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„Darüber nachdenken, wie wir denken.“

Individualität als Treiber echter Vielfalt

Seit rund 30 Jahren beschäftigt sich der renommierte Wirtschaftspsychologe Binna Kandola mit den Themen Diversität und Integration. Dabei spielt die Identität eine zentrale Rolle bei der Umsetzung dieser Ziele. Sie kann der Königsweg zu tatsächlicher Vielfalt sein – oder ein wesentliches Hindernis.

FOCUS: Welche Rolle spielt unsere Identität bei der Auswahl unserer professionellen Aufgaben und Ziele?

Binna Kandola: Im Laufe der Zeit haben sich Rollendefinitionen nicht nur im Berufsleben, sondern auch in der Gesellschaft insgesamt entwickelt. Doch diese Definitionen sind historisch bedingt, sind eigentlich nicht an die Rollen selbst gebunden. Denken Sie zum Beispiel daran, was wir heute für typisch weiblich, typisch männlich halten und was für Berufe uns dazu einfallen. Ich habe kürzlich einen Leitartikel in einer Zeitung aus dem 19. Jahrhundert gelesen, in dem es darum ging, dass Frauen für eine bestimmte Aufgabe absolut nicht geeignet seien. Es ging um Krankenpflege! Das ist heute ein weiblich dominierter Beruf, was sich ja auch in der Bezeichnung „Krankenschwester“ ausdrückt. Besonders im Hinblick auf das Geschlecht scheinen Identität und Rolle in den Köpfen vieler Menschen also untrennbar miteinander verbunden zu sein. Tatsächlich gibt es aber keine inhärente Verbindung zwischen beiden.

In vielen Ländern sind nur etwa fünf Prozent aller CEOs Frauen und die oberen Führungsebenen in den Unternehmen sind ebenfalls vorwiegend von Männern besetzt. Ist es möglich, dass es für Frauen einfach schwierig ist, bei so wenigen Vorbildern die eigene Identität mit einer derartigen Rolle in Verbindung zu bringen?

Ja, Vorbilder sind entscheidend. Ich glaube, wenn man sieht, dass Menschen wie man selbst in einem Unternehmen erfolgreich sind, dann hat man eher das Gefühl: Dies ist eine Organisation, die mich willkommen heißt und mich für meine Qualitäten schätzt. Zahlen allein sagen dabei aber noch nicht viel. Ein Ministerium, in dem 40 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt waren, beauftragte uns, zu prüfen, wie diese Frauen die Organisation empfanden. Unsere Befragungen ergaben, dass sie sich recht unwohl fühlten, weil sie von wichtigen Diskussionen ausgeschlossen wurden und an Entscheidungen nicht beteiligt waren. Sie besprachen ihre Unzufriedenheit mit anderen Frauen in niedrigeren Positionen, die uns wiederum erklärten, dass sie sich nicht für höhere Positionen bewerben würden.

Was halten Sie von den Regierungsinitiativen zahlreicher Länder, mehr Frauen per Gesetz in Vorstände und Aufsichtsräte zu berufen?

Ich begrüße diese Bemühungen, doch warne ich davor zu glauben, man müsse nur eine goldene Zahl erreichen, und dann sei das Problem gelöst. Es ist jetzt ungefähr das dritte Mal in meiner beruflichen Karriere, dass Gleichberechtigung und Frauen in Führungspositionen mit leicht unterschiedlichen Schwerpunkten zu zentralen gesellschaftlichen Diskussionsthemen werden. Nach einer Weile ebbt das Interesse daran wieder ab. Inklusion wird aber auch weiterhin eine Herausforderung bleiben; egal wie die Zahlen aussehen.

Die Vorurteile, die Vielfalt und Integration be- oder sogar verhindern, sind oft unbewusst. Was halten Sie in diesem Zusammenhang vom Konzept der Achtsamkeit, dessen Kern ja die nicht wertende Beobachtung eines aktuellen Geschehens ist? Kann Achtsamkeit auch dabei helfen, zu erkennen, wie man selbst zu seinen Urteilen und Bewertungen kommt, und diese beeinflussen?

Sich seiner selbst bewusst zu sein ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, wenn man Differenzen überbrücken will. Für handlungsorientierte Führungskräfte mag die Beschäftigung mit dem eigenen Ich passiv wirken. Aber in Wahrheit ist die Auseinandersetzung mit den eigenen Motiven und dem eigenen Verhalten eine höchst aktive Tätigkeit. Fragen Sie sich beispielsweise in einem Meeting, an wen Sie sich normalerweise wenden. Und warum? Wenn jemand eine gute Idee hat, stimmen Sie dieser nur dann zu, wenn jemand, der Ihnen ähnlich ist, sie formuliert hat? Dies sind Verhaltensweisen, die man erkennen und derer man sich bewusst sein sollte. Und dazu sind wir ja durchaus imstande – dieses Phänomen wird als Metakognition bezeichnet. Wir besitzen die wunderbare Fähigkeit, darüber nachzudenken, wie wir denken.

