Egon Zehnder: Was zeichnet aus Ihrer Sicht eine ideale Führungspersönlichkeit aus?
Erica Ariel Fox: Ihr ist bewusst, dass sie mehr als ihr Unternehmen, ihr Marktsegment und ihre Bilanz verstehen und steuern muss. Außergewöhnliches Führungsvermögen speist sich vielmehr aus dem Interesse, sich selbst zu verstehen und – als Manager und Mensch – lebenslang weiterzuentwickeln. Sie versteht auch, dass die Zeiten, in denen Ergebnisorientierung und exzellente Geschäftszahlen ausreichten, längst vorbei sind. Mitarbeiter, Kunden und Aufsichtsräte wollen Führungspersönlichkeiten, die wirklich wissen, wer sie sind, die echte Beziehungen wertschätzen und in der Lage sind, Sinn und Orientierung zu stiften und andere zu inspirieren.
Das mag für manche eine Überraschung sein, die auf erfolgreiche Karrieren zurückblicken und nun feststellen, dass sich die Welt verändert hat. Früher wurden Top-Manager an Kompetenzen und Ergebnissen gemessen. Strategie, Finanzen, Produktion, Innovation, Marketing und Compliance – das war es, worauf es ankam und worauf die Hochschulen und Business Schools sie im Rahmen einer extrem fachbezogenen Ausbildung vorbereitet haben. Mitunter kümmerten diese sich auch ein wenig um »Soft Skills«, beispielsweise, indem sie Kommunikations- oder Verhandlungskurse anboten. Generell aber fokussierte sich die Vorbereitung für die Arbeitswelt auf die Themen Geschäftsstrategie und Finanztransaktionen. Konkurrenzdenken galt als der Treibstoff für Erfolg.
Im Laufe der Zeit wurden auf diesem Wege in vielerlei Hinsicht bedeutende Werte geschaffen. Heute aber funktioniert dieses Modell nicht mehr. Heute liegt das Augenmerk weit stärker auf den menschlichen Dimensionen von Leadership. Herausragende Führungspersönlichkeiten verbinden klassische Business-Kompetenzen mit menschlichen Qualitäten wie Authentizität und Empathie. Vor allem sind sie neugierig und möchten wissen, was sie antreibt. Der moderne Erfolgstreiber heißt somit Selbst-Reflexion. Und dadurch kommt es zu einer Hebelwirkung, denn eine selbst-reflektierte Führungspersönlichkeit versetzt ihre Organisation in die Lage, einen tiefen Sinn für die eigene Identität zu gewinnen.
Menschen haben heute ein fast existenzielles Bedürfnis nach sinnhaften Orten, einem Gefühl der Sicherheit.
Egon Zehnder: Für viele Spitzenmanager ist das ein ungewohntes Terrain. Was hat uns dorthin gebracht?
Erica Ariel Fox: Das Tempo des Wandels wie auch die Komplexität unserer Welt haben außergewöhnliche Dimensionen erreicht. Unser Leben wird heute von Dingen bestimmt, die vor fünf oder zehn Jahren noch nicht auf unserem Radar waren: Big Data. Soziale Medien. Disruptive Technologien. Durch diese unglaubliche Komplexität und die Geschwindigkeit der Innovation ist ein gutes Stück Stabilität verloren gegangen. Industrien, die für uns selbstverständlich waren, sind untergegangen. Angesichts von Robotik und maschinellem Lernen fragen wir uns, wie die Zukunft der Arbeit aussehen wird. Wir sind umgeben von Entwicklungen wie Kryptowährungen und Künstlicher Intelligenz, die die meisten von uns nicht verstehen, die aber dennoch einen enormen Druck auf unsere Systeme ausüben. Es ist schwer, mit all dem Schritt zu halten. Der Harvard-Erziehungswissenschaftler Robert Kegan hat dieses Phänomen unserer Tage sehr anschaulich in seinem Buch »In Over Our Heads: The Mental Demands of Modern Life« beschrieben.
