: Was gab bei ING den Ausschlag, die Strukturen der Zusammenarbeit auf den Prüfstand zu stellen?
Sebastian Harrer: Bei uns gilt der Leitsatz: Was uns hergebracht hat, wird uns nicht mehr weiterbringen. Die ING steht zwar wirtschaftlich hervorragend da, wie unsere jüngsten Geschäftszahlen belegen. Aber um erfolgreich zu bleiben, müssen wir voranschreiten. Das gilt auch für unsere internen Prozesse, die sich in den vergangenen Jahren nicht immer als effizient erwiesen haben und nicht durchlässig genug waren. Wir haben viel Zeit an der Schnittstelle zwischen IT und Projektmanagement verloren. Das mussten wir umgestalten. Es galt, die Zusammenarbeit unserer Fachleute strukturell zu vereinfachen, um unsere Innovationszyklen zu beschleunigen. Anders gesagt: Wir wollten agiler werden.
Egon Zehnder: Was waren erste Schritte?
Sebastian Harrer: Strukturveränderungen gelingen nur, wenn alle wesentlichen Mitarbeiter mitziehen. Deshalb ist es zu Beginn eines solchen Prozesses wichtig, ins Unternehmen hineinzuhören: Sind die Führungskräfte fähig und willens, die Veränderungen umzusetzen? Welche Mitarbeiter verfügen über Kenntnisse, auf denen wir aufbauen können? Haben wir Talente, die entsprechendes Entwicklungspotenzial aufweisen?
Egon Zehnder: Hatte diese Analyse Konsequenzen?
Sebastian Harrer: Ja, wir haben rund 200 Führungspositionen neu ausgeschrieben, um frischen Wind in die Teams zu bringen. Bewerben konnten und sollten sich auch Mitarbeiter, die bisher noch keine Führungsaufgaben wahrgenommen hatten. Wichtige Auswahl-Kriterien waren für uns Freude am Gestalten und der Wille, das Unternehmen voranzubringen.
Egon Zehnder: Neubesetzungen alleine reichen oft nicht – was haben Sie getan, um das zu verankern?
Sebastian Harrer: Wir haben beispielsweise an allen Standorten insgesamt rund 1.500 Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben zu erleben, was agiles Arbeiten bedeutet. „Agile Xperience“ hieß dieses Format, an dem sich das Senior Management persönlich beteiligt hat. Ein Schwerpunkt lag dabei auf dem Thema Kooperation.
Egon Zehnder: Der Wert von Zusammenarbeit und Kooperation kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Wie haben Sie das im Unternehmen verankert?
Sebastian Harrer: Klassische Führungskräfte sehen ihre Rolle vor allem darin, Prozesse zu managen, Mitarbeiter zu steuern und den Ressourceneinsatz zu planen. In der agilen Arbeitswelt kommt es aber verstärkt darauf an, erst einmal die Grundlage für gute Zusammenarbeit zu schaffen, indem man gemeinsam mit den Kollegen einen „Purpose" entwickelt. Dabei haben uns zum einen unsere HR Squads geholfen, also Teams, die bereits agil aufgestellt waren und die sich mit den HR-seitigen Themen der Transformation befasst haben. Zusätzlich hat eine Gruppe von Agile Coaches die Teams dabei unterstützt, sich selbst steuern zu lernen. Zum Abschluss der agilen Transformation werden wir ca. 60 Agile Coaches ausgebildet und im Einsatz haben. Einige davon sind ehemalige Manager, die in ihrer neuen Aufgabe aufgehen.
Egon Zehnder: Aber Meister der Zusammenarbeit fallen nicht vom Himmel, richtig?
Sebastian Harrer: Natürlich nicht, aber als HR-Bereich können wir bestimmte Standards definieren und durch passende Maßnahmen in der Gesamtorganisation verankern. So haben wir zum Beispiel ein Performance-Management-System eingeführt und damit unter anderem festgelegt, wie der individuelle Zielsetzungsprozess ablaufen soll, nach welcher Systematik Bonushöhen bestimmt werden und wie die Eskalationswege aussehen. Eine wesentliche Eigenschaft des neuen Systems besteht darin, dass Mitarbeiter ihre Ziele selbst formulieren; die Aufgabe des Vorgesetzten besteht lediglich in der Validierung. Außerdem werden Ziele sowohl horizontal als auch vertikal mit den Zielen von Kollegen und denen des Vorgesetzten abgestimmt – ein Vorgehen, das essenziell für eine agile Organisation ist.