„Diversität sorgt für größere Kreativität, bringt jedoch auch stärkere Spannung mit sich.“

Wenn wir diese Fähigkeit haben und eine nachhaltige Kultur der Vielfalt etablieren wollen – und damit meinen wir eine genuine, tiefgehende denkerische Vielfalt, nicht nur ethnische oder Gender-Diversität –, ist dann nicht der Schlüssel dazu das Selbstverständnis aller beteiligten Individuen?

Das Identitätskonzept ist sicherlich zentral, aber ich möchte es gern in zweierlei Hinsicht präzisieren. Unternehmen ermuntern ihre Mitarbeiter oft, auch am Arbeitsplatz ganz sie selbst zu sein. Mir gefällt der Ausdruck zwar, denn die Idee, sich nicht verbiegen oder hinter einer Maske verstecken zu müssen, hat viel für sich, ist die Basis echter Vielfalt. Aber niemand kann in einem professionellen Umfeld ganz er selbst sein. Jeder hat einfach gewisse Seiten, Aspekte seiner Identität, die im Arbeitsumfeld schlicht und ergreifend unangemessen sind. Zweitens kann in Unternehmen, in denen keine gemeinsame Zielsetzung vorhanden ist, zu viel individuelle Identität kontraproduktiv sein. In einer solchen Situation sorgt Diversität für Probleme – die Leute klammern sich an ihre jeweiligen Standpunkte, ohne dass es ein mäßigendes oder gar zusammenführendes Element gibt.

Über Probleme im Umgang mit Vielfalt sprechen ihre Befürworter ungern. Normalerweise wird Diversität als ausschließlich positive und erstrebenswerte Dimension für ein Unternehmen gehandelt.

Es ist bekannt, dass Teams von Vielfalt profitieren können, doch hat größere Diversität durchaus auch ihre Nachteile. Wer in diesem Bereich tätig ist, erwähnt das nicht unbedingt – aus gutem Grunde. Doch die Forschungsergebnisse sind eindeutig. Diversität sorgt für größere Kreativität, bringt jedoch auch stärkere Spannung mit sich, weil genuin unterschiedliche Meinungen, die in unterschiedlichen Identitäten verwurzelt sind, aufeinandertreffen. Ob sich diese Spannung letztlich in Kreativität umsetzen lässt, hängt von der Identität ab, die man dem Team anbietet, und davon, inwieweit die Teammitglieder in dem Moment bereit sind, zuzuhören.

Zweifellos hängt es von der Unternehmensführung und dann natürlich auch von den jeweiligen Teamleitern ab, ob tiefgreifende Diversität und Integration gewollt und gepflegt werden. Um aus gedanklicher Vielfalt einen echten Nutzen zu ziehen, muss man sowohl die Spannung wie auch die Kreativität, die Sie ansprachen, dirigieren können. Das ist eine Fähigkeit, nach der wir suchen, wenn wir Führungskräfte beurteilen.

Die Forschung scheint zu bestätigen, dass die Erwartungen einer Führungskraft zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Führungskräfte, die glauben, dass Diversität und Integration spürbare Vorteile erzeugen, verhalten sich entsprechend ihren Erwartungen und erzielen dann tatsächlich Vorteile. Führungskräfte, die dagegen der Ansicht sind, dass Diversität und Integration nichts bringen, verhalten sich in einer Weise, die andere Menschen ausschließt. Wenn sich dann keine positiven Veränderungen einstellen, nutzen die pessimistischen Führungskräfte dies als Beweis für ihre berechtigte Skepsis gegenüber Diversität.

Wie sollten die Mitglieder eines Teams reagieren, wenn ihr Teamleiter Diversität abtut und andere Ideen oder Stimmen nicht zur Kenntnis nimmt?