Früher wandten sich die Menschen in ähnlichen Situationen an die Institutionen, denen sie vertrauten. Heute haben viele Menschen dieses Vertrauen verloren. Regierungen, Medien und den Kirchen schlägt ein ungekanntes Maß an Misstrauen entgegen. Die Polarisierung in der Gesellschaft ist extrem und zerrt an der Textur, die Gemeinschaften und Familien verbindet.
Wie also sind wir an den Punkt gelangt, an dem wir jetzt stehen? Wir befinden uns an der Kreuzung zweier Trends: Auf der einen Seite lassen uns die Größe und Geschwindigkeit des Wandels die Köpfe schwirren. Auf der anderen Seite wissen wir nicht, an wen wir uns wenden sollen, weil wir die Verbindung zu den traditionellen Quellen unserer Stärke und Widerstandskraft verloren haben. Unterm Strich fühlen sich viele Menschen verwirrt, überwältigt, manche sogar überfordert. Weil aber die traditionellen Institutionen keinen Halt mehr bieten, erhoffen sich viele von Unternehmensführern Orientierung. Das ist in der Tat ein jungfräuliches Terrain für Spitzenmanager. Als sie ihre Karriere begannen, erwartete noch niemand, dass sie grundlegende Dinge erklären oder gar Orientierung schaffen müssten. Heute aber wird mehr und mehr von ihnen erwartet, dass sie Haltung zeigen und – quasi als Kollektiv von CEOs – selbst eine Art Institution bilden, die Sinn stiftet, auch über das Geschäft hinaus und in die Gesellschaft hinein! Eine herausragende Führungspersönlichkeit spürt dieses Bedürfnis und macht sich auf den Weg. Und natürlich erzielen die besten Vorstandsvorsitzenden und Unternehmensführer hervorragende Geschäftsergebnisse. Gleichzeitig aber greifen sie die Unsicherheit der Menschen auf und gehen darauf ein.
Es braucht den Mut, sich einzugestehen, wo man wirklich steht. Der Schlüssel liegt in der Erkenntnis, dass das Selbst facettenreich ist.
Egon Zehnder: Sind CEOs auf diese Art der »Selbst-Erkundung« vorbereitet?
Erica Ariel Fox: Mir begegnet immer wieder ein wenig überraschendes Phänomen: Es gibt viele Leistungsträger, die die Leiter des Erfolgs erklimmen und sich dann oben angekommen fragen, ob das jetzt alles gewesen sei. Manche schalten dann auf Autopilot, spulen ihre Routinen ab und verlieren ihr wahres »Ich« aus den Augen. Andere begeben sich auf eine Reise und suchen Antworten auf tiefere, zeitlose Fragen: Worin liegt die Bedeutung meines Schaffens, meines Lebens? Ab diesem Moment führt der Weg nach vorne gleichzeitig auch nach innen. Einige finden ihre Inspiration, Lebensfreude und den Spaß wieder, die ihnen auf dem Weg nach oben verloren gegangen waren. Andere entdecken etwas, das sie bis dato nie gekannt hatten: Eine Leadership, die nicht nur von Kompetenz und Expertise, sondern auch von Nahbarkeit lebt.
Es gibt aber durchaus auch Führungspersönlichkeiten, die sich allein deshalb selbst erkunden, weil sie sich kontinuierlich weiterentwickeln wollen. Gerade an der Spitze ist vielen bewusst, dass es nicht um mehr Wissen oder eine weitere »Toolbox« geht, sondern wirkliche Quantensprünge nur zu erwarten sind, wenn sie eine echte Aufmerksamkeit für ihre Umwelt entwickeln und die besten Seiten von sich einbringen. Diese Qualitäten sind bei uns allen vorhanden. Es sind all jene Elemente, die uns denken, fühlen und Dinge tun lassen. Häufig aber sind sie nicht im Gleichgewicht, einige sind zu stark ausgeprägt, andere werden kaum genutzt.
