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Die großen Fragen der Menschheit

Die großen Fragen der Menschheit Der Literaturagent und Netzwerker John Brockman über Wissenschaft­ler als Intellektuelle des 21. Jahrhunderts

Geistes- und Naturwissenschaften waren traditionell „zwei Kulturen“. Der Physiker C. P. Snow forderte schon 1959 in seinem gleich­namigen Buch, dass sie die großen Fragen der Menschheit gemeinsam beantworten sollten. Rund 30 Jahre später rief der Literaturagent John Brockman eine „Dritte Kultur“ aus. Sein Netzwerk aus Naturwissen­schaftlern und Denkern hat sich in den letzten Jahren an Fragen gewagt, die bislang von den Religionen und der Philosophie als ihre Domäne beansprucht worden waren: an die Fragen nach Ursprung und Sinn des Lebens, nach dem Wesen des Menschen und seiner Moral.

ES IST NICHT LEICHT, ein so komplexes Phänomen wie die Konvergenz vermittels eines einzigen Protagonisten zu veranschaulichen. Versucht man es dennoch, stößt man zwangsläufig auf den New Yorker Literaturagenten John Brockman. Brockmans Büro liegt im Herzen von Manhattan. Der Schreibtisch des 69-Jährigen wird von einem Computer beherrscht. Von seiner Arbeit mit Manuskripten und Papier findet sich ansonsten kaum eine Spur. An der Wand hängt ein monumentales Blumenbild, ein Scannerfoto seiner Frau und Geschäftspartnerin Katinka Matson. Tritt man auf den Balkon hoch über der 59th Street, fällt der Blick auf die Grand Army Plaza und somit auf einen Platz, auf dem sich die Kulturgeschichte New Yorks entlang dreier Blickachsen verdichtet. Rechts steht das einstige Plaza Hotel, in dem sich im 20. Jahrhundert Hollywood und Politik trafen, links der Turm des FernsehsendersCBS, in der Mitte der Glaskubus des Apple Stores an der Fifth Avenue.

Diese verknappte Kulturgeschichte der Stadt New York ist auch die Geschichte John Brockmans, einem Schauspieler und Künstler, der aus der Subkultur der politisierten fünfziger und sechziger Jahre über seine Arbeit als Medienmacher zum mächtigsten Literaturagenten des Informationszeitalters aufstieg. Wobei man diesen Super­lativ nicht an seinen wirtschaftlichen Erfolgen messen sollte, sondern in den Kontext der jüngeren Geistesgeschichte stellen muss. Gewiss, Brockman hat es geschafft, Vorschüsse für Wissenschaftler auszuhandeln, wie sie sonst nur Bestsellerautoren populärer Romane fordern können. Und natürlich gehören alle wichtigen Autoren der neuen Wissenschaftsliteratur zu seinen Kunden – der Psychologe Steven Pinker etwa, der Anthropologe Jared Diamond, der Evolutionsbiologe Richard Dawkins und der Genforscher Craig Venter. Doch mit seinem Stamm von einigen hundert Vordenkern und Pionieren hat Brockman nicht nur ein neues Genre der Wissenschaftsliteratur begründet, sondern eine neue Form des Intellektualismus. Einen Begriff dafür hat er auch gleich geprägt: „Third Culture“, die Dritte Kultur.

„Third Culture“ ist nichts anderes als die Verwirklichung dessen, was die Philosophie unter Konvergenz versteht: die Schnittmenge aus Erkenntnistheorie und Naturwissenschaften. Sie ist vermeintlich ein Standard der Ideengeschichte – und doch empfand Brockman den tatsächlichen Mangel an Konvergenz schon früh als große Lücke im intellektuellen Leben der westlichen Welt. Es war eine Vorlesung von dem Physiker C. P. Snow 1959 an der University of Cambridge, die dann zu einer Art Inspirationsquelle für Brockman wurde: „C. P. Snow prophezeite eine Dritte Kultur, in der die Welt der Literatur die Wissenschaften begreift und sie kommuniziert“, sagt er. „Nur geschah das nie. Also begannen die Wissenschaftler selbst, Bücher zu schreiben.“

Anfang der neunziger Jahre, just am Beginn des digitalen Zeitalters, veröffentlichte Brockman sein Manifest von der Dritten Kultur: „Traditionelle amerikanische Intellektuelle werden auf ihre Art immer reaktionärer und sind oft auch noch stolz darauf, nichts von den intellektuellen Errungenschaften unserer Zeit zu verstehen. Ihre Kultur, welche die Wissenschaften verächtlich beiseiteschiebt, ist oft nicht empirisch fundiert. Dagegen besteht die Dritte Kultur aus Wissenschaftlern und anderen Denkern der empirischen Welt, die mit ihrer Arbeit und ihren Texten den Platz der traditionellen Intellektuellen einnehmen, weil sie den tieferen Sinn unseres Lebens verständlich machen und uns neu definieren.“

Relevante Debatten finden in Büchern statt

Mit Populärwissenschaft hat die Dritte Kultur dabei nur wenig gemein. Mit Konvergenz umso mehr. „Nehmen Sie Daniel Dennett“, sagt Brockman. „Er ist einer der wichtigsten Philosophen Amerikas. Als Akademiker müsste er in philosophischen Fachjournalen veröffentlichen. Da würde er jedoch abgelehnt, weil er über Psychologie schreibt, über künstliche Intelligenz, Informatik, Neurowissenschaften und Psychiatrie. In den Journalen dieser Wissenschaften würde er allerdings auch nicht gedruckt, weil er auf diesen Gebieten keine akademische Ausbildung vorzuweisen hat.“ Doch mit seiner Antwort auf Roger Penroses wissenschaftliches Plädoyer für den unüberbrückbaren Unterschied zwischen Bewusstsein und Mathematik, „The Emperor’s New Mind“ (1989; deutsch: „Computerdenken“), sollte Dennett einen wissenschaftlichen Meilenstein setzen: „Consciousness Explained“ (1991; deutsch: „Philosophie des menschlichen Bewusstseins“) löste eine Debatte aus, die weitreichende wissenschaftliche Konsequenzen zeitigte. Gut 20 Jahre ist das nun her. Für die Massenmedien wäre das Thema zu komplex gewesen. Die akademischen Journale hätten es nicht akzeptiert. „Es wurde recht schnell deutlich: Die zukunftsweisenden Debatten finden in Büchern statt.“

Die Relevanz von wissenschaftlichen Büchern für Debatten, die die angestammten Grenzen einzelner Wissenschaften überschreiten, begriff Brockman schon früh. Als Student an der Columbia Business School verbrachte er seine Nächte im südlichen Teil Manhattans, im Downtown der Subkulturen und Künstler. „Die Künstler beschäftigten sich allesamt mit Wissenschaften“, erinnert er sich. „Robert Rauschenberg gab mir damals James Jeans’ ‚The Mysterious Universe‘, Claes Oldenburg las George Gamows ‚One, Two, Three … Infinity‘. Vor allem aber fanden bei dem Komponisten John Cage regelmäßig Abendessen statt, bei denen er jungen Künstlern seine Ideen nahebrachte. Ich hatte das Glück, zu diesem Kreis zu gehören. Eines Abends, das muss 1965 gewesen sein, sagte er: ‚Das ist für dich‘, und drückte mir eine Ausgabe von Norbert Wieners ‚Cybernetics‘ in die Hand. Es war ein Schlüsselmoment in meinem Leben.“

Die Kraft der interdisziplinären Wissenschaften

Weil Brockman damals das Filmkunstkino Filmmakers’ Cinemateque leitete, wurde er kurze Zeit später von Wieners Kollegen dazu eingeladen, New Yorker Avantgardekünstler nach Cambridge zu bringen, wo sie am Massachusetts Institute of Technology führende Wissenschaftler trafen. Bei einem dieser Ausflüge sah der junge John Brockman auch erstmals eine jener Maschinen, die ihn seitdem faszinieren. „Sie haben uns damals einen der ersten Computer gezeigt. Da war dieser riesige Raum hinter Glas, mit all den Menschen in weißen Mänteln und weißen Handschuhen. Es war sehr kalt, deswegen trugen sie Schals. Ich muss 25 gewesen sein und habe mir die Nase an der Scheibe plattgedrückt. Es war Liebe auf den ersten Blick. Alles, was ich seither getan habe, wurde von der Idee der ‚Computation‘ geprägt. Und damit meine ich nicht Computer, sondern die kybernetischen Ideen Norbert Wieners.“