Wenn eine Führungskraft sich ihres Verhaltens offensichtlich nicht bewusst ist, sollten die Teammitglieder entsprechendes Feedback geben, darauf hinweisen, dass der Teamleiter den Ideen bestimmter Mitglieder des Teams kaum Beachtung schenkt. Das kann eine echte Herausforderung sein. Der Teamverantwortliche kann sich angegriffen fühlen, kann aufbrausen oder sein Verhalten abstreiten. Forschungen haben jedoch ergeben, dass ein solches Feedback, selbst wenn es nur andeutungsweise und zurückhaltend vermittelt wurde, oft zur Folge hat, dass die adressierten Führungskräfte ihr Verhalten hinterfragen und eine bessere Eigenwahrnehmung entwickeln. Die Mitglieder des Teams müssen aber erst einmal den Mut aufbringen, derartiges Feedback zu geben.

„Es muss einfach ein gewisses Maß an Offenheit vorhanden sein, sonst wird alle Individualität glattgebügelt.“

Sie raten Führungskräften also, aufgeschlossener zu sein und stärker darauf zu achten, keine Ideen und Vorschläge auszuschließen. Können zu viel Vielfalt und Integration auch dazu führen, dass sich Erwägungen und Diskussionen endlos in die Länge ziehen, ohne jemals zu einem Ergebnis zu führen?

Lassen Sie mich dazu auf ein aktuelles Ergebnis unserer Forschung verweisen. Einer unserer Klienten hat nämlich genau diese Frage untersuchen lassen. Eine Gruppe von hochrangigen Senior Executives nahm an einem Diversitäts- und Integrationsprogramm teil; eine andere, vergleichbare Gruppe hingegen nicht. Es stellte sich heraus, dass die Entscheidungsprozesse in jenen Teams schneller abliefen, die von Führungskräften geleitet wurden, die an dem Diversity-Programm teilgenommen hatten. Rein intuitiv hätte man vielleicht erwartet, dass diese Teamleiter viel Zeit damit verbringen würden, die Meinung jedes Mitglieds ihrer Gruppe in Erfahrung zu bringen und allen Mitgliedern möglichst gleich viel Sprechzeit zu gewähren, und dass sie gleichzeitig die eigene Meinung lange zurückhielten, um der Diskussion nicht vorzugreifen. Was aber tatsächlich passiert, wenn alle Beteiligten sich einbezogen fühlen, ist, dass der Verlauf der Diskussion viel natürlicher und fruchtbarer ist – niemand hat Hemmungen zuzustimmen, zu widersprechen oder Kritik zu äußern und zur Sache zu kommen. Die Teammitglieder müssen nicht um gewisse Themen herumreden oder den Teamchef und andere einflussreiche Mitglieder der Gruppe mit Samthandschuhen anfassen. Sondern sie wissen, dass ihre Beiträge zur Kenntnis genommen werden – im Unterschied zu solchen Teams, wo nicht alle selbstverständlich miteinbezogen werden. Zudem stellte der Klient fest, dass die integrativen Teams auf Dauer nicht nur die schnelleren, sondern auch die besseren Entscheidungen trafen.

Geraten Führungskräfte in einen Zwiespalt, wenn es darum geht, die eigene Individualität zu bewahren oder sich der Leitkultur des Unternehmens anzupassen? Wie sehen Sie das? In unserer Arbeit mit großen Unternehmen beobachten wir oft zwei völlig verschiedene Ansätze, wie neue Mitarbeiter integriert werden, die sich offensichtlich von der vorherrschenden Kultur im Unternehmen unterscheiden. Beim einen Ansatz wird den neuen Mitarbeitern versichert, dass es einige Zeit braucht, sich einzuarbeiten und einzugliedern – aber es ist klar, dass das Unternehmen Anpassung erwartet. Dem anderen Ansatz zufolge werden die neuen Mitarbeiter von Anfang an ermutigt, ihrer neuen Firma mitzuteilen, wo sie aus ihrer Sicht Defizite und Verbesserungsmöglichkeiten entdecken.

Meine Erfahrung ist, dass man es sich in jeder Organisation verdienen muss, als Individuum behandelt zu werden, indem man zunächst zeigt, dass man effektiv und zuverlässig arbeitet. In den 1950er Jahren entwickelte der Sozialpsychologe Edwin Hollander den Begriff des „idiosyncrasy credit“. Das Grundprinzip dabei ist, dass, wenn man einmal von einer Gruppe akzeptiert worden ist und sich entsprechend einbringt, man auch persönliche Eigenarten oder „Schrullen“ an den Tag legen kann. Wer also eine etwas kantige Persönlichkeit ist, aber wertvolle Beiträge für die Gruppe leistet, kann mit Toleranz rechnen. Wer aber keine entsprechenden Leistungen erbracht hat und lediglich ständig aneckt, der wird von anderen Teammitgliedern höchstwahrscheinlich als störender Einfluss empfunden.