Wenn ich mich mit führenden Managern treffe, verstehen sie intuitiv den Ansatz, alle Elemente seines Selbst – den praktischen, den analytischen, den emotionalen wie auch den inspirierenden Teil – in sein tägliches Denken und Handeln zu integrieren. Sie realisieren auch, wie sehr sie zentrale Aspekte ihrer Persönlichkeit vernachlässigt haben und wie stark ihnen diese Vernachlässigung im Wege steht. Und sie erkennen ganz klar, wie viel bessere Manager, Eltern, Berater, Ehepartner, Freunde und Kollegen sie sein werden, wenn sie an ihrer eigenen Ganzheitlichkeit arbeiten.
Egon Zehnder: Sie sagen oft, außergewöhnliche Führungspersönlichkeiten managten zuerst sich selbst …
In der Tat, aber hier geht es nicht um Zeit- und Stressmanagement oder die Vereinbarkeit von Familie und Karriere. Was ich meine, ist die Steuerung der eigenen inneren Welt – der eigenen Gedanken, der eigenen Gefühle und des In-Beziehung-Seins mit anderen. Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen der eigenen inneren Welt und unserem Tun samt seinen Konsequenzen. Wenn Spitzenmanagern gewisse Ergebnisse nicht gefallen, tendieren sie dazu, ihre Umgebung verantwortlich zu machen. Sie verstehen nicht, dass solche Ergebnisse ein Resultat ihrer eigenen Handlungen sind und diese Handlungen ihre Haltung widerspiegeln. Die Bereitschaft und Fähigkeit, zu sagen »Meine Einstellung und mein Können haben mich ganz nach oben gebracht, aber jetzt, wo ich an der Spitze stehe, muss ich lernen, über sie zu reflektieren, ja, mich neu zu erfinden« – das verlangt sehr viel Stärke. Aber in ihr liegt der Weg zu wahrer Größe. Ohne Selbst-Reflexion geht es nicht, aber es braucht mehr. Es braucht den Mut, sich einzugestehen, wo man wirklich steht. Der Schlüssel liegt in der Erkenntnis, dass das Selbst facettenreich ist. Diese Erkenntnis, diese Haltung zeichnet diejenigen aus, die ein wirkliches Verlangen haben, sich weiterzuentwickeln.
Egon Zehnder: Mit vier »Persönlichkeitstypen« beschreiben Sie die verschiedenen Facetten des Selbst: Der Träumer, der Denker, der Liebhaber und der Krieger. Was steckt dahinter?
Erica Ariel Fox: Joseph Campbell, ein führender Mythologe, sagte einmal, dass jeder von uns ein »Held mit eintausend Gesichtern« sei. Das klingt für manchen möglicherweise etwas bedrohlich, denn wie soll man mit all diesen verschiedenen Gesichtern klarkommen? Ich beschränke mich auf eine überschaubare Gruppe, die vier »Typen«, mit denen es möglich wird, sich weiterzuentwickeln. Zu ihnen zählen der Träumer, der Denker, der Liebhaber, der Krieger. Das sind universale Größen, und sie stehen in einem engen Zusammenhang mit unserem Alltag, unseren Handlungen und unserer Art und Weise zu führen. Wahrscheinlich bringen sie uns auch ins Stolpern, wenn wir nicht auf sie achtgeben. Da ich viele Unternehmen berate, beschreibe ich diese vier »Typen« gern als ein Führungsteam, das sozusagen von unserer inneren Vorstandsetage aus wirkt: Der CEO ist der Träumer, der voller Kreativität ist und sich von Visionen tragen lässt. Der CFO ist der Denker, der kühl analysiert und sachlich argumentiert. Der CHRO ist der Liebhaber, der ein Gespür für Emotionen und Beziehungen hat. Der COO ist der Krieger, der für Ergebnisse steht und zielgerichtet agiert.