Die ING geht aber noch einen Schritt weiter: Wir richten uns mit Hilfe des sogenannten Quarterly Business Review regelmäßig organisationsweit auf die strategischen Prioritäten der Bank aus, was uns ermöglicht, gemeinsam an einem Strang zu ziehen. Zusätzlich führt jeder Tribe sogenannte Obeya-Sessions durch. Obeya ist Japanisch und bedeutet so viel wie Taktikzentrale. Dort machen die Tribes ihre strategischen Ziele sowie ihre Planung für das Jahr transparent und können so regelmäßig überprüfen, wo sie stehen, sogenannte „Impediments“, also Hindernisse auf dem Weg zum Ziel, besprechen und flexibel eine Lösung finden. So füllen wir den strategischen Ansatz mit Leben, die Vorteile von Zusammenarbeit sind erfahrbar. Die Mitarbeiter spüren, dass sich das Ausbrechen aus dem Abteilungsdenken, das Aufbrechen von Silos, für das Unternehmen und für sie selbst auszahlt: Wir werden effizienter und innovativer, und das Arbeiten bereitet mehr Freude, weil wir Routinen hinterfragen und schneller zu Lösungen kommen, etwa wenn Kapazitätsprobleme auftreten.
Egon Zehnder: Bleiben wir bei diesem Beispiel: Angenommen es gibt Kapazitätsengpässe. Was passiert dann?
Sebastian Harrer: Falls zum Beispiel ein „Epic“, also der definierte Weg zur Erreichung eines Ziels, Ressourcen benötigt, die über den eigenen Tribe hinausgehen, werden diese über den Quarterly Business Review früh genug angemeldet. Zeitnah nach der Anmeldung werden die Ressourcenbedarfe von den beteiligten Personen auf der operativen Ebene diskutiert und nur im Extremfall im Rahmen des sogenannten Marketplace im Kreise der Leads verhandelt. Falls keine Einigung erzielt werden kann, wird das Ganze im Nachgang bis an den Vorstand eskaliert. So kommen wir viel schneller zu Lösungen als früher, als solche Anfragen vom Teamleiter zum Abteilungsleiter zum Bereichsleiter durchgereicht wurden.
Egon Zehnder: Da gehen Sie neue Wege – auch in der Art und Weise, Feedback zu geben?
Sebastian Harrer: Unbedingt! Wir wollen erreichen, dass Feedback nicht nur von oben nach unten gegeben wird, sondern auch horizontal. Wenn es um Lob geht, funktioniert das bei ING Deutschland bereits recht gut. Wir verfügen über ein soziales Netzwerk namens Kudos, über das Kollegen einander loben und danken können. Dadurch kommen sie ins Gespräch und motivieren einander. Um das auszubauen und auch für konstruktive Kritik zu öffnen, müssen wir nur nach Holland schauen. Die Kollegen dort nutzen die Live-Feedbackfunktion von Workday. Wir selbst planen ebenfalls, Workday einzuführen. Damit kann dann jeder von überall aus Anregungen geben. Mitarbeiter X sitzt zum Beispiel im Zug, und ihm fällt etwas ein zu der Obeya-Session, an der er teilgenommen hat: „Hey, mir imponiert, wie Ihr dieses und jenes Thema angeht. Zügiger ginge es eventuell so und so.“
Egon Zehnder: Wie sinnvoll sind vor diesem Hintergrund künftig noch traditionelle Jahresgespräche?
Sebastian Harrer: Solche Gespräche müssen zu dem hochfrequenten Feedback passen, das Mitarbeiter an allen Schnittstellen erhalten sollen, die für ihre Arbeit relevant sind. Klar ist außerdem, dass sich die Frequenz und die Inhalte von Performance-Gesprächen stärker am Entwicklungsstand des einzelnen Mitarbeiters orientieren werden. Wenn beispielsweise klar wird, dass jemand ein Ziel nicht erreichen wird, dann müssen wir gleich nachjustieren, statt es erst Monate später bei einem Jahresgespräch zu thematisieren. Wir haben über den Modus aber noch nicht abschließend entschieden.
Egon Zehnder: Wie horchen Sie in die Organisation hinein bei so viel Veränderung?
Sebastian Harrer: Durch jährliche Vollbefragungen. Doch die Mitarbeiter nur einmal im Jahr zu befragen, reicht uns nicht. Die Vollbefragungen sind Teil unseres „Continuous Listening“ Programms. Das Programm umfasst ergänzend unsere sogenannten „Pulse Checks“, mit deren Hilfe wir quartalsweise stichprobenartig von einem Fünftel der Mitarbeiter Feedback einholen. Diesen Aufwand können wir natürlich nur betreiben, weil wir die Informationen automatisieren und unter Berücksichtigung des Datenschutzes in unser System einspeisen.
Egon Zehnder: Stellen sich bereits Erfolge all der Maßnahmen ein?