Aber stehen diese charakterlichen Ecken und Kanten nicht mindestens ebenso sehr für Vielfalt wie die ethnische Herkunft, Geschlechterzugehörigkeit oder kulturelle Unterschiede? Könnten sie nicht ein noch zuverlässigerer Indikator für tatsächliche gedankliche Vielfalt sein als zum Beispiel die Balance von ethnischen oder Gender-Unterschieden?

Ich stimme Ihnen zu: Ich habe Teams erlebt, deren Mitglieder auf den ersten Blick sehr unterschiedlich wirkten. Wenn man jedoch länger beobachtet, wie sie jeweils agieren, so wirken sie doch recht einheitlich. Sie stimmen alle dem Teamchef zu, Gruppendenken ist üblich, sie sind sich immer sehr schnell einig. Von den Unternehmen, die in der Rezession in Schwierigkeiten gerieten, war Lehman Brothers interessanterweise nach außen hin das vielfältigste. Hinsichtlich äußerlich erkennbarer Merkmale herrschte dort Vielfalt, das Denken allerdings war konform.

Wie können wir, wie können Unternehmen sicherstellen, dass deutlich vom Mainstream abweichende Persönlichkeiten wahrgenommen werden und willkommen sind?

Erstens muss einfach ein gewisses Maß an Offenheit vorhanden sein, sonst wird alle Individualität glattgebügelt. Man muss aufgeschlossen sein, auf den anderen zugehen und sich fragen, inwiefern dessen besondere Erfahrung, Persönlichkeit oder Herkunft dem Unternehmen zugutekommen können. Und man muss den Antworten aufmerksam zuhören. Meiner Meinung nach sind mehrere Krisenfälle aus jüngster Zeit zumindest teilweise darauf zurückzuführen, dass andere Stimmen nicht gehört wurden. Meine Kollegen und ich haben drei derartige Situationen untersucht: den Zusammenbruch von Lehman Brothers, den Skandal um den Radfahrer Lance Armstrong sowie die Probleme in einer Reihe von Krankenhäusern mit ungewöhnlich hohen Todesraten. In allen drei Fällen fanden wir ein Klima vor, in dem die Mitarbeiter sich nicht trauten, den Mund aufzumachen und auf Missstände hinzuweisen. Auch das ist eine Form von Ausgrenzung. Die Mitarbeiter konnten nicht so handeln, wie sie selbst es für richtig gehalten hätten, und offen sagen: „Hier läuft etwas falsch.“ Die Unternehmensführung geht also ein echtes Risiko ein, wenn es ihr nicht gelingt, Vielfalt in einer sehr tiefgreifenden Form zu implementieren. Deshalb müssen Führungspersönlichkeiten Diversität als eine wirklich positive Eigenschaft hervorheben. Sie müssen eindeutig zu verstehen geben, dass Diversität und Integration nicht nur aus unternehmenspolitischen Gründen wichtig, sondern gut für das Geschäft sind und dass diese Qualitäten noch wirksamer genutzt werden müssen. Mit einer derartigen Organisation werden sich die Mitarbeiter gerne identifizieren; egal wo sie herkommen oder wer sie sind.

Binna Kandola

Als Wirtschaftspsychologe und Mitbegründer von Pearn Kandola berät Binna Kandola seit drei Jahrzehnten Unternehmen und öffentliche Institutionen im Bereich der organisationalen Effizienz. Seine Beratungstätigkeit, seine Forschungsarbeiten und seine Veröffentlichungen haben großen Einfluss auf Organisationen unterschiedlichster Ausrichtung und politische Entscheidungen. Heute gehört Kandola zu den prominentesten Stimmen in Diskussionen über Vielfalt und unbewusste Vorurteile. In seinem Buch The Value of Difference: Eliminating Bias in Organizations geht er davon aus, dass wir zunächst verstehen müssen, was menschliches Verhalten antreibt, um dann in Unternehmen eine stärkere Inklusion erreichen zu können. Zusammen mit seiner Frau Jo Kandola hat er kürzlich das von der Kritik gefeierte Buch The Invention of Difference: The story of gender bias at work verfasst, in dem er nachweist, dass die Ungleichbehandlung der Geschlechter ihren Ursprung nicht in Evolution oder Biologie hat, sondern in sozialen Konstrukten und Gepflogenheiten. Zurzeit ist Kandola an der Leeds University Business School sowie an der Aston University Business School als Gastprofessor tätig und hat sich in zahlreichen Fach- und Regierungsausschüssen zum Thema Chancengleichheit engagiert.

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