Wenn sich dieses Team an einen Konferenztisch setzt, bringt jeder »Typ« seine Expertise und seine Prioritäten ein. Ist nur ein Stuhl unbesetzt, kommt es womöglich zu Entscheidungen, denen deutlich anzumerken ist, dass gewisse Perspektiven fehlen, die für den Erfolg des Unternehmens sehr wichtig sind. Ohne den CEO mangelt es an der klaren Vision, die für eine innovative Strategie entscheidend ist. Fehlt der Finanzvorstand, trägt das Budget nicht. Fehlt der Personalvorstand, werden nicht die richtigen Leute engagiert, geschweige denn entwickelt. Und sollte der COO nicht anwesend sein, wird nur geredet und nichts auf die Straße gebracht. Ein Unternehmen aber, das seine Chancen nicht ergreift und auf eine ganzheitliche Sichtweise verzichtet, das sich nicht um seine Leute kümmert oder eine schlechte Performance abliefert, gerät früher oder später in Schwierigkeiten. Und genau das gilt auch für Menschen. Begehren, Denken, Fühlen und Tun sind Teil unserer menschlichen Erfahrung. Sie stehen stellvertretend für unser Vermögen, visionär zu sein und eine bessere Zukunft zu antizipieren, Sachlagen nüchtern zu analysieren und Probleme zu lösen, Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen und effektiv zu handeln. Wie sich die vier »Typen« Ausdruck verleihen, ist von Kultur zu Kultur unterschiedlich. Aber die wesentlichen Facetten sind über alle Grenzen hinweg dieselben.
Unsere Welt erfindet sich gerade neu – und wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir uns selbst ebenfalls neu erfinden.
Egon Zehnder: Was entgegnen Sie einem Skeptiker, der behauptet, dass die Selbst-Erkundung eines CEOs keinerlei Einfluss auf seinen Erfolg oder Misserfolg habe?
Erica Ariel Fox: Unsere Welt erfindet sich gerade neu – und wenn wir erfolgreich sein wollen, müssen wir uns selbst ebenfalls neu erfinden. In der heutigen Wirtschaft besteht die große Herausforderung darin, eine Art inneren Weg zu beschreiten, auf dem wir lernen, was Leadership ausmacht. Ich habe das »Winning from Within« genannt. Und das bedeutet, wenn sich die Welt um einen herum verändert, sollte man sich selbst auch verändern. Für mich liegt das auf der Hand: Uber holt die Taxis von den Straßen, Hotels verlieren Tag für Tag Marktanteile an Airbnb, Google könnte bald selbst Autofirmen verdrängen. Was geschieht mit Unternehmen, die es versäumen, innovativ zu sein? Um heute wettbewerbsfähig zu bleiben und zu wachsen, müssen Unternehmen sich von überholten Erwartungshaltungen trennen, ihre Identität weiterentwickeln und bereit sein, sich von neuen Perspektiven auf ihre eigene Marke mitreißen zu lassen. Und dasselbe gilt für uns selbst. Der Kern meiner Tätigkeit besteht darin, mit Top-Managern den Fragen nachzugehen »Wer bin ich?« und »Wer könnte ich werden?«. Um zu neuen Antworten zu kommen, nutzen wir die »Winning from Within«-Methode. Ich rate CEOs, das Prinzip zu verinnerlichen, nach dem kein Unternehmen seine Marktführerschaft behaupten kann, ohne sich neu zu erfinden. Und Gleiches gilt für Führungspersönlichkeiten. Wer sich ausschließlich an den Erfahrungen aus der Vergangenheit orientiert, wird früher oder später scheitern.
Jeder von uns hat ein inneres Gerüst, eine innere Struktur, eine persönliche Geschichte, ja, einen Mythos, der etwas über uns selbst sagt. Wenn wir einflussreiche Rollen ausüben, entwickelt sich daraus ein persönliches Führungsparadigma. Wer sich neu erfindet, ersetzt alte Mythen, die ihren Zweck erfüllt haben, durch eine neue, umfassendere und ganzheitliche Geschichte von sich selbst. Und das stärkt das innere Gerüst, das es braucht, um in einer veränderten Umwelt neue Wege zu gehen. Bei meiner Arbeit mit Spitzenmanagern habe ich eines immer wieder erlebt: Das Verständnis dafür, wer man ist – und hier spreche ich von den offensichtlichen wie den verborgenen Facetten –, bildet die Substanz für das kraftvolle innere Gerüst, das Menschen mit Führungsverantwortung agieren lässt, während sie gleichzeitig neue Aspekte ihrer Persönlichkeit zum Tragen kommen lassen.
