Karsten Ottenberg, CEO von Giesecke & Devrient, und der Intendant des Münchner Volkstheaters, Christian Stückl, über Passion und Professionalität, Stallgeruch und das Aroma der globalen Arena
Sind Shakespeare und SIM-Karte nur zwei Seiten einer Münze, und wie heißt die Währung, mit der bezahlt wird, wenn es darum geht, sich als Player auf den Weltmärkten im Spiel zu halten? Wie findet man einfache Lösungen in einer komplizierten Welt, deren Veränderungsdruck in immer rasanterer Geschwindigkeit daherkommt? Wie können wir uns heute schon darauf vorbereiten, auch morgen noch zu überleben? In welcher Rollenbesetzung kommt Kreativität zur Explosion? Wie kommt der Mensch in den Mittelpunkt, und wie kann er sich dann doch als Teil des Teams zurücknehmen? Wie unterschiedlich müssen wir sein, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen? Und wie schließlich finden die antagonistischen Kräfte zu einer harmonischen Gesamtsituation? Ein leidenschaftlicher Dialog zwischen Karsten Ottenberg und Christian Stückl.
Karsten Ottenberg: Sie haben das Münchner Volkstheater in einen Ort des Erfolgs verwandelt. Ihre eigensinnigen Inszenierungen finden im breiten Spektrum zwischen Avantgarde und Populärkultur statt. Wie machen Sie das, Individualität und Masse unter einen Hut zu bekommen?
Christian Stückl: Meine Art, Theater zu machen, ist ganz und gar geprägt von Oberammergau. Ich bin dort in einem Wirtshaus aufgewachsen und habe schon von klein auf Vater und Großvater über das Passionsspiel diskutieren hören. Als Kind holte ich mir immer ein Kostüm und stellte mich hartnäckig in jede Szene; dafür habe ich schon mal eine gelangt gekriegt.
Ottenberg: Ausdauer und Resilienz sind also mit im Spiel.
Stückl: Ich hab sehr früh gespürt, dass meine Bestimmung im Theatermachen liegt. Als ich 15 war, gab es den Versuch, ein neues Passionsspiel auf die Beine zu stellen – da erkor ich mich selbst zum Regieassistenten. Mir war damals schon klar: Ich will kein Jesus werden. Ich will Chef sein – Spielleiter, Regisseur.
Ottenberg: Lief das so selbstverständlich, wie Sie sich das vorstellten?
Stückl: All meine Vorgänger im Amt des Spielleiters waren Bildhauer. Klar hielt ich es da für logisch, auch Bildhauerei zu studieren. Das war ein Trugschluss, und ich musste mir bald eingestehen: Das ist es nicht. Mit 24 bewarb ich mich dann als Passionsspielleiter in Oberammergau und bin es tatsächlich geworden; der jüngste, den es je gab.
Ottenberg: Ist es nicht unendlich mühsamer, mit Laienschauspielern zu arbeiten anstatt mit Profis?
„Ich hatte nie Angst vor einer großen Menge.“ — Christian Stückl
Stückl: Ich habe nie darüber nachgedacht, ob das Laien sind oder Berufsschauspieler, mit denen ich inszeniere. Dazu kam, dass ich nie Angst hatte vor einer großen Menge. Ein Glück, denn das Passionsspiel hat Szenen mit 700, 800, 900 Leuten auf der Bühne.
Ottenberg: Erlitten Sie dann einen Kulturschock, als Sie später Regieassistent an den Münchner Kammerspielen wurden?
Stückl: Dass die Arbeit mit einem Laien eine völlig andere ist als die mit einem Berufsschauspieler, habe ich erst im Nachhinein gemerkt. Während ein Profi anbietet, muss man den Laien aus der Reserve locken. Das ist schon ein gewaltiger Unterschied. In einem Unternehmen hingegen arbeiten nur Profis, so denkt man sich das zumindest.
Ottenberg: Die Vielfalt liegt bei uns, im Menschen selbst. So verschieden jeder Einzelne ist, so unterschiedlich geht auch jeder an die Aufgaben heran. Um die zu bewältigen, braucht es einen Kompetenz-Cocktail. Stellen Sie sich nur einmal vor, in einem Team von sechs Personen zum Beispiel wären alle gleich gepolt.
