1
Sir Ernest Shackleton zählt zu den bedeutendsten Forschern und Entdeckern des „heroischen Zeitalters“ der Polarforschung. Berühmt wurde er vor allem als Leiter der britischen Antarktis-Expedition von 1914 bis 1916. Die Expedition scheiterte zwar, als Shackletons Schiff, die „Endurance“, im Packeis zerdrückt wurde. Doch dank seiner umsichtigen Führung gelang es, alle Expeditionsteilnehmer zu retten. Großen Anteil daran hatte Shackletons Fähigkeit, je nach Gefahrenlage immer neue Teams zusammenzustellen – eine wertvolle Lektion für heutige Krisenmanager.
Von Stephanie Capparell
Selbst leistungsstarke Unternehmen in den ökonomisch gesündesten Regionen der Welt blicken derzeit mit Ungewissheit in die Zukunft. Organisationen verändern sich in Zeiten der Krise oft dramatisch. In Bereichen, die unbedeutend schienen, tun sich plötzlich wirtschaftliche Abgründe auf. Führungshierarchien verflachen, das mittlere Management verliert an Macht. Spezialisierung gilt zunehmend als Luxus.
Manchem Wirtschaftsführer mag das derzeitige ökonomische Umfeld so lebensfeindlich erscheinen, wie dem Forscher Sir Ernest Shackleton einst der Südpol. Gerade sein Beispiel lehrt aber auch, wie man mit starken Teams Gefahren begegnen kann, ohne darin umzukommen. Shackleton war 1914 mit seinem Schiff „Endurance“ zu einer spektakulären Expedition aufgebrochen. Als Erster wollte er den antarktischen Kontinent auf dem Landweg durchqueren. Nur noch eine Tagesreise von der Küste entfernt, wurde die „Endurance“ jedoch vom Packeis eingeschlossen.
Was folgte, war eine Kette immer bedrohlicherer Katastrophen. Die „Endurance“ driftete zehn Monate lang mit den Eismassen, die sie gefangen hielten. Dann sah sich Shackletons 27-köpfige Mannschaft – Seeleute, Wissenschaftler und andere Fachleute mit sehr unterschiedlicher Seeerfahrung – gezwungen, das Schiff zu verlassen und auf schwankenden Eisschollen ein Lager einzurichten. Kurz darauf mussten die Männer erschüttert mit ansehen, wie die „Endurance“ im Meer versank. Als vier Monate später das Eis unter ihren Füßen zu brechen begann, stiegen die Expeditionsteilnehmer in drei Rettungsboote. Sie überlebten eine schreckliche einwöchige Fahrt durch das Packeis und landeten schließlich an den Ufern einer kleinen Insel, auf der die Mannschaft unter den umgedrehten Rettungsbooten Zuflucht nehmen musste. Schließlich segelte eine sechsköpfige Gruppe 1300 Kilometer über das sturmgepeitschte Meer, um besiedeltes Ufer zu erreichen und eine Rettungsaktion organisieren zu können. Am Ende überlebten alle Teilnehmer die Expedition – und das in erstaunlich guter geistiger und körperlicher Verfassung.
Persönlichkeit im Fokus
Das war Shackletons Verdienst. Unter normalen Umständen besaß er gute, in Krisensituationen aber brillante Führungsqualitäten. Entscheidend für seine erfolgreiche Menschenführung war die Fähigkeit, funktionierende Teams zusammenzustellen. Bereits an Bord der „Endurance“ auf der Fahrt ins ewige Eis und in Vorbereitung auf die eigentliche Expedition bildete Shackleton Gruppen, um Ordnung, Disziplin und Kameradschaft zu etablieren. Bei längerfristigen Aufgaben setzte er auf Teams von Freunden, die sich selbst zusammentaten und die er bei Bedarf durch Männer mit ähnlichem Naturell ergänzte. Tägliche Routinearbeiten wurden nach dem Rotationsverfahren erledigt. Dabei mischte Shackleton die Mannschaften nach dem Zufallsprinzip anhand einer alphabetischen Liste ständig neu.
Durch dieses System beherrschte bald jedes Expeditionsmitglied sämtliche Aufgaben auf dem Schiff. In kürzester Zeit funktionierten alle Abläufe reibungslos. Jeder half mit, und nach getaner Arbeit wurde Wert auf Geselligkeit gelegt. Dadurch entwickelte sich ein starkes Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Männern, gepaart mit einem ausgeprägten Vertrauen in die Fähigkeiten des Expeditionsleiters.
Als die Mannschaft von der „Endurance“ auf das Eis umsiedeln musste, kam es mehr denn je darauf an, die Moral aufrechtzuerhalten. Shackleton wusste, wie wichtig es war, Widerstände zu entkräften und aufkeimender Mutlosigkeit zu begegnen. Bei der Zuteilung der fünf Zelte, die den Männern als Unterkunft dienen sollten, entschied er deshalb nach Persönlichkeit und Temperament der Einzelnen. Er sorgte in jedem Zelt für eine ausgewogene Mischung von Skeptikern und Optimisten. Selbst bezog Shackleton das kleinste Zelt und behielt drei Personen an seiner Seite: den widerspenstigen Fotografen, der dazu neigte, ihm die Führung streitig zu machen, das aufmüpfigste unter den Crewmitgliedern sowie den zaghaftesten der Männer. Über zehn lange Monate lang schaffte er es auf diese Weise, Hoffnungslosigkeit und Schwarzmalerei in Schach zu halten.
An Bord der Rettungsboote schließlich konnte die Zusammensetzung der drei Mannschaften über Leben oder Tod entscheiden. Shackleton musste sicherstellen, dass jedes Team in der Lage war, notfalls allein zurechtzukommen. Gleichzeitig brauchte er aber die Gewissheit, dass jede Gruppe sich für das Überleben der anderen einsetzen würde. Er sorgte in allen Booten für eine optimale Mischung von Erfahrung, Fähigkeiten und Charaktereigenschaften Zugleich beachtete er die bereits an Bord der „Endurance“ gültige dienstliche Rangordnung. Jede Crew verfügte dementsprechend über einen starken Anführer, einen exzellenten Navigator und jemanden, der die medizinische Versorgung gewährleisten konnte. Shackleton behielt wiederum die schwächsten Glieder der Kette – die Mutlosen und die Aufrührer – an seiner Seite. Alle erreichten das rettende Ufer – halb erfroren und hungrig, aber lebend.
Schließlich wählte Shackleton fünf Begleiter für den heroischen Versuch aus, bei einer entlegenen Walfangstation Hilfe zu suchen. Dafür nahm er den besten Navigator mit. Für die gute Stimmung wählte er einen von den Spaßvögeln aus. Schließlich nahm er noch jene beiden Expeditionsteilnehmer mit, die Shackletons Führung des Öfteren in Frage gestellt hatten, und jenen Mann, der am meisten darauf drängte, mitzukommen. Diesem Team gelang es tatsächlich, die Inselgruppe Südgeorgien im Südatlantik zu erreichen und die Rettung der Zurückgelassenen zu organisieren. Shackletons durchdachte Menschenführung ebnete damit letztendlich den Ausweg aus der Katastrophe. Seine Erfolgsformel: Optimismus und Teamwork.
Stephanie Capparell ist Autorin von „Shackletons Führungskunst: Was Manager von dem großen Polarforscher lernen können“ (Viking/Eichborn). Die Wirtschaftsjournalistin und Filmemacherin lebt in New York City.
FOTO: ©SCOTT POLAR RESEARCH INSTITUTE, CAMBRIDGE