Wenn wir den Weg der Erneuerung nicht gehen, sehen wir lediglich, was wir zu sehen erwarten, denken, was wir zu denken erwarten, fühlen, was wir zu fühlen erwarten und tun das, was wir schon immer getan haben. Wenn wir an vergangenen Erfahrungen und Erwartungen festhalten, setzen wir uns unserer eigenen Zerbrechlichkeit aus und scheitern. In Zeiten des massiven Wandels brauchen wir Spitzenmanager, die der viel beschworenen Komplexität und den neuen Möglichkeiten mit der vollen Komplexität und den neuen Möglichkeiten ihrer Persönlichkeit begegnen. Das ist Disruption und Neuerfindung »von innen«. Und das führt uns in die Zukunft.
Das Interview mit Erica Ariel Fox fand im KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst in Berlin-Neukölln statt.
Egon Zehnder: Sie beschreiben Führungspersönlichkeiten als »Reisende«. Was ist damit gemeint?
»Reise« ist ein zeitloses Motiv für die Selbst-Erkundung der eigenen Persönlichkeit in ihrer Ganzheitlichkeit, mit all ihren Potenzialen – als Mensch wie auch als Manager. Als Reisende bewegen wir uns in einer paradoxen Situation: Wir brauchen Kühnheit und gleichzeitig Demut, wir brauchen den Willen zum Weiterziehen genauso wie den zum Verweilen. Wir handeln mit Nachdruck, gleichzeitig braucht es aber auch die Geduld, Dinge reifen zu lassen. Der Reisende in uns hält uns in Bewegung und lässt uns nach Rückschlägen wieder aufstehen.
Wir passen uns immer wieder neuen Begebenheiten an, stellen uns auf wechselnde Situationen ein. Der Reisende in uns lernt von Erfolgen und Fehlern. »Reisen bildet« – eine Aussage wie diese finden Sie fast überall auf der Welt. Wir entwickeln uns dabei weiter, äußerlich und innerlich. Reisen liegt auch in unserer Natur. Reiseberichte zeugen von Helden, die ihre Heimat verlassen und aufbrechen.
Dabei wird immer wieder von Menschen berichtet, die an entlegensten Plätzen nach etwas suchen, das sie am Ende genau dort entdecken, wo sie sich bereits befinden. So wie Dorothy in »Der Zauberer von Oz«, die nur dreimal mit ihren Absätzen klicken muss, um nach Hause zurückzukehren. Was wir brauchen, ist in dem Moment verfügbar, in dem wir es erkennen. Es mag hart klingen, aber genau das ist die Einladung, die der Reisende in uns ausspricht: Es ist Dein Leben.
Führst Du ein gutes Leben, verstehst Du, nachhaltig zu führen, und bist Du gleichzeitig ehrlich mit Dir selbst? Das kann jeder von uns nur selbst entscheiden. So wie Charles Dickens’ David Copperfield schreibt: »Ob ich mich als der Held meines Lebens erweise oder dieser Platz von jemand anderem eingenommen wird, müssen diese Seiten zeigen.« Der Reisende steht also für die Vorstellung, dass jeder von uns Alternativen hat und letztendlich sein eigenes Leben erschafft.
Egon Zehnder: Sie haben häufig darüber gesprochen, wie wichtig Purpose für Spitzenmanager ist. Was bedeutet das für Unternehmenslenker?
Erica Ariel Fox: Es ist ein Unterschied wie Tag und Nacht, wenn Sie Unternehmenslenkern begegnen, die aus der Perspektive dieser so wichtigen Sinn-Frage agieren. In den Organisationen dieser CEOs heißt es nicht mehr »Ich weiß, was ich heute zu tun habe«, sondern »Ich weiß, welchen Unterschied wir machen.« Sinn zu vermitteln bedeutet, Menschen zu mobilisieren und in ihnen etwas wachzurufen, das dazu führt, dass sie sich reinhängen und echte Herausforderungen angehen, bis sie gemeistert sind. Viele Ingenieure oder Wissenschaftler verbringen Jahre damit, dasselbe Problem zu lösen. Nach einiger Zeit mögen sie zum Schluss kommen, dass sich eine Lösung ohnehin nicht finden lässt. Handelt es sich um einen Job, läge es nahe, aufzugeben. Aber wenn es eine Mission ist – Leben zu retten, bahnbrechende Lösungen zu finden –, dann ist man von einem Sinn beseelt, der einen nicht ruhen lässt. Resilienz entsteht, wenn man seinen Sinn gefunden hat. Und das führt mich zu einer anderen Erkenntnis, die enorm hilfreich sein kann. Dies ist nicht Ihre Reise als Vorstandsvorsitzender. Dies ist die Reise Ihres Lebens. Das ist so viel mehr. Natürlich geht es auch um die Führung einer Organisation, aber, um es ganz deutlich zu sagen, es geht vielmehr um die Frage: Was bleibt von mir? Was hinterlasse ich? Was werden andere über mich sagen, wenn ich gegangen bin? Dass ich CEO war, gehört sicherlich dazu, aber das sagt nur wenig über die volle Bandbreite meines Lebens.
Egon Zehnder: Klienten fragen uns oft: Können Menschen sich wirklich ändern?
Erica Ariel Fox: Ein klares Ja! Sie können es. In jedem Alter, in jeder Lebensphase. Und die gute Nachricht ist, dass Neurologen jetzt bestätigen, was Sozialwissenschaftler uns schon lange erzählen: Neuroplastizität bedeutet, dass unser Hirn sich im Laufe unseres gesamten Lebens verändert. Selbst wenn Sie also eine rein wissenschaftliche Antwort haben wollen, basierend auf nüchternen Forschungsergebnissen: Ja, Menschen können sich tatsächlich verändern. Ich habe das tausendmal beobachtet. Alles, was ich mit 25 Jahren Erfahrung und nach drei Jahrzehnten Forschung sagen kann, ist: ja, ja und nochmals ja.
Egon Zehnder: Frau Fox, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Erica Ariel Fox setzt in der Führungskräfteentwicklung neue Maßstäbe.
Sie ist Autorin des New York Times Bestsellers »Winning from Within«, der in zehn Sprachen veröffentlicht wurde. Über ihren methodischen Ansatz und ihre Erfahrungen berichtet sie im Harvard Business Review, in Forbes und auf LinkedIn. Erica Ariel Fox unterrichtet Negotiation an der Harvard Law School und berät, zusammen mit ihren Partnern von Mobius Executive Leadership, CEOs und Führungsteams auf der ganzen Welt.
Egon Zehnder und Mobius Executive Leadership
CEOs und Spitzenmanager erkennen in zunehmendem Maße, dass ihre Weiterentwicklung – in professioneller Hinsicht und als Persönlichkeit – über Erfolg oder Misserfolg der ihnen anvertrauten Organisationen entscheiden kann. Für sie ist Selbst-Reflexion in unvorhersehbaren wie chancenreichen Zeiten unverzichtbar geworden. Egon Zehnder begleitet Top-Manager auf diesem Weg. Doch die meisten Unternehmensverantwortlichen erreicht, an der Spitze angekommen, nur selten ehrliches Feedback. Der Nachholbedarf auf diesem Feld ist immens. In Kooperation mit Mobius Executive Leadership bietet Egon Zehnder Programme zur Führungskräfteentwicklung an, die auf amtierende und zukünftige CEOs sowie Führungsteams zugeschnitten sind.
Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Freunde von Freunden / FvF Productions