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Die Beschränktheit unserer Wahl

Wie sich die Barrieren des globalen Dialogs abbauen lassen

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Frühe Befürworter des World Wide Web hofften auf eine virtuelle Begegnungsstätte, in der sich Menschen aus aller Welt problemlos zum Gedankenaustausch „zusammen­finden“ könnten. Heute glauben nicht wenige Internetnutzer, in einer Vielzahl von Fragen den Finger am Puls des Weltgeschehens zu haben und die Bandbreite der Meinungen zu kennen. In der Praxis entspricht dieser Eindruck allerdings kaum je der Realität. Man hat vielleicht das Gefühl, an einem weltweiten Dialog beteiligt zu sein, in Wirklichkeit geht der Austausch jedoch selten über das Gespräch mit Gleichgesinnten hinaus. Echte Konvergenz wird ohne die Entwicklung zusätzlicher tech­nischer Hilfsmittel und ohne neue Ansätze bei der Nutzung der vorhandenen Möglich­keiten ein Wunschbild bleiben. Im Folgenden dis­kutiert Ethan Zuckerman die Hürden, die dem weltweiten Dialog im Wege stehen. Von Ethan Zuckerman

VIELE VON UNS sind das, was ich als „imaginäre Weltbürger“ bezeichne. Wir glauben, weltoffen zu sein und einen guten Überblick über das globale Geschehen zu haben, täuschen uns aber. Nehmen wir zum Beispiel Twitter: Das soziale Netzwerk wird gemeinhin als überwiegend angelsächsisches Phänomen gesehen. Wie viele Leute im englischen Sprachraum wissen schon, dass elf Prozent der Internetnutzer Brasiliens, immerhin fünf Millionen Menschen, über Twitter kommunizieren? Nur in Japan ist diese Zahl noch höher. Hingegen „tweeten“ nur acht Prozent der amerikanischen und britischen Nutzer. Der „globale Dialog“, den wir zu führen glauben, besteht in Wirklichkeit aus einer Unzahl von Einzel­gesprächen unter Gleichgesinnten. Nur – letztendlich wissen wir deshalb noch lange nicht, was viele unserer Nachbarn oder Mitbürger denken oder treiben, geschweige denn, was die übrige Welt beschäftigt.

Außer den Sprachbarrieren hindert uns eigentlich nichts daran, uns in Debatten einzuklinken; wir tun es aber im seltensten Fall. Anstatt uns um eine breitere Perspektive zu bemühen, interagieren wir fast ausschließlich mit Leuten, die wir kennen oder die in die gleiche „Schublade“ passen wie wir. Soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter nähren die Illusion, uns mit einer breiten Meinungsvielfalt auseinanderzusetzen – in Wirklichkeit bewegen wir uns auch dort unter Gleichgesinnten. Meine eigenen Internetgewohnheiten entpuppen sich bei kritischer Betrachtung gleichfalls als hoffnungslos engstirnig. Zum Beispiel könnte ich im Netz ja mit Leichtigkeit Tagesnachrichten aus verschiedenen Teilen der Welt nachlesen; tatsächlich aber beziehe ich meine Informationen aus der „New York Times“ und anderen einheimischen Quellen.

Als das Internet sich allmählich durchsetzte, keimte bei vielen eine Cyber-Utopie auf, die Hoffnung, dass das Netz sich zu einer mächtigen Triebfeder weltweiter Kommunikation entwickeln und kulturelle Differenzen ausgleichen würde. Digitale Bits – Gedanken – sind schwerelos, dachte man, und daher wesentlich leichter zu bewegen als Atome – Erzeugnisse, für die man Verkehrsmittel benötigt. In der Zwischenzeit hat sich gezeigt, dass – zumindest bisher – das Gegenteil der Fall ist. Trotz des weiten Transportwegs und der damit verbundenen Kosten ist es sehr viel wahrscheinlicher, dass jemand in Amerika eine Flasche Mineralwasser aus Fidschi leert, als dass er Nachrichten von dort liest.

Die Verflachung der Welt vermeiden

Das Wirtschaftsgeschehen spielt sich in globaleren Dimensionen ab als früher. Für den Dialog gilt das jedoch nur beschränkt. Produktionssysteme und Wettbewerb umspannen die Welt, sie stellen aber nur einen Ausschnitt des Weltgeschehens dar. Ein Großteil der Fertigungsaktivitäten wurde aus anderen Ländern nach China verlagert, dennoch ist China in kultureller Hinsicht nicht (oder noch nicht) zu einer globalen Macht aufgestiegen. Ich vergleiche die Globalisierung gerne mit dem Liniennetz internationaler Fluggesellschaften: Am Himmel ist viel los, vor allem auf Routen wie New York–London oder Dubai–Shanghai, aber wie viele Direktverbindungen gibt es schon zwischen Südamerika und Afrika?

Andererseits ist auch das Argument zu hören, es sei besser, den weltweiten Dialog nicht allzusehr zu fördern, um eine „Verflachung“ der kulturellen Vielfalt zu vermeiden. Ein zu reger Austausch führe dazu, dass dominante Kulturen wie die der Vereinigten Staaten andere Regionen kolonisieren und gleichmachen. Jüngste Studien haben jedoch gezeigt, dass Kulturen gegen äußere Einflüsse wesentlich widerstandsfähiger sind als gemeinhin angenommen. Sie sind mit Firewalls ausgestattet, mit denen sie sich recht wirksam gegen fremde Kulturen abschirmen. Viel besorgniserregender ist meiner Ansicht nach das genaue Gegenteil – die kulturelle Ignoranz, die wir an den Tag legen. Es gibt sehr viele Kulturen, zu denen wir keinerlei Verbindung haben.

In mancher Hinsicht denkt die Menschheit heute weniger global als in vergangenen Jahrzehnten. In den siebziger Jahren machten internationale Angelegenheiten 30 Prozent aller US-Nachrichtensendungen aus, heute nur noch zwölf Prozent. In den führenden Printmedien sieht es nicht viel besser aus: Die Berichterstattung erstreckt sich auf nationale Angelegenheiten und auf Nachrichten aus anderen Teilen der reichen Welt sowie aus einigen wenigen „globalen Brennpunkten” wie dem Nahen Osten. Leider ist diese Beschränktheit ein globales Phänomen: Etwa 95 Prozent der Leser in Deutschland, China, Japan, Frankreich und den Vereinigten Staaten beziehen ihre Nachrichten von einheimischen Newssites. Diese Tendenz begünstigt zweifellos ein durch die lokale Sichtweise geprägtes, einseitiges Weltbild.

Die Vorstellung, dass wir von Informationen überflutet werden, ist ein Mythos – vielmehr lassen wir uns von den Schranken unseres eigenen Interesses einengen, ein Verhalten, das ich als Beschränktheit der Wahl bezeichne. Ungeachtet der gewaltigen Möglichkeiten des Internets und anderer technologischer Fortschritte sind wir noch immer an primitive Verhaltensweisen gebunden. Kulturell gesehen trennen uns nur wenige Generationen von den Zeiten, da unsere Vorfahren in kleinen Siedlungen lebten und ein Austausch mit anderen Kulturen eher unwahrscheinlich war. Noch ein paar Dutzend Generationen früher lebten die Menschen überwiegend in kleinen Familienverbänden. Wir sind in unserer Evolution noch nicht besonders gut darauf eingestellt, die Bedürfnisse und Wünsche anderer zu berücksichtigen; und dies gilt umso mehr, je fremder uns die anderen sind.

Dieses Entwicklungsdefizit findet verschiedene Ausdrucksformen, von der Hetze gegen Einwanderer bis zur aktuellen Islamophobie in den Vereinigten Staaten und anderen Ländern des Westens. Ein derartiges Stammesdenken war in der Evolutionsgeschichte des Menschen sicherlich ein erfolgreicher Anpassungsmechanismus, hat sich in der heutigen Zeit aber vermutlich in das Gegenteil verkehrt. Als Bewohner einer globalen Welt sind wir immer noch darauf programmiert, in kleinen Gemeinschaften zu leben und unsere Aufmerksamkeit eher dem Lokalen zu schenken. Leider ist es aber so, dass die Probleme der Gegenwart, wie der Klimawandel zum Beispiel, den ganzen Planeten betreffen und dringend einen weltweiten Dialog und globale Lösungen erfordern.

Der glückliche Zufall

Der internationale Dialog über das Internet ließe sich durch verschiedene Maßnahmen ankurbeln. Als Erstes benötigen wir bessere Filter. Diese Anforderung ließe sich rein technisch, wenngleich nicht unbedingt praxisgerecht, mittels einer Suchmaschine erfüllen, die das fördert, was man im Amerikanischen „Serendipity“ nennt: den glücklichen Zufall, die Entdeckung von Dingen, für die man sich interessierte, ohne es zu wissen. Das Gleiche ließe sich auch manuell bewerkstelligen, mit Hilfe von Leuten, die in zwei verschiedenen kulturellen Kontexten verwurzelt sind und für uns Übrige eine Brücke zwischen den Kulturen schlagen könnten. Im Bereich des Internets wären solche „Brückenbauer“ hochqualifizierte Web-Kuratoren mit der Fähigkeit, Informationen auszuwählen, die für mindestens zwei Kulturen von Interesse sind. Das Projekt Global Voices, das ich gemeinsam mit anderen steuere, bedient sich zahlreicher solcher Experten. Unsere Nahost-Redakteurin zum Beispiel pendelt zwischen Kanada und Bahrain. Sie weiß, welche Sachverhalte für westliche Leser von Inter­esse sein dürften, kennt aber ebenso die Interessen ihrer Leserschaft im Nahen Osten und kann beides miteinander verknüpfen. Wenn man mehr Stimmen Gehör verschaffen möchte, drängt sich natürlich auch das Thema Übersetzung auf. Hier besteht ebenfalls erheblicher Handlungsbedarf. Ich wünschte mir, im Internet stünden viel mehr gute Übersetzungen bereit, als es bislang der Fall ist.

Wenn wir ernsthaft der Ansicht sind, dass das Weltbild, das wir vermittelt bekommen, nicht global genug ist, dass wir nicht ausreichend auf eine globale Gesellschaft vorbereitet werden, dann müssen wir unseren Umgang mit Informationen grundlegend umgestalten. Dabei geht es auch um die Frage, wie wir unsere Kinder besser auf ihre Rolle als künftige Weltbürger vorbereiten können. Kein leichtes Unterfangen. Doch die Grundvoraussetzung, die Infrastruktur, ist im Wesentlichen gegeben. Nun geht es darum, die vorhandenen Systeme unseren Bedürfnissen anzupassen. Das nötige Werkzeug haben wir. Wir müssen nur lernen, besser damit umzugehen.

Ethan Zuckerman

Ethan Zuckerman, Senior Researcher am Berkman Center for Internet & Society der Harvard University, ist Mitbegründer von Global Voices Online, einer weltweiten Online-Gemeinschaft von über 300 Bloggern und Übersetzern. Sie haben es sich zur Aufgabe gemacht, Stimmen und Meinungen Gehör zu verschaffen, die in den internationalen Medien für gewöhnlich nicht zu Wort kommen. 2002 wurde Zuckerman vom „Technology Review“-Magazin, dem Innovationsmagazin des MIT, in den Kreis der hundert führenden Innovatoren unter 35 Jahren gewählt und von der Stiftung World Economic Forum mit dem Titel „Global Leader for Tomorrow“ ausgezeichnet.

FOTO: NASA/CORBIS

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