Selbstbild und Selbstverständnis von Führungskräften werden bisher wenig berücksichtigt. Dabei ist die intensive Auseinandersetzung mit diesem sensiblen Thema sowohl für die persönliche Leistung als auch für den Erfolg eines Unternehmens entscheidend.
Die Mitglieder des Business Advisory Council der renommierten Stanford Graduate School of Business – Manager und Unternehmer – wurden kürzlich gefragt, welche Fähigkeit eine Führungspersönlichkeit ihrer Ansicht und Erfahrung nach am vordringlichsten entwickeln müsse. Die fast einhellige Antwort lautete: Fähigkeit zur Selbsterkenntnis. – Konzentration auf das Ich statt strategischer Weitsicht? Das mag auf den ersten Blick erstaunen, doch bei genauerem Hinsehen ergibt es Sinn. Management-Experte und Harvard-Professor William George drückt es so aus: „Wer andere führen will und soll, muss zunächst sich selbst führen können, muss seine Stärken und Schwächen kennen und annehmen, sich klar werden über eigene Werte, Motive und Glaubenssätze.“
Umso erstaunlicher ist es, dass gerade diese Themen bei Karriereüberlegungen oft noch eine zu geringe Rolle spielen. In Personalentwicklungs- und Einstellungsgesprächen geht es meist um leicht greif- und erfassbare Größen wie bisherige Erfahrungen und Erfolge des Aspiranten, Kenntnisse, Fähigkeiten und Kompetenzen. Nur selten werden Selbstverständnis und Motivation des Kandidaten mit einbezogen. Sie gelten oft als Privatangelegenheit.
Dabei ist den Besetzungsgremien in den Unternehmen längst klar, dass die Persönlichkeit einer Führungskraft umso stärker zählt, je verantwortungsvoller die angestrebte Position ist. Individueller wie unternehmerischer Erfolg hängen davon ab, wie gut Mensch und Aufgabe zueinander passen. Weil derart persönliche und sensible Themen wie Selbstverständnis und Identität der Führungskraft nicht offen angesprochen werden, können sowohl das Eigenbild als auch die Fremdeinschätzung durch den Chef oder ein Recruiting Committee zu Fehlurteilen führen. Ein hervorragender Teamplayer ist nicht auch gleich ein guter „Mannschaftskapitän“.
Fehl am Platz?
So kann es geschehen, dass sich eine erfolgreiche Führungskraft in einer neuen Position als Fehlbesetzung erweist. Oder Führungskräfte sind nach einem Karrieresprung frustriert und unglücklich, weil sie das Gefühl haben, am falschen Platz zu sein. Woran liegt es?
Wenn mit Führungskräften ihre weitere berufliche Entwicklung diskutiert wird, weisen die Überlegungen oft nur in eine Richtung. Es geht um den Aufstieg in die nächste Hierarchieebene oder in eine Position mit breiterem Aufgabenspektrum und mehr Verantwortung. Führungskräfte, die erwartungsgemäß Beweglichkeit, Engagement und Ambition zu demonstrieren haben, befürchten, dass sie an Ansehen und Einfluss in der Organisation oder gar ihren Job verlieren könnten, sollten sie offenbaren, dass sie mit dem Status quo zufrieden sind. Wer schon weit vorangekommen ist, hat vermutlich Schwierigkeiten, nach vielen Jahren professionellen Einsatzes sein Selbstbild und seine Motive zu hinterfragen. Er könnte damit möglicherweise die Büchse der Pandora öffnen, müsste sich mit Gefühlen und Gedanken auseinandersetzen, die den bisherigen Weg in Frage stellen. So wird die berufliche „Vorwