Was haben die aufgeheizte Atmosphäre im Rugby und langfristiges strategisches Denken in einem internationalen Bergbaukonzern gemeinsam? Können erfolgreiche Teams, ob in der Welt der Wirtschaft oder im Sport, auch Querdenker und Einzelkämpfer verkraften? Und wie wichtig sind Vertrauen und Aufrichtigkeit in einer Umgebung, in der knallharte Siegertypen mit unstillbarem Erfolgshunger das Sagen haben? François Pienaar, der 1995 als Mannschaftskapitän der südafrikanischen Auswahl den World Cup aus der Hand Nelson Mandelas entgegennahm, traf seinen Landsmann Jan du Plessis, Chairman von Rio Tinto, in der Nähe von London, um mit ihm über die Erfolgsgeheimnisse zweier sehr unterschiedlicher Berufe zu sprechen. Kein besserer Schauplatz für diese Unterhaltung als die Tribüne des Twickenham Stadium – dort ist das World Rugby Museum zu Hause, und dort atmet man noch immer den Geruch unzähliger Siege und Niederlagen.
Jan du Plessis: Wir beide sind Südafrikaner, ich liebe Rugby, und wie die meisten Südafrikaner empfinden wir wohl beide grenzenlose Bewunderung für Nelson Mandela. Meine erste Frage muss also lauten: Wie war es, diese bemerkenswerte Mannschaft 1995, in einem so entscheidenden Augenblick der südafrikanischen Geschichte, zum Sieg im World Cup zu führen?
François Pienaar: Es hatte schon etwas Magisches, aber erst im Nachhinein. Überragendes Talent ist sicherlich die Voraussetzung für eine solche Leistung, und ich hatte das Glück, als Mannschaftskapitän eine Gruppe fantastischer Einzelspieler zu führen, mit einem weitsichtigen Trainer und einem großartigen Management. Doch Talent ist nur das eine. Wegen der Ächtung der Apartheid waren wir erst 1992 aus der internationalen Isolierung herausgekommen. Uns fehlte die Erfahrung, die andere Mannschaften hatten. Deswegen gingen wir die Projektplanung genauso an, wie es ein Ingenieur getan hätte: Erst definierten wir das Problem. Dann die Lösung. Und anschließend die Phasen, in denen sie zu erreichen war. Wir waren Amateure. Tagsüber gingen wir zur Arbeit, abends wurde trainiert. Der World Cup war unser Projekt, und ganz entscheidend war die obsessive Beschäftigung mit jedem Detail – genauso wichtig wie das, was wir als Talent mitbrachten.
du Plessis: Wenn ich nach Führungsqualitäten gefragt werde, dann antworte ich: Alles hängt von den Menschen ab – it’s all about people. Ich kann das nicht stark genug betonen. Was Sie sagen, glaube ich, zielt in dieselbe Richtung: Im Rugby muss man Menschen studieren und Menschen verstehen.
Pienaar: Ja, es geht darum, sich in die ideale Wettkampfstimmung zu bringen. Beim World Cup kann das ein Turnier entscheiden, also darf einem kein Detail entgehen. Ehrlichkeit spielt auch eine Rolle. Um ein außergewöhnliches Team zu formen, ist der einzelne Spieler genauso wichtig wie eine klare Rangordnung: Erst kommt der Trainer, dann der Mannschaftskapitän, dann das Team. Wenn einer keine Leistung bringt, gehört er nicht in die Mannschaft.
du Plessis: Welche Rolle haben bei diesem World-Cup-Finale denn die Emotionen gespielt? Nelson Mandela saß ja auf der Tribüne, die ganze Nation rückte dicht zusammen. Wie hat sich das angefühlt?
Pienaar: Schwer zu beschreiben. Man spürt in sich selbst und innerhalb der Mannschaft viele widersprüchliche Empfindungen, und als Kapitän muss man sie im Zaum halten. Normalerweise ging der Coach – mein Förderer und ein wunderbarer Mensch – mit mir zwei Tage vor dem Spiel die Strategie durch. „Cappy“, sagte er, „sollen wir die Maschine anwerfen?“ Das bedeutete: Ist die Mannschaft motiviert, ist sie bereit für dieses Match? Eine Rugbypartie unterscheidet sich vermutlich grundlegend von der Geschäftswelt, denn man kann nichts mehr korrigieren. Man hat 80 Minuten, um alles richtig zu machen – und deshalb muss man die Persönlichkeit aller Beteiligten genau kennen.
du Plessis: Genau darum geht es auch in der Führung von Unternehmen. Ein zentraler Aspekt von Leadership, sei es im Business oder im Sport: Ein Team besteht aus Individuen, und man muss jedem Individuum gerecht werden, sich auf jedes einstellen. In der Bergbauindustrie gibt es nichts, was auch nur annähernd mit einem World-Cup-Finale im Rugby vergleichbar wäre. In dieser Industrie kommt es auf langfristige Planung, nicht auf den Augenblick an. Wir brauchen Jahre zur Vorbereitung von Projekten, die über einen Zeitraum von fünf bis zehn Jahren umgesetzt werden – das Ganze mit dem Ziel, dass sich die Investition in 20 bis 30 Jahren auszahlt.
Pienaar: Es ist doch auffallend, dass diese Zeitspannen – meine 80 Minuten gegen Ihre 20 bis 30 Jahre – sehr weit auseinanderklaffen, es aber doch um dieselben Prinzipien geht: eine konsequente, sorgfältig erdachte Strategie und den richtigen Umgang mit Emotionen.
du Plessis: Stimmt genau. Emotionen und Werte sind ein grundlegendes Element von Führung. Bisweilen glaubt man ja, der Aufstieg innerhalb eines Unternehmens hänge allein von beruflicher Performance, harter Arbeit oder davon ab, Stärke zu zeigen. Doch das ist nur ein Teil der Wahrheit. Zuallererst geht es um die Werte, die einen antreiben. Ich habe Board Meetings erlebt, in denen die Fetzen flogen: Zwölf oder 14 Führungskräfte, die alle mit Leidenschaft für das Wohl des Unternehmens streiten, doch uneins über den richtigen Kurs sind. Da gibt es nur einen Ausweg: die Rückbesinnung auf den Kompass, die Werte. Die wichtigste Frage lautet: Wohin soll das Unternehmen?
Wo Rugby, Politik und Weltgeschichte sich treffen: Nach Südafrikas Sieg 1995 gegen Neuseeland in der Verlängerung überreicht Nelson Mandela Kapitän François Pienaar den World Cup.
„Nelson Mandela schuf Vertrauen in einer Umgebung, in der niemand zuvor je vertraut hatte.“ - Jan du Plessis
Pienaar: Wie sachorientiert sind solche Debatten? Und welche Rolle spielt das Ego?
du Plessis: „Ego“ klingt mir zu negativ. In unserem Board treffen starke Persönlichkeiten aufeinander, und das ist durchaus in Ordnung. Die Mitglieder unseres Boards kommen aus Business, Sport und Politik. Sie unterscheiden sich nicht nur im Charakter, sondern auch durch ihre Herkunft, und das wird bei Diskussionen spürbar. Meine Aufgabe besteht darin, diese Einzelpersönlichkeiten an einen Tisch zu bringen und am Ende eine überzeugende gemeinsame Linie zu finden.
Pienaar: Das gilt auch für ein Rugbyteam. Im Finale waren wir unglaublich fokussiert. In anderen Partien dagegen kann es passieren, dass Spieler mit starker Persönlichkeit das Wohl der Mannschaft aus dem Auge verlieren, weil nicht alles nach ihrer Nase geht. Dann muss man sie wieder auf Linie bringen. Was tun Sie, Jan, wenn Sie einen Star im Team haben, dessen Persönlichkeitsstruktur nicht zum Unternehmen passt?
du Plessis: Das ist eine gute Frage. Große Unternehmen neigen dazu, manchmal etwas zu bürokratisch zu agieren. Sicherlich kann ein globaler Konzern nur effizient arbeiten, wenn alle das gemeinsame Ziel vor Augen haben und gewisse Regeln eingehalten werden. Dennoch sollten erfolgreiche Unternehmen jenen, die nicht ins Schema passen, einen gewissen Spielraum lassen. Innerhalb vernünftiger Grenzen, versteht sich. Wenn das Verhalten eines Einzelnen die Dynamik im Team nachhaltig stört, dann muss er oder sie gehen. Es gibt einen Punkt, an dem aus einem Querdenker ein Querschläger werden kann – dessen muss sich der Unternehmer immer bewusst sein.
Pienaar: Im Rugby sind ausgeprägte Führungsqualitäten vonnöten. Während des Spiels muss man fortlaufend unter Druck die richtigen Entscheidungen treffen. Ohne eine Kultur der High Performance, die auf absolutem Vertrauen beruht, würde man scheitern. Den schlimmsten Augenblick als Mannschaftskapitän habe ich 1994 auf unserer Neuseeland-Tournee erlebt. Im zweiten Match ging die Disziplin über Bord, und einer unserer Männer biss einem Gegenspieler ins Ohr. Die Zeitungen haben die Geschichte breit ausgewalzt. Tief nachts rief mich der Verband zur Krisensitzung, und der Sünder wurde nach Hause geschickt. Es ist eine große Herausforderung, immer die Nerven zu bewahren. Das macht die Rolle des Kapitäns aber gleichzeitig so reizvoll.
du Plessis: Und für die 80 Minuten auf dem Platz ist es eine gewaltige Aufgabe.
Pienaar: Von meinem Trainer habe ich gelernt, dass ich mich als milder Diktator betrachten muss. Ich treffe die Entscheidungen und gebe die Impulse. Wenn man eine Strategie gefunden hat, geht es nur noch um ihre effiziente Umsetzung. Selbst wenn ich mit einer Entscheidung mal danebenliegen sollte – wenn das Team mit Präzision und Leidenschaft an einem Strang zieht, kann man auch eine solche Situation zum Erfolg führen.
du Plessis: Da würde ich gern einhaken. Ich bin skeptisch gegenüber Unternehmen, in denen der Chief Executive ein Superstar ist. In Unternehmen, die nach meiner Einschätzung gesund sind, kennt der CEO seinen Platz. Als Chairman vertrete ich das Board of Directors und muss den CEO – den Mannschaftskapitän – im Auge behalten. Diese Balance ist fundamental. Unternehmensführer, die sich von ihrem Ego wegtragen lassen, verlieren die Orientierung. Schlimmer noch: Wenn sie sich selbst zu wichtig nehmen, verlieren alle den Glauben, dass das Team das Wichtigste ist.
Pienaar: In der Wirtschaft hat man vielleicht Zeit, über so etwas nachzudenken. Im Sport nicht. Entscheidungen müssen innerhalb von Sekundenbruchteilen fallen, und danach muss man das Beste daraus machen.
du Plessis: Stimmt. Ich sehe übrigens Parallelen zwischen Coach und Kapitän auf der einen und Chairman und CEO auf der anderen Seite. Der wichtigste Mann im Rugby ist der Mannschaftskapitän, nicht der Coach. Und die wichtigste Figur im Unternehmen ist definitiv der CEO, nicht der Chairman. Ein guter Aufsichtsratsvorsitzender muss sein Ego im Zaum halten: Seine Aufgabe besteht darin, den CEO zu unterstützen. Kritik am CEO sollte unter vier Augen geübt werden, nie in der Öffentlichkeit und auch nicht im Board Meeting. Ein guter Chairman sollte dem Chief Executive Respekt entgegenbringen und ehrliches Feedback geben.
Pienaar: Ja, respektvolle Ehrlichkeit.
du Plessis: Manchen Menschen fällt Offenheit schwer. Vielleicht liegt darin ja ein Unterschied zwischen Sport und Wirtschaft: Als Mannschaftskapitän müssen Sie Vertrauen aufbauen, können aber nicht immer taktvoll sein.
Pienaar: Vertrauen aufzubauen und zu erhalten ist eine der Säulen meiner Aufgabe. Wenn es Konflikte gibt, gewinnt man Vertrauen nur durch Taten, nicht durch Worte zurück. „Rockstar“-Persönlichkeiten halten in unserer Welt nicht lange durch: Wenn sie sich an die nüchterne Wettbewerbskultur des Rugby nicht anpassen, verschwinden sie schnell von der Bildfläche.
„Ich habe Board Meetings erlebt, in denen die Fetzen flogen. Da gibt es nur einen Ausweg: die Rückbesinnung auf den Kompass, die Werte.“ - Jan du Plessis
du Plessis: Leadership erfordert aber auch Selbstvertrauen. Wer überempfindlich ist, kann nicht überzeugend führen. Das heißt, sowohl in Ihrer Welt wie auch in meiner braucht man die Stärke, gut zuzuhören, Fehler einzugestehen und möglicherweise die eigene Meinung zu ändern.
Pienaar: Unbedingt. Bei der Spielvorbereitung war uns der Input von allen willkommen – wir nutzten alle Ressourcen, die uns zur Verfügung standen. Doch Vorbereitung und Umsetzung sind zwei Paar Schuhe.
du Plessis: Wie sind Sie denn damit umgegangen, wenn Sie einen Superstar in der Mannschaft hatten? Jemanden, der entweder störend oder beflügelnd sein kann? Wie stellen Sie sicher, dass er nicht Ersteres ist, sondern Letzteres?
Pienaar: Wenn der Bauch einem sagt, dass es nicht klappt, sollte man kurz und schmerzlos Konsequenzen ziehen. Andernfalls läuft man Gefahr, die Teamkameraden zu vernachlässigen. Heuern und Feuern ist in der Geschäftswelt vermutlich nicht ganz so unkompliziert …
du Plessis: Das heißt also, François, dass ein Sport wie Rugby keinen Platz für Einzelgänger und Querdenker hat?
Pienaar: So ist es. Denn wenn Sie Fehler machen, kostet es den Sieg – und nur auf den Sieg kommt es an.
du Plessis: Das klingt ja, als würden einzelne Spieler einfach kommen und gehen. Aber Stabilität und Kontinuität haben doch sicherlich auch ihren Wert.
Pienaar: Ja, man braucht einen starken Kern. Nur der sorgt für ein leistungsstarkes Team. Und wie erreicht man das? Indem man sich mit Leuten umgibt, die besser sind als man selbst, Spielern, die unbedingt Erfolg haben wollen.
du Plessis: Ja, man muss Talente erkennen. Glück spielt natürlich auch eine Rolle.
Pienaar: Das ist wahr. Doch wenn man sich auf das Glück gut vorbereitet, findet es einen auch eher. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, dass ich der glücklichste Sportler auf Erden bin. Ich hatte gerade mein Jurastudium abgeschlossen und mit Rugby angefangen, als Südafrika aus der Isolation heraustrat. Zu jener Zeit waren wir Amateure – und dann kamen plötzlich Nelson Mandela und der World Cup.
du Plessis: Manche Dinge im Leben geschehen zufällig, durch Glück. Doch man muss auch bereit sein, Risiken einzugehen. Rio Tinto, einst das größte und angesehenste Bergbauunternehmen der Welt, war in eine ernsthafte Schieflage geraten, als man mir den Posten des Chairman anbot. Aufgrund der enormen Risiken, die mit diesem Mandat verbunden waren, lehnte ich spontan ab, auch als mir das Angebot das zweite Mal unterbreitet wurde. Als sie sich ein drittes Mal an mich wandten, wägte ich die Herausforderung gegen die darin liegende Chance ab – und stellte mich der Aufgabe.
Pienaar: Da war also nicht nur Motivation im Spiel, sondern auch Ehrgeiz.
du Plessis: Richtig. Aber gute Führung erfordert ein tiefes Verantwortungsgefühl. Manchmal sieht man überaus ehrgeizige Menschen und spürt sofort: Die werden es nicht schaffen. Denn ihr Ehrgeiz ist auf die eigene Person gerichtet, nicht auf den Erfolg des Teams.
Pienaar: Wenn ich jenseits von Talent oder einzelnen Karriereschritten auf die individuelle Persönlichkeit schaue, frage ich mich: Wie wichtig ist emotionales Gespür in der Wirtschaft? Sir Alex Ferguson, der legendäre Coach von Manchester United, hat mir einmal von David Beckham erzählt, und dabei wurde klar, dass Ferguson seine Spieler besser verstand als irgendjemand sonst. Er wusste, wo sie herkamen und wer von ihnen seinen Spitzenplatz behaupten würde – Beckham war dafür das beste Beispiel.
du Plessis: Ich finde auch, dass es ohne emotionales Gespür nicht geht. Ich war erst um die 50, als ich Chairman von British American Tobacco wurde, und am Anfang wollte ich Chairmen und CEOs anderer großer Unternehmen kennenlernen. Also lud ich sie zum Mittagessen ein. Eines Tages sagte meine Assistentin, viele meiner Gäste seien so nette Menschen, und ich dachte: Wer nicht in der Lage ist, sich mit meiner Assistentin ein paar Minuten freundlich zu unterhalten, der wird niemals ein Topmanager werden, denn um es ganz nach oben zu schaffen, braucht man ein Gespür für Menschen. All die knallharten, brutalen Firmenbosse im Kino oder im Fernsehen recyceln ein irreführendes Klischee. Denn als grober Klotz schafft man es nicht an die Spitze einer Organisation. Man schafft es durch emotionales Gespür. Vielleicht, François, wollen Sie an dieser Stelle über Madiba sprechen.
Pienaar: Das ist schwer in Worte zu fassen. Ich hatte ungeheures Glück. Meine Beziehung zu Nelson Mandela begann eigentlich erst richtig nach dem World Cup, das war das Besondere daran. Als wir in London lebten – unser Sohn Jean war gerade geboren worden –, klingelte eines Morgens das Telefon, und Madiba war dran. Er persönlich, nicht einer seiner Referenten. Und er sprach mit meiner Frau. Zuerst beglückwünschte er sie zu Jeans Geburt, dann sagte er ihr, er wolle gern sein Taufpate sein. Er gab unserem Sohn einen Namen aus der Bantusprache Xhosa – Mkhokeli, was „Anführer“ bedeutet. Er nahm wirklich Anteil, deshalb liebten ihn Menschen überall auf der Welt.
du Plessis: Ich glaube, sein ruhiger, überzeugender Stil sagt etwas über das Wesen großer Führungspersönlichkeiten. Da war seine Demut, der Umstand, dass die Menschen ihm vertrauen konnten; doch ebenso wichtig ist, dass er bereit war, auch anderen zu vertrauen. Ich habe ihn nur ein einziges Mal in meinem Leben getroffen, bei einem Abendessen in Kapstadt. Er war sehr schlicht, ein warmherziger Mensch. Seine Präsenz erfüllte den Raum.
Pienaar: Ich habe einige sehr persönliche Augenblicke mit ihm erlebt. Mandela war großherzig und voller Anteilnahme, doch er brachte auch viele Opfer. Sein Ziel war ein friedliches, demokratisches Südafrika, und er erreichte in so kurzer Zeit so viel. Der Preis, den er dafür gezahlt hat, waren sein Privatleben, seine Familie und Freunde.
du Plessis: Das muss intensiv spürbar gewesen sein, als Sie seine Gefängniszelle auf Robben Island besucht haben.
Pienaar: Ja. Erst dort begriff ich wirklich, was Mandela Großes geleistet hat. Wenn man seine Zelle betritt und die Wände berührt. Wenn man begreift, dass er dort 17 Jahre lang eingesperrt war und das Gefängnis mit Vergebung im Herzen verließ.
du Plessis: Wie haben Sie den Augenblick erlebt, als er vor dem World-Cup-Finale Ihre Mannschaft besuchte?
Pienaar: Vor dem Spiel war ich in der Kabine, habe mich umgezogen und fertig gemacht. Unter den Spielern herrschte große Anspannung. Eine aufgeladene Atmosphäre. Da klopfte es an die Tür. Sie ging auf, und da stand er. Er kam rein, mit ihm seine Leute, und trug das Springbok-Trikot! Worte können die Macht dieser Symbolik nicht ausdrücken …
du Plessis: Man kann es Menschen, die nicht in Südafrika aufgewachsen sind, einfach nicht beschreiben. Schwarze unter dem Apartheid-Regime hassten Rugby, sie hassten es abgrundtief!
„Es geht doch um dieselben Prinzipien: eine konsequente Strategie und den richtigen Umgang mit Emotionen.“ - François Pienaar
„Es ist eine große Herausforderung, immer die Nerven zu bewahren. Das macht die Rolle des Kapitäns aber gleichzeitig so reizvoll.“ - François Pienaar
Vor einer Ehrengalerie von Rugbygrößen im Council Room des Stadions Twickenham trafen Damien O’Brien (links) und David Kidd, beide Egon Zehnder London, sowie Ulrike Krause, „Connecting Leaders“, Jan du Plessis und François Pienaar zum Gespräch.
Pienaar: Aber das war noch nicht alles. Nachdem er in seinem Springbok-Trikot in die Kabine gekommen war, drehte er sich um, und ich sah meine Nummer auf seinem Rücken! Meine Gefühle hätten mich fast überwältigt. Ich hätte Mauern sprengen und Berge versetzen können, und vielleicht gab uns die Szene ja die innere Spannung, die wir brauchten. „Hallo, Jungs!“, sagte er. „Viel Glück!“ Und er drehte sich um und war wieder weg. Was für ein Augenblick. Ich hatte unsere Nationalhymne gelernt, aber draußen auf dem Platz konnte ich sie dann nicht singen, meine Gefühle waren einfach zu stark.
du Plessis: Nelson Mandela schuf Vertrauen in einer Umgebung, in der niemand zuvor je vertraut hatte. Doch was passiert, wenn die Businesswelt das in sie gesetzte Vertrauen verliert? In Europa, Nordamerika und Australien beobachte ich, dass die Menschen den Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft, Politik und Medien nicht mehr vertrauen. Verständlicherweise. In den letzten Jahrzehnten ist die Kluft zwischen Arm und Reich immer tiefer geworden, und in der heutigen transparenten Welt tritt das soziale Gefälle offen zutage. Außerdem behandeln wir die Mächtigen nicht mehr mit derselben Ehrfurcht wie früher. Wir wissen: Politiker sind ganz normale Menschen. Was uns das Format Nelson Mandelas umso klarer vor Augen führt.
Pienaar: Und die globale Finanzkrise hat die Lage verschärft. Viele Unternehmen, so glaubt die Öffentlichkeit, haben ihre Stakeholder im Stich gelassen.
du Plessis: Gewiss haben einige auf ihrem Posten geschlafen; aber es hat wohl auch eine kollektive Pflichtvergessenheit geherrscht. Es ist immer leicht, Einzelpersonen zu kritisieren. Der Vertrauensverlust betrifft auch andere Bereiche, besonders die Medienbranche.
Pienaar: Manche haben wohl wirklich „auf ihrem Posten geschlafen“, wie Sie es ausdrücken. Doch andere handelten offenbar aus Egoismus und Gier. So verspielt man Vertrauen.
du Plessis: Da ist etwas dran.
Pienaar: Menschen sind bereit, Fehler zu verzeihen. Aber wenn aus Egoismus gehandelt wird, geht Vertrauen verloren. In Clint Eastwoods Film Invictus wurde meine Figur idealisiert, so dass ich mich etwas unwohl in meiner Haut fühlte. Es schien mir zu viel der Ehre für den Kapitän – einige meiner Teamkameraden empfanden es vermutlich ähnlich. Zum Glück hatte ich auf die Konzeption des Films keinerlei Einfluss gehabt, andernfalls hätte ich vielleicht das Vertrauen meiner Kameraden verloren, und dieses Vertrauen lässt sich nur durch Taten wiederherstellen – Worte allein genügen nicht.
du Plessis: Mancher Unternehmer mag glauben, er könne mit dem ihm zur Verfügung stehenden Geld machen, was er will. Die meisten Chairmen britischer Unternehmen aber sind sich heute des Vertrauens bewusst, das man in sie setzt, und ihrer Verpflichtungen, die damit einhergehen. Der Begriff trustee bezeichnet jemanden, dem man trust, Vertrauen, entgegenbringt – diese Unternehmensführer wissen, dass sie Treuhänder für das Vermögen anderer sind. Und sie müssen sich dieses Vertrauens würdig erweisen – was uns wieder zu Mandela bringt und seinem Mut, anderen zu vertrauen.
Pienaar: Ja. Der Augenblick, als er damals mit dem Springbok auf der Brust auf den Platz hinausging, hat nicht nur unser Leben verändert, er hat die Geschichte neu geschrieben. 63.000 Zuschauer – darunter sowohl Konservative wie auch Liberale – riefen „Nelson, Nelson, Nelson!“ Als nach der regulären Spielzeit der Schlusspfiff ertönte, stand es unentschieden, und ich musste das Team neu motivieren. Da stimmte das ganze Stadion „Shosholoza“ an, ein Bergarbeiterlied der Ndebele. 99 Prozent der Zuschauer an jenem Tag waren weiß, doch sie sangen ein schwarzes Volkslied. Keine Ahnung, wie es dazu kam – es gab so viel Zauber an jenem Tag, und er hält noch immer an. Als wir 1994 zur Demokratie wurden, dachte die Welt, wir würden es nicht packen. 20 Jahre später können wir auf viele Erfolge zurückblicken. Aber für die nächsten Schritte wird es wohl auf Leadership ankommen. Was meinen Sie?
du Plessis: Das sehe ich auch so. Vieles ist für Südafrika gut gelaufen, doch vor uns liegen enorme Herausforderungen, und ganz oben fehlt es an dem, was Sie Leadership nennen. Die Zukunft unseres Landes wird entscheidend von überzeugender Führung abhängen. Damit meine ich weniger die Kompetenzen als vielmehr Werteorientierung und Rechtschaffenheit. Die Beziehungen zwischen den Hautfarben, glaube ich, sind gut – alle wissen, dass wir vor einer gemeinsamen Aufgabe stehen.
Pienaar: Wir brauchen Menschen, die sich Mandela zum Vorbild nehmen. Sie können es nicht genauso machen wie er, das wäre unmöglich, aber sie sollten in seine Fußstapfen treten. Würde man mich fragen, ob ich die letzten 20 Jahre noch einmal erleben wollte, wäre meine Antwort: sofort. Aber in den nächsten 20 Jahren brauchen wir Leadership.
Imposanter Blick auf das Spielfeld der weltgrößten Rugby-Spielstätte: die königliche Loge in Twickenham.
François Pienaar,
geboren 1967 in Vereeniging, Südafrika, war Mannschaftskapitän der Springboks, der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft. 1995 gewann er mit seinem Team in Johannesburg nach einem dramatischen Finale gegen die All Blacks aus Neuseeland den World Cup. Dieser hochpolitische Sieg war die Krönung von Präsident Nelson Mandelas mutigem Wahlkampfmotto „Ein Team, ein Land“ und wurde nach der Abschaffung der Apartheid zum Symbol für die südafrikanische „Regenbogengesellschaft“. Mehr als zehn Jahre darauf wurden Mandela und Pienaar, gespielt von Morgan Freeman und Matt Damon, zu Hauptfiguren in Clint Eastwoods Film Invictus. Er basiert auf John Carlins Buch Der Sieg des Nelson Mandela: Wie aus Feinden Freunde wurden. Nelson Mandela hat über François Pienaar einmal gesagt: „Unter seiner engagierten Führung wurde Rugby zum Stolz eines ganzen Landes; sein Vorbild wirkte weit jenseits der Rugbywelt, und er ist der wahre Vertreter aller Südafrikaner. Unter seiner inspirierenden Führung wurde ein Land geeinigt.“ Pienaar ist der einzige Südafrikaner, der sowohl in die International Rugby Hall of Fame als auch in die IRB Hall of Fame aufgenommen wurde. Seine bewegenden Worte nach dem Außenseitererfolg im World Cup von 1995 – „Heute hatten wir nicht nur die Unterstützung von 63.000 Südafrikanern (im Stadion), sondern von 42 Millionen Südafrikanern“ – trugen dazu bei, die junge Demokratie zu festigen. Nach dem World Cup wurde Pienaar zunächst Spielertrainer, dann Coach des Londoner Rugbyklubs Saracens. 2002 kehrte er mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen nach Südafrika zurück, behielt aber seine Position im Saracens-Verwaltungsrat. Im Alter von 33 Jahren erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universität von Hertfordshire. 1999 veröffentlichte er zusammen mit Edward Griffiths seine Autobiografie The Rainbow Warrior. 2003 trat er in die First Rand Bank ein und war bis 2009 Chairman der FNB für die Provinz Western Cape. Anschließend gründete er Advent Sport Entertainment and Media Ltd. Pienaar ist außerdem Mitbegründer des FN Varsity Cup und Gründer der Firma ASEM Varsity Sports. Pienaar unterstützt das Krankenhaus CHOC (Children’s Haematology and Oncology Clinic). 2003 gründete er die Stiftung MAD(Make A Difference Foundation), die schulisch begabte Jugendliche aus sozial benachteiligten Milieus unterstützt. Derzeit ist Pienaar Chairman dieser Stiftung.
Jan du Plessis,
geboren 1954 bei Kapstadt, Südafrika, ist seit 2009 Chairman von Rio Tinto und lebt in England. Von früh auf Rugbyfan, besitzt er sowohl die britische als auch die südafrikanische Staatsangehörigkeit. Du Plessis, dem man großes Verhandlungsgeschick nachsagt, führte Rio Tinto aus der tiefen Krise, in die das Unternehmen in den Jahren zuvor geraten war. Vor seiner Berufung zum Group Finance Director bei der Compagnie Financière Richemont und – von 1990 bis 1995 – bei Rothmans International hatte er leitende Positionen bei der südafrikanischen Rembrandt Group inne. Später wurde er Non-Executive Director im Board von British American Tobacco, anschließend dessen Chairman. Es folgten Posten als Chairman des britischen Nahrungsmittelkonzerns RHM und als Non-Executive Director im Board von Lloyds TSB Group. Derzeit ist Jan du Plessis neben seiner Arbeit in der Bergbauindustrie Senior Independent Director von Marks & Spencer.
PHOTOGRAPHY: FRITZ BECK