Wer nicht mit einer festgelegten Nationalität oder einem bestimmten Pass geboren wurde, ist gezwungen, Selbstbild und Heimatort bewusst zu wählen – Optionen, mit denen sich frühere Generationen nicht so oft konfrontiert sahen.
Eine Stelle in Graham Greenes zeitlosem Roman „Der stille Amerikaner“ hat mir schon immer besonders gefallen: Die Hauptfigur, der Engländer Thomas Fowler, erzählt einem französischen Freund in Saigon, er sei zum Hauptsitz seines Arbeitgebers zurückberufen worden. „In die Heimat?“, fragt der Franzose. „Nein“, sagt Fowler. „Nach England.“
Ich hätte es nicht besser ausdrücken können. Ein Engländer kann England durchaus als das Gegenteil von Heimat ansehen und sich im exotischen, verführerischen Vietnam zuhause fühlen, mit dem ihn keine amtliche Beziehung verbindet. Eine typische Europäerin jüngeren Alters kann heute so viele Orte als Heimat ansehen, dass der Begriff eine ganze Palette von Regionen umfasst: das Heimatland ihrer Eltern, die Kultur, für die ihr Partner steht, die Stadt, in der sie zur Schule gegangen ist – bis hin zu der Stadt, die sie eines Tages unbedingt einmal besuchen will. So mancher von uns ist mit einem derartig fließenden und ortsungebundenen Heimatgefühl aufgewachsen, dass wir uns nun am meisten zuhause fühlen, wenn wir die Orte, die uns etwas bedeuten, mischen und aneinander anpassen oder wenn wir in einer Großstadt leben, die unsere Heimatbezüge zusammenbringt.
Viele Heimaten
Letzten Sommer beispielsweise kehrte ich nach England zurück, wo ich geboren wurde und bis zum Alter von 21 Jahren überwiegend lebte. Doch nun sah ich meine Heimatstadt Oxford zum Teil mit den Augen meiner japanischen Frau, und ohnedies hatte mich (aufgrund meines indischen Aussehens) nie jemand für einen typischen Engländer gehalten. Dann reiste ich wieder heim nach Santa Barbara in Kalifornien, wo seit beinahe 50 Jahren auch meine Mutter wohnt, die Saris trägt und in Britisch-Indien aufgewachsen ist. Anschließend machte ich mich auf den Weg nach Japan, dem Land, in dem ich mich wirklich zuhause fühle, obwohl ich 27 Jahre lang immer nur mit einem Touristenvisum dort war, niemals japanische Kleidung trage und Japanisch spreche wie ein Dreijähriger. Meine wahre Heimat, denke ich manchmal, ist ein Flughafen oder eine dieser modernen Städte – Melbourne, Singapur, Vancouver –, wo die meisten Menschen in meinem Umfeld „Heimat“ niemals abschließend beschreiben können.
So ist der Lauf der Welt, blitzschnell. Heute leben mehr als 230 Millionen Menschen nicht in den Ländern, in denen sie geboren sind – mit anderen Worten: Es gibt vier Mal so viele mehrfach beheimatete Menschen wie Einwohner in Australien und Kanada zusammen. Und die Zahl steigt rasant. Der durchschnittliche Passant auf den Straßen Torontos ist, was man herkömmlich als „Ausländer“ bezeichnet hat, also jemand, der in einem anderen Land geboren wurde. Sehr viele dieser Menschen, die sich auf den Weg gemacht haben, sind natürlich Exilanten, die ihre Heimatländer nie verlassen wollten und sich danach sehnen zurückzukehren. Aber für die vom Glück Begünstigten unter uns bietet dieses Dasein Möglichkeiten, die unsere Großeltern nicht kannten.
Geht man ins Kino, erlebt man eine Schauspielerin, die Dänin ist und Mexikanerin und Französisch-Kanadierin und daher durch und durch amerikanisch (Jessica Alba). Im Fernsehen sieht man den berühmtesten Golfer der Welt, dessen Herkunft so gemischt ist – Thai und Chinese und African-American und möglicherweise noch viel mehr –, dass er bei dem Versuch, seine Nationalität zu beschreiben, Wörter wie „Cablinasian“ erfunden hat; die meisten von uns kennen ihn allerdings unter dem Namen „Tiger“. Blickt man ins Weiße Haus, sieht man einen Halbkenianer, der zum Teil in Indonesien aufwuchs, dessen Schwester Buddhistin und dessen Schwager chinesisch-kanadischer Abstammung ist und dessen erstes Buch eine so wohlüberlegte und leidenschaftlich ehrliche Betrachtung veränderlicher Identitäten war, wie man sie sich nur denken kann.
Für diejenigen, die in diese vermischte Kreuzundquerwelt hineingeboren wurden, verändert sich alles rasant. Als Junge in Oxford habe ich nie ein anderes Kind mit dunkler Hautfarbe gesehen, und als meine Eltern und ich nach Kalifornien umzogen, dauerte es Jahre, bis wir als Einwanderer aus Indien kein Novum mehr waren. Als ich die Hochschule besuchte, galt die größte Stadt Kanadas immer noch als das „graue Toronto“, weil es so homogen und weit entfernt von jeder Vielfalt schien. Die Norm war das Leben, das meine Großeltern gekannt hatten, mit festen Wohnungen, Identitäten und Kasten, in die man hineingeboren wurde und aus denen kaum zu entkommen war. Heimat war weniger ein selbstgewählter Partner als eine Herkunft, die man erbte.
Die Erosion all der Abgrenzungen früherer Tage sorgt für ungezählte neue Herausforderungen: So manche junge Frau – sagen wir Halbkoreanerin und Halbkanadierin, die Spanisch studiert und gerade ein Auslandssemester in Hanoi verbringt – weiß nicht, was sie antworten soll, wenn sie nach ihrer Herkunft gefragt wird. Durch die Geburt keine festgelegte Nationalität oder einen bestimmten Pass zu erhalten, zwingt zur bewussten Selbstdefinition und der Entscheidung, wo man die eigene Zugehörigkeit sieht – eine Wahl, vor die sich frühere Generationen nicht so häufig gestellt sahen.
Doch nach meiner Einschätzung gehört eine solche junge Frau zu einem schnell wachsenden Stamm, der eine im Fluss begriffene eigenständige Gemeinschaft bildet. Ein halb thailändischer, halb deutscher junger Mann wird sich sofort mit ihr verbunden fühlen, und sei es nur, weil sie sich die gleichen Fragen stellen und den gleichen integrativen Heimatbegriff teilen. Und aus ihrer Verbindung werden ganz neue Verquickungen entstehen: Die federführenden jungen amerikanischen Schriftsteller haben heute meist Namen (von Chimamanda Ngozi Adichie bis zu Edwidge Danticat), die junge Amerikaner nicht aussprechen können. Für sie alle ist Heimat ein kontinuierlicher Schaffensprozess; ein Kaleidoskop in ständiger Bewegung.
Wer wir sind und sein wollen
Immer mehr von uns, so vermute ich, identifizieren sich weniger über Pässe als über Leidenschaften; und uns über Werte und Interessen zu definieren, erlaubt uns, die Grenzen ein wenig zu überschreiten, die uns Staats- und andere Gruppenzugehörigkeiten auferlegen. Ich habe oft das Gefühl, mehr mit jemandem gemeinsam zu haben, der thailändisches Essen mag oder sich in Transitzonen daheim fühlt, als mit irgendwem, der zufällig denselben Geburtsort oder Pass besitzt. Wenn Sie mich fragen, wer ich bin, fange ich vermutlich viel eher an, über meine Frau zu sprechen und über mein Lieblingsbuch als über meine Staatsangehörigkeit. Für mich ist das Woher-komme-ich viel weniger bedeutend als das Wohin-gehe-ich.
Viele Menschen in unserer Umgebung sind natürlich noch tief verwurzelt; sie wohnen vielleicht im Haus ihrer Kindheit und fühlen sich eng verbunden mit ihren Vorfahren. Doch auch sie müssen sehr wahrscheinlich neu über Identität und Heimat nachdenken, wenn die ganze Welt in ihrer Nachbarschaft Einzug hält. Und wenn sie in einer modernen Stadt wohnen, sind sie vermutlich von mexikanischen Restaurants und indischen Yoga-Lehrern umgeben. Nichts bleibt unverändert in unserer schnelllebigen Zeit; selbst wenn Sie sich nicht vom Fleck bewegen, ist die Welt um Sie herum ständig in Bewegung.
Das wirft Fragen auf, mit denen sich der Mensch nie zuvor so intensiv auseinandersetzen musste; und es wirft Probleme auf. Mein Eindruck ist, nachdem ich 40 Jahre kreuz und quer um den Globus unterwegs war, dass unser Gefühl für Verschiedenheit nicht verschwindet. Auch wenn wir andere Menschen jetzt nicht mehr so häufig aufgrund ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder ihrer Religion diskriminieren, so behandeln wir sie doch unterschiedlich, je nachdem, ob sie jung oder alt sind, blond oder dunkelhaarig, aus North Dakota oder Beverly Hills. Keineswegs nämlich ist der Tribalismus als solcher verschwunden – er nimmt lediglich andere Formen an.
Ich gehöre allerdings zu den Menschen, die sich über die Möglichkeiten freuen wollen, die meine Großeltern nicht gekannt haben: an einem Ort zu leben, der mir das Gefühl einer verborgenen Heimat gibt, mich außerhalb meiner Herkunft zu definieren und Annäherungen zwischen Kulturen zu genießen. In meiner Schule in der Nähe von London waren wir 1.250 Schüler, alles Jungen. 1.230 waren weiße, angelsächsische Protestanten aus derselben eng umgrenzten Gesellschaftsschicht; die wenigen jüdischen und katholischen Jungen fielen auf. Wenn ich dieser Schule heutzutage einen Besuch abstatte, scheinen mir die meisten Gesichter chinesisch, koreanisch und russisch zu sein oder eine der ungezählten Kombinationen. Die Schulklassen scheinen belebter zu sein, angefüllt mit mehr Potenzialen als jemals zuvor.
Also war ich begeistert davon, diesen Sommer „in die Heimat“ nach England zu gehen – und nach Japan und nach Südkalifornien. All diese Orte sind für mich interessant, weil ein wenig fremdartig. Es ist wunderbar, ein vollkommen sicheres Heimatgefühl zu haben, wie die meisten von uns, wenn sie nach ihrem Glauben, ihren Nächsten und selbst nach ihrem Wohnort gefragt werden; aber das Leben zwingt uns manchmal zur Anpassungsfähigkeit. So erging es mir, als mein Haus in Santa Barbara von einem Waldbrand zerstört wurde und ich plötzlich meinen gesamten irdischen Besitz verlor.
Wenn mich am nächsten Morgen beim Aufwachen jemand gefragt hätte: „Wo sind Sie zuhause?“, hätte ich auf kein Gebäude deuten können. Heimat musste also in meinen Neigungen und Beziehungen und Überzeugungen liegen. Nachdem mir ein eindeutiges, sichtbares Zuhause fehlte, musste ich – wie so viele von uns – neue Wege finden, um mir überall dort eine Heimat zu schaffen, wo ich zufällig gerade war.
Pico Iyer
wurde 1957 als Sohn indischer Eltern im englischen Oxford geboren und wuchs in England und Kalifornien auf. Nach seinem Studium in Oxford und Harvard begann er, als Kolumnist und Kritiker für das Time Magazine zu schreiben. Seit vielen Jahren verfasst er Essays, Reportagen und Kritiken für verschiedene internationale Zeitungen. Seine acht bislang erschienenen Bücher verbinden die Erfahrungen des Globetrotters und umfassende Bildung mit feinsinnigem Humor und einer sensiblen Aufnahmebereitschaft für das Fremde.
FOTO: SCOTT LONDON