Brockman meint die Lehre von der Kommunikation als Kontrollmechanismus für Maschinen, Menschen und Systeme. Und es waren auch diese Ideen, die aus dem Computer bald mehr machen sollten als einen reinen Rechner. „Die Arbeiten an den ersten Computern waren sicherlich Paradebeispiele für die Kraft interdisziplinärer Forschungsvorhaben, weil sie damals eben Computerwissenschaftler mit Designern und Soziologen zusammenbrachten. Das bestimmt ja heute wieder die Debatte, die gerade von Nicholas Carr und Clay Shirky geführt wird, den beiden führenden Visionären, wenn es um die neuen Medien geht.“

Keine Frage, dass der Internetkritiker Carr und der an der New York University tätige Medienwissenschaftler Shirky Klienten seiner Agentur sind. Und dass er ihre Bücher zu Bestsellern gemacht hat. Doch die wenigsten Ideen werden in der Abgeschiedenheit geboren. Carr und Shirky sind nicht nur Brockmans Klienten. Sie sind auch Teil seines weltweiten Zirkels aus Wissenschaftlern, Denkern und Unternehmern, die er in Anspielung auf die literarischen Intellektuellen „Digerati“ nennt.

Intellektueller Schlagabtausch im Netz

Treffpunkt seines Zirkels ist das Internetforum edge.org. Hier kommt es zum intellektuellen Schlagabtausch zwischen den Kritikern des Internets und seinen Propheten, zwischen Philosophen und Biologen, zwischen Psychologen und Ökonomen, zwischen Astronomen und Künstlern, zwischen Vordenkern und Pionieren aus vielen unterschiedlichen Kultur- und Wissenschaftsbereichen, die sich hier mehr zu sagen haben, als sie in ihren wissenschaftlichen Arbeiten veröffentlichen können. 3 000 Denker stehen auf Brockmans Liste.

Sie sind es auch, denen John Brockman alljährlich Anfang Dezember seine Frage des Jahres stellt. Es sind sehr knappe Fragen: Was jetzt? Was glauben Sie, obwohl Sie es nicht beweisen können? Was ist Ihre gefährlichste Idee? Was wird alles verändern? Doch gerade die pointierte Kürze provoziert bei den Vordenkern funkensprühende Antworten, aus denen oftmals eigenständige Forschungsprojekte hervorgehen. Als der Psychologe Steven Pinker beispielsweise Ende 2006 auf die Jahresfrage „Was stimmt Sie optimistisch?“ antwortete, dass wir in den gewaltlosesten Zeiten der Menschheitsgeschichte leben, bekam er von anderen Wissenschaftlern so viele Zuschriften und Anregungen, dass eine vierjährige Forschungsarbeit daraus entstand, die nun im Herbst 2011 veröffentlicht werden soll.

Die Relevanz der Fragen zeigte sich auch in diesem Jahr wieder. „Wie verändert das Internet Ihr Denken?“, hatte Brockman gefragt. 172 Antworten veröffentlichte er in der ersten Januarwoche auf edge.org. Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins schrieb vom geistigen Nettogewinn, den man aus dem Netz ziehen kann. Der Neurologe William Calvin konstatierte die „Bereicherung des Denkens durch das Internet“. Der Anthropologe Scott Atran schwärmte gar von der „vierten Phase des Homo sapiens“. Andere blieben kritisch. Die Physikerin Lisa Randall schrieb: „Der Plural von Anekdoten heißt nicht Daten.“ Der Paläontologe Scott Sampson beklagte „das Aussterben von Erfahrungen“. Und der Software-Pionier Kai Krause unkte: „Eine Million Lemminge können sich sehr wohl irren.“

In Brockmans Netzwerk der konvergierenden Ideen fungiert edge.org gleichsam als virtueller Nucleus. „Sehr effizient“ findet er diese Art und Weise, Menschen und Ideen zu vernetzen. Aber doch nur als Ausgangspunkt. „Das Netz kann kein Ersatz für Menschen sein“, sagt er. Und so hat er über die Jahre einen globalen Salon kreiert, der die Eliten des digitalen und biotechnischen Zeitalters regelmäßig in New York, Boston, Kalifornien, London oder auf Brockmans Sommersitz, der Eastover Farm in Connecticut, zusammenbringt.

Es sind sehr exklusive Treffen. Zum Billionaires’ Dinner am Rande der Ted-Konferenz in Long Beach. Zu den Soirées und Abendessen. Und vor allem bei seinen Master Classes und Konferenzen auf der Eastover Farm. So trafen sich dort vor einigen Jahren führende Köpfe der Biotechnologie. An einem strahlenden Sommerwochenende hatte Brockman eines jener Zelte auf dem Rasen aufbauen lassen, unter dem sonst Hochzeitspartys stattfinden. Craig Venter war aus Kalifornien gekommen, der Mann, der das Genom entschlüsselte, sein Kollege George Church, der legendäre Wissenschaftskritiker Freeman Dyson und der Astronom Dimitar Sasselov. Einen Tag lang machten sie sich Gedanken über den Ursprung des Lebens, der so rätselhaft unerforscht ist. Und ganz nebenbei erzählten sie von ihren Arbeiten. Die sollten in den nächsten drei Jahren weltweit die Schlagzeilen der Wissenschaftsseiten beherrschen. Craig Venters Coup, eine Zelle mit künstlichem Erbgut zu steuern, George Churchs Projekt, die Entschlüsselung des Genoms für Normalbürger zu entwickeln, Freeman Dysons Infragestellung der ideologisierten Theorien vom Klimawandel, Dimitar Sasselovs Entdeckung hunderttausender erdähnlicher Planeten in unserer Galaxie.

Brockman liebt es, von solchen Momenten zu erzählen, die manchmal Geschichte schreiben. Von jenem Wochenende, als er die führenden Köpfe der Verhaltens­ökonomie nach Eastover brachte, ein junges Forschungsgebiet, auf dem so viel mehr Erkenntnisse über die Finanzkrise der letzten Jahre gewonnen wurden als in den Wirtschaftswissenschaften. Oder sein letzter Coup im Sommer dieses Jahres. „Ich veranstalte diese Treffen ja jedes Jahr“, sagt er. „Nur diesmal wollte mir wirklich nichts einfallen. Dann fiel mir auf, dass sieben neue Bücher zur Moralpsychologie erschienen waren. Sieben. Und ich arbeite mit allen sieben Autoren zusammen. Plötzlich war die Frage ganz klar: Wie verhält sich die Moralpsychologie zu Psychologie und Moral?“

Zwei Tage lang tauschten sich die führenden Köpfe über dieses Thema aus. Und wieder hatte Brockman als Erster eine Debatte angeregt. Viel musste er dafür nicht tun. Er telefonierte, lud Freunde und Klienten ein. Dann stellte er die Abschriften und Videos vom Wochenende an seinem Schreibtisch hoch über der 59th Street auf seine Webseite. Per Hand. „Natürlich per Hand“, wie er sagt. „Geht doch alles automatisch inzwischen. Ich schiebe eine Textdatei in den Rechner. Und weil ich sie selbst kodiere, lese ich den Text noch einmal und überdenke ihn. Ich lerne.“ Dann lässt er den Ideen ihren freien Lauf im Netz, das sie in die Debatte, in den Mediendiskurs, in die Wissenschaftsgeschichte einspeist. Wenn dabei wieder Bücher herauskommen, umso besser. Doch viel größer ist seine Lust daran, Ideen zusammenzu­führen. „Meine Arbeit mit edge.org ist wie damals im Studium. Ich lerne. Nur bin ich in diesem Moment der einzige Student. Das ist ein sehr großes Vergnügen.“

John Brockman

John Brockman wurde am 16. Februar 1941 als Sohn eines Blumengroßhändlers in Boston, Massachusetts geboren. Während seines MBA-Studiums an der Columbia University in New York Anfang der sechziger Jahre schloss er sich der aufstrebenden Kulturszene in Downtown Manhattan an. Er betätigte sich als Multimedia­künstler, gehörte zum Kreis um den Vater der Pop-Art, Andy Warhol, und war mit dem Komponisten John Cage befreundet. 1973 gründete er die Literaturagentur Brockman, Inc. Mit ihr etabliert er seither eine neue Wissenschafts­literatur, die es mit komplexen Themen bis in die Bestsellerlisten schafft. Zu seinen Klienten gehören Autoren wie der Evolutionsbiologe und kämpferische Atheist Richard Dawkins, der Psychologe Steven Pinker, der Anthropologe Jared Diamond und der Genforscher Craig Venter. Gemeinsam mit seinen Klienten gründete er 1988 die Edge Foundation, Inc., die mit einem Internetforum und regelmäßigen Konferenzen die Speerspitze eines neuen Intellektualismus des empirischen Denkens bildet.

FOTOS: JÜRGEN FRANK

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