Sebastian Harrer: Das kommt auf den Blickwinkel an. Die Zufriedenheit der Kunden mit unserer Banking-App beispielsweise ist in den vergangenen Monaten stark gestiegen, weil neu installierte Features gut ankommen. Und das liegt aus meiner Sicht ganz eindeutig daran, dass Marktforschung, Produktentwicklung und Programmierung mittlerweile Hand in Hand arbeiten. Parallel zu dieser erfreulichen Entwicklung hat sich die Stimmung unter den Mitarbeitern aber etwas getrübt. Wir haben einen Rückgang beim Engagement gemessen.
Egon Zehnder: Beobachten Sie das mit Sorge?
Sebastian Harrer: Dazu besteht kein Anlass. Denn eine Transformation dieser Größenordnung löst neben Neugierde erwartungsgemäß auch Verunsicherung aus. Man denke nur an den Arbeitsalltag von Beschäftigten im Bereich „Service und Sales“. Für diese Mitarbeiter sind Eingriffe in Prozesse immer kritisch, weil sie auf reibungslos laufende Prozesse angewiesen sind, um Baufinanzierungen zu verkaufen und Kunden zufriedenstellen zu können. Mit Blick auf diese Kollegen haben wir uns angeschaut, welche Erfahrungen die Zentrale in Holland mit dem Thema Wandel gemacht hat.
Egon Zehnder: Was haben Sie dabei gelernt?
Sebastian Harrer: Dass wir auf persönliche Präferenzen stärker Rücksicht nehmen müssen. Unser Ziel besteht darin, Silos durchlässig zu machen und Front und Back Office so nah wie möglich zusammenzubringen. Als irrig hat sich aber die Annahme erwiesen, dass alle Mitarbeiter, deren Job zum Beispiel überwiegend im Telefonieren besteht, froh darüber sein müssten, zur Abwechslung Kreditanträge zu bearbeiten. Wir müssen flexibel bleiben und jeden Einzelnen fragen: Wo siehst Du selbst deine Aufgabe an der Schnittstelle zwischen Front- und Back-Office? Im diesem Herbst steht die nächste Messung an. Dann ist die erste Welle der Transformation genau ein Jahr her.
Egon Zehnder: An vielen Standorten gibt es gewachsene Kulturen – gibt es dort Konflikte?
Sebastian Harrer: Von Konflikten würde ich nicht sprechen. Ich gebe aber zu, dass ich die Komplexität unterschätzt habe. Ein wesentlicher Bestandteil der ersten Welle war die Gesamtbetriebsvereinbarung „Agiles Arbeiten“. Darin beschreiben wir, wie Squads arbeiten und was dabei zu berücksichtigen ist: das Interesse der Mitarbeiter, das Arbeitsumfeld, das Interesse des Unternehmens und die Arbeitsmethoden. Diese Regelungen gilt es, mit denen abzugleichen, die es auf Betriebsebene bereits gibt. Nürnberg, Hannover oder Frankfurt verfügen etwa über eigene Personaleinsatzpläne und IT-Systeme. Standortübergreifende Teams zu bauen, bringt deshalb gewisse Herausforderungen mit sich. Grundsätzlich aber gab und gibt es auch viel Freiheit. Es wurden Tribes gebildet, für deren Leitung sich jeder bewerben konnte, vom Tarifmitarbeiter bis zum leitenden Angestellten. Nachdem die Leads ausgewählt waren, gab es kaum noch Vorgaben. Die Tribes haben selbst entschieden, wie sie sich aufstellen. Das war sicherlich sehr gut so.
Egon Zehnder: Eine Bank auf Abenteuerreise?
Sebastian Harrer: In gewisser Weise trifft es das. Aber nicht im Sinne von „Wir laufen einfach mal los und schauen, was passiert“. Vielmehr bieten wir uns den Mitarbeitern als „Tour Guide" auf einer Reise an, deren Stationen sie bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen. Zum 1. September dieses Jahres haben wir alle Einheiten transformiert. Nun werden wir die Arbeitsmethoden, die Kultur und die Organisation weiterentwickeln, und vielleicht sehen die Tribes ein Jahr später anders aus, als wir heute glauben. Eine Pauschalreise ist es jedenfalls nicht.
Egon Zehnder: Herr Harrer, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Vita
Dr. Sebastian Harrer war nach seinem Studium und seiner Promotion im In- und Ausland (u. a. Bonn, Paris, Sydney) zunächst als Berater in der Executive Education tätig. Im Anschluss hatte er über einen Zeitraum von 12 Jahren verschiedene Rollen in der Bosch-Gruppe inne, u. a. in der Zentrale, in Ungarn, als weltweiter Talent Manager für eine Business Division als auch als Personalleiter in den Niederlanden. Seit Anfang 2018 arbeitet Harrer als Head of HR der ING Deutschland (deutsche Konzerngesellschaft sowie Region D/A) für die ING Groep N.V.
Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Oliver Soulas