Stückl: Das kann und darf nicht sein!
Ottenberg: Ob Alter, Nationalität, Geschlecht, Können, Sozialkompetenz – um was auch immer es geht, wir brauchen Individualität. Die Frage ist nur: Wie viel ergibt die perfekte Mischung?
Stückl: Eines ist gewiss, kein Metier kommt ohne die Kreativen aus.
Ottenberg: Natürlich kommt kein Team ohne sie aus. Wichtig sind aber genauso die Umsetzer, die die Dinge zu Ende bringen; es braucht auch ein Gespür für die Gruppe als solche genauso wie für die interkulturelle Vielfalt, der wir in den weltweiten Märkten begegnen.
Das Überleben eines Unternehmens hängt davon ab, wie es mit den dramatischen Veränderungen der ökonomischen Umwelt zurande kommt und sein Geschäft in einer globalen Welt mit globalen, regionalen und lokalen Märkten ständig neu definiert. Deshalb ist interkulturelle Vielfalt für uns festgeschrieben wie in einem Drehbuch.
Stückl: Ob Frau oder Mann, das ist im Theater erst einmal ganz egal, auf der Bühne brauchen wir beide. Wenn uns ein Schauspieler verlässt, wird er ersetzt. Geht eine Schauspielerin, so holen wir eine neue. Im Gegensatz zu manchem Wirtschaftsbetrieb haben wir da überhaupt keine Schwierigkeiten. Viel spannender finde ich individuelle Initiativen. Vor zwei Jahren zum Beispiel kam ein türkischer Jugendlicher zu mir und sagte: „Ich habe dich beim Theatermachen beobachtet. Ich will das auch machen.“ Und mittlerweile arbeitet er tatsächlich bei uns als Regisseur.
Ottenberg: Wir leben Vielfalt nicht als Selbstzweck, sondern als Teil einer Unternehmensstrategie.
Stückl: Steht denn die Fachkompetenz nicht an oberster Stelle?
Ottenberg: Auch die verändert sich ständig. Wenn wir neue Geschäftsfelder erschließen, brauchen wir Mitarbeiter mit ganz neuen Qualifikationen, zusätzlich zu denen, die unsere traditionellen Produkte entwickeln, herstellen und verkaufen. Die Herausforderung für die Unternehmensführung liegt darin, ein Drehbuch zu schreiben und dann alle Rollen optimal zu besetzen.
Stückl: Kommt darin auch die Rolle des Querdenkers vor?
„Dass jemand wie im Theaterstück die Narrenkappe aufhat und ständig querfunkt, ist für ein Team kein dauerhaftes Modell.“ — Dr. Karsten Ottenberg
Ottenberg: An den richtigen Stellen zum richtigen Zeitpunkt sind Querdenker wichtig. Dass aber jemand wie im Theaterstück die Narrenkappe aufhat und ständig querfunkt, ist für ein Team kein dauerhaftes Modell. Wie stellen Sie Ihr Ensemble zusammen?
Stückl: Ich sauge alle nur erreichbaren Impulse auf. Zum Beispiel fahre ich jedes Jahr über Land und halte in den Schauspielschulen Ausschau nach den besten Schülern und Studenten. Der erste Anreiz muss sein, dass es mich reizt, mit jemandem zu diskutieren. Unsere Arbeit bringt uns nur weiter, wenn man sich auseinandersetzt. Ich hole mir auch nur solche Regisseure dazu, die etwas machen, was ich nicht kann.
Ottenberg: Daran könnten sich Führungskräfte durchaus ein Beispiel nehmen.
Stückl: Gerade habe ich einen, der bringt so viel Eigensinn mit, dass es manchmal unerträglich ist für das Haus; er denkt so schräg und bringt alles durcheinander. Ich muss ununterbrochen Sitzungen abhalten und alle beruhigen, weil der das ganze Haus unter Wasser setzt. Ich liebe seine Art zu arbeiten, und trotzdem gilt bei uns am Theater wie auch in jedem anderen Betrieb: Ich bin der Chef und muss alle auf Linie halten und aufpassen, dass er mir nicht alles sprengt.
Ottenberg: Sobald Sie etwas ganz Neues machen wollen, müssen Sie solche Freiräume schaffen. Wir haben das getan, als wir zum Beispiel vor sechs Jahren den Fuß in die Handywelt setzten. Da kam eine ganz neue Smartphone-Technologie mit einer viel komplexeren Anwendungswelt, und plötzlich entstanden völlig neue Märkte, die die alten auch infrage stellten.
Stückl: Und dann scheint plötzlich alles möglich?
Ottenberg: Diesen Erneuerungsprozess schaffen sie nicht aus dem eigenen Saft heraus. Das braucht neue Leute, die alles durcheinanderwirbeln. Am Ende muss aber aus dem Chaos, das man bewusst angezettelt hat, wieder eine geordnete Einheit entstehen. Deshalb gilt gerade in Zeiten dramatischer Veränderung, dass die wichtigen Positionen richtig besetzt sein müssen. Da zeigt sich dann, ob man ein gutes Händchen hatte.
Stückl: Für meine Entscheidungen ist der erste Eindruck ausschlaggebend. Manchmal kommt ein Schauspieler zur Tür herein und ich spüre sofort eine Ausstrahlung, wie ich sie haben will. Trotzdem mache ich es mir zum Prinzip, nicht allein zu engagieren. Ich ziehe meine Dramaturgen hinzu und beobachte dann, wie die reagieren.
Ottenberg: Vertrauen Sie Ihrem Instinkt nicht?
Stückl: Du bist immer in der Gefahr, dass du dich in irgendetwas verguckst, auf das die anderen gar nicht ansprechen. Ich hole meine Regisseure von außen, und die müssen dann mit meinen Leuten umgehen. Da macht es mir total Spaß zu sehen, wie meine Leute schwitzen, weil sie mit dieser oder jener Art, Regie zu führen, erst einmal gar nichts anfangen können. Ich sage dann: Setzt euch dem aus, das bringt euch weiter. Eine derartige Herausforderung kann ich nur eingehen, weil ich um den inneren Zusammenhalt des Teams weiß. Wenn es aber intern schon bröselt und du bringst einen Querschläger rein, haust du das ganze Gefüge auseinander.
„Als Chef bist du immer in der Gefahr, dass du dich in irgendetwas verguckst, auf das die anderen gar nicht ansprechen.“ — Christian Stückl
Ottenberg: Wichtig ist der Rahmen, den sie vorgeben, und das Signal: „Das ist das Ziel.“ Genau das muss auch ein Unternehmen samt seiner Führung ausstrahlen. Wenn sie ständig erklären müssen, wofür sie stehen und warum sie etwas so und so wollen, sind sie in der Komplexität der Führungsaufgabe schon verloren.
Stückl: Dieser Rahmen darf aber nicht allzu fest zementiert sein. Man muss die eigene Komfortzone verlassen, selbst auf die Gefahr hin, dass alles ganz schön mühsam werden kann.
Ottenberg: Ein Unternehmen braucht einen klaren Verhaltenskodex und Werte, wie man im Team miteinander umgeht. Bei uns steht Vertrauen an oberster Stelle. Firmen haben unterschiedliche Kulturen. Nehmen Sie zum Beispiel Intel, dort gilt eine starke Konfrontationskultur. Wenn man diesen Prozess richtig managt, kann das erfolgreich sein. Das lässt sich aber nicht beliebig übertragen.
Stückl: Kommen Sie gelegentlich an Ihre Grenzen, Widersprüche auszuhalten?
Ottenberg: Es gibt immer wieder Widerspruch, der an die Substanz geht. Dann fragt man sich: Bringt uns das weiter? Trotzdem gilt letztendlich: „Disagree und execute“ – dieses Prinzip muss funktionieren.
Stückl: Sie benutzen oft das Wort „funktionieren“. Ich muss meine Schauspieler eigentlich ununterbrochen dazu bringen, über sich selbst hinauszuwachsen. Damit kommt man automatisch an die Verletzlichkeit eines Menschen. Wenn du ihn aber immer drängst, dann macht er natürlich zu.
Ottenberg: Druck motiviert bekanntlich niemanden dauerhaft.
Stückl: Und doch ist Druck immer mit im Spiel. Sie haben für Ihr Unternehmen ein klares Ziel, das Sie erreichen wollen, und wir am Theater brauchen einen vollen Zuschauerraum. Wir starten alle sechs Wochen mit einem neuen Stück, und jedes Mal soll etwas Außergewöhnliches passieren.
Ottenberg: Die richtige Mischung zu finden ist existenziell im Ringen um Widerspruchskultur. Wir haben zum Beispiel einen neuen Geschäftsbereich gegründet, „New Business“. Er hat seine eigenen Ressourcen und seinen eigenen Auftrag bekommen, neue Geschäftsfelder zu entwickeln, auch im Konflikt mit den alten. Dieser kleine Bereich musste direkt dem Regisseur unterstellt werden. Warum? Weil er Welpenschutz braucht, sonst hätten ihn die Großtanker einfach überfahren.
Stückl: Es ist nicht immer so dramatisch. Manchmal geht es nur darum, die Spielfreude herauszukitzeln, damit jemand über sich selbst hinauswächst. Ich sage dann meinem Schauspieler: „Du benimmst dich, als ob du einen Bach vor dir hast und drüberspringen willst. Aber dann nimmst du doch die Steine und gehst über die. Der Nervenkitzel passiert aber nur, wenn du Mut zeigst, dich traust und wirklich springst.“ Das ist unser Ziel, dieses permanente „Über-etwas-Drüberspringen“.
Ottenberg: In jedem einzelnen Stück die letzten Dinge herauszufordern ist bei Ihnen präsenter. Uns geht es darum, Talente aufzuspüren. Am Standort Deutschland fehlen zunehmend die Fachkräfte mit genau den Qualifikationen, die wir brauchen. Ingenieure sind das bekannteste Beispiel, das Problem wird aber breiter werden. Wir nehmen jetzt Ingenieure aus Spanien, weil es für junge Menschen dort sehr schwierig wird, Anschluss im Beruf zu finden, auch für Hochqualifizierte. Dann stellt sich die Frage: Haben die Lust, zu uns zu kommen? Oder produzieren wir vor Ort? Das sind grundlegende Entscheidungen.
Stückl: In unserer Branche ist es genau andersherum. Es werden viel zu viele Schauspieler ausgebildet; vor allen Dingen Frauen, das ist der schiere Wahnsinn! Bei den Regisseuren gibt es heute eine Ausbildung – die mir auch sehr wichtig erscheint –, doch oft frage ich mich, ob die Auswahlkriterien die richtigen sind. An einigen Regieschulen wird das Abitur verlangt. Ich finde dies genauso unsinnig wie bei einem Priester. Fantasie und Kreativität muss man an anderen Dingen messen.
Ottenberg: Für Sie sind das Berufe aus Berufung?
Stückl: Ja. Jetzt geht man damit fast um wie in der Wirtschaft, mit Fragen wie: Soll einer Stadttheater-kompatibel ausgebildet werden oder als Künstler? Ein Regisseur muss doch beides können, auf seine ganz eigene Art Geschichten erzählen und die Menschen damit erreichen. Heute sitzen junge Schauspieler am Tisch und sagen: „Ich war auf der Otto Falckenberg Schule.“ Oder: „Ich war an der Ernst-Busch-Schule. Ich habe ein Diplom. Ich bin Diplomschauspieler.“ Und bei der ersten Szene, die mir dann so einer auf der Bühne spielt, versagt er. Im Theater brauchen wir kein Diplom, wir brauchen Leidenschaft und Fantasie.
Ottenberg: Im Gegensatz dazu werden in der Wirtschaft die jungen Hoffnungsträger ziemlich hofiert.
Stückl: Bei mir auch. Ich habe das Theater so aufgebaut, dass wir mit „Radikal jung“ zum Beispiel versuchen, Sprungbrett für viele zu sein. Wir entdecken da immer wieder das eine oder andere Talent. Einige von denen, die es auf die Filmleinwand schaffen, waren vorher bei mir. Ich glaube, das gelingt auch deshalb, weil ich mir immer denke: Du musst die jungen Leute dazu animieren rauszuspringen – raus aus bestimmten Denkmustern, raus aus dem, was sie auf der Schule gelernt haben. Da funktioniert Theater total anders als Wirtschaft.
„Am Ende muss aus dem Chaos, das man bewusst angezettelt hat, wieder eine geordnete Einheit entstehen.“ — Dr. Karsten Ottenberg
Ottenberg: Wenn Sie die Dinge nur laufen lassen, bekommen Sie auch nichts hin.
Stückl: Stimmt. Ich muss auch ständig nachhaken: „Was machst du denn da?“, sonst funktioniert gar nichts.
Ottenberg: Wir haben es zwischenzeitlich auch mit einer Generation zu tun, die hineinwächst in die Welt und jetzt schon weiß, dass sie die klassischen Wege der Vorgängergeneration nicht mehr gehen kann und darf. Diese Jungen werden in ihrem Leben sicherlich zwei- oder dreimal radikale Schwenks machen und – auf ihre eigene Persönlichkeit, auf ihr eigenes Können gestützt – neue Wege erobern müssen. Völlig abseits vom klassischen Bildungsterrain mit seinen vorgezeichneten Bahnen.
Stückl: Ist es nicht schon heute so, dass ein guter Manager eigenständig denken und handeln muss und nicht immer nur sagen kann: „Ich mache es jetzt genauso, wie der Chef das von mir haben will“?
Ottenberg: Es wird zu Recht vor Chefs gewarnt, die ständig ihre eigene Geschichte erzählen. Diejenigen, die in ihrem Leben erfolgreich sind, haben nicht das gelernt, was sie heute praktizieren. Sie haben vorgezeichnete Bahnen verlassen, sich mutig neue Felder erobert und auf Veränderungen eingelassen, in deren Folge sie sich weiterentwickeln konnten.
Stückl: Da kommt jetzt die entscheidende Frage ins Spiel: Mit welchem Blick schaut man auf den Horizont, um sich für das Neue immer offenzuhalten? Der Mensch hängt doch sehr an seinen Gewohnheiten …
Ottenberg: Für mich sind nur zwei Dinge wichtig: Im Rückblick muss ich immer wissen, ob und warum etwas Spaß gemacht hat und was ich Neues erfahren habe. Was waren die Themen, die mich begeistert und für Neues geöffnet haben? Ich brauche auch immer eine Perspektive dessen, was mich weiter anfeuern wird. Wenn diese zu dünn ist und die Routine dominant wird, komme ich an den Punkt, an dem es mich drängt, neue Erfahrungen zu machen. Im Grunde genommen treibt mich die Neugier auf die Vielfalt der Welt.
Stückl: Ich fahre jedes Jahr nach Indien und mache Workshops mit jungen Studenten dort. Dabei geht es mir gar nicht so sehr darum, denen irgendetwas beibringen zu wollen. Ich mache das vor allem, weil es mir total Spaß macht, 14 Tage lang mit indischen Jugendlichen zu diskutieren und von ihnen zu lernen. Du spürst dort ganz klar und manchmal an banalen Beispielen, wo und wie du sozialisiert bist. Ich hatte zum Beispiel meine Probleme mit den arrangierten Hochzeiten. Da wollten die wissen, ob eine Liebeshochzeit wirklich besser funktioniert! Man kommt da schon ins Grübeln.
Ottenberg: Vor einigen Jahren habe ich begonnen, mich in Berlin voller Begeisterung in einer Stiftung zu engagieren. Damals ist ein junger Mann aus den USA zu mir gekommen und meinte: „Ich will einen Thinktank bauen mit Leuten, die nicht älter sind als 35. Ich will die so orchestrieren, dass wir die Chance haben, jeweils ein Jahr lang an Themen zu arbeiten, die Deutschland herausfordern.“
Stückl: Da sehe ich viele Jahre Arbeit auf Sie zukommen.
Ottenberg: Diese stiftung neue verantwortung existiert mittlerweile im fünften Jahr. Ich komme dort mit jungen Leuten zusammen und mit interdisziplinären Denkweisen, die mein Denken sehr befruchten. Im ersten Jahr haben wir das Thema Bildungskapital diskutiert, die Frage, wie man in Deutschland Bildung durch Investition schafft. Eigentlich eine verrückte Formulierung. Gemeint ist: Man schafft Bildung über Schule mit Menschen als Asset. Wie funktioniert das eigentlich, wer hat den Nutzen?
Stückl: Gerade mit Kindern habe ich die spannende Erfahrung gemacht, dass die, die im schulischen Bereich gar nicht funktioniert haben, im Theater aufgeblüht sind. Im Passionsspiel 2000 war ein 12-jähriger Bub dabei, der immer auf Widerstand ging. Er war ein cleveres Kerlchen, und ich habe mich gewundert, warum der auf die Sonderschule ging. Einmal war er eingeteilt in einer Szene, da kamen immer mehr Kinder, immer mehr. Irgendwann ging ich ans Mikrofon und sagte: „Heute gehen alle nach Hause, die nicht eingeteilt sind.“ Eine Minute später steht der Kleine neben mir und sagt: „Psychologisch sehr unklug.“ Da wollte ich wissen: „Was heißt das jetzt?“, und er meinte: „Geh mal in die Mädchengarderobe. Heute hast du dir viele Feinde gemacht.“
Danach bin ich zum Schuldirektor: „Du musst mir jetzt erzählen, warum der auf der Sonderschule ist.“ Da hat er gesagt: „Der gehört aufs Gymnasium, wir bekommen den nur nicht mehr drauf; er hat so schlechte Bewertungen von Lehrern, weil der sich permanent gegen die Autoritäten wehrt.“
Ottenberg: Wer hat noch mal gesagt: „Die Welt wurde von Neurotikern verändert“?
Stückl: In der Schule jedenfalls sollte man die Neurotiker auch fördern. Der Junge macht jetzt übrigens gerade seinen Meister, er hat sein Leben voll in den Griff bekommen. Trotz oder gerade wegen des vielen Widerspruchs.
Christian Stückl
Was wäre die Münchner Theaterszene ohne ihren oberbayerischen Haudegen?! Der gebürtige Oberammergauer ist mit den Passionsspielen aufgewachsen, und er gilt heute als deren großer Reformator. Als junger Mann gründete er ein Laientheater und nahm sich auf seine Weise der Klassiker an: vom eingebildeten Kranken über Tartuffe bis Woyzeck. Zufällig sah der namhafte Publizist Erich Kuby seinen Sommernachtstraum. In der Folge holte Dieter Dorn das Original an die Münchner Kammerspiele, wo sich Stückl fast ein Jahrzehnt lang austobte und vielfach ausgezeichnet wurde. Daneben inszenierte er als Gastregisseur an vielen deutschen Bühnen, aber auch in Indien und den Jedermann in Salzburg. 1996 eröffnete er die Fußballweltmeisterschaft. Seit einer Dekade schon ist er Intendant am Münchner Volkstheater. Er lebt nach wie vor in Oberammergau und ist mit dem Theater verheiratet.
Dr. Karsten Ottenberg
Es ist nur auf den ersten Blick ein Widerspruch, dass der gebürtige Hamburger im lebensfrohen Süden der Republik, in München nämlich, arbeitet. Seit 2005 Vorsitzender der Geschäftsführung von Giesecke & Devrient (G&D), gemeinhin als die Firma der Gelddrucker bekannt, braucht er dort zwingend die verpflichtenden Eigenschaften des Hanseaten: hundertprozentige Diskretion und die Tugenden des ehrbaren Kaufmanns. Natürlich produziert G&D viel mehr als Banknoten, Chips für Kreditkarten und Smartphones etwa, und der studierte Physiker, Mathematiker und Informatiker schaut weit über den Tellerrand der MINT-Fächer hinaus. Er ist auch Mitglied der Forschungsunion, des Beratergremiums der Bundesregierung für Innovation im Land, außerdem begleitet er als Vizepräsident die stiftung neue verantwortung. Ottenberg ist verheiratet und Vater einer Tochter und eines Sohnes.
FOTOS: ROBERT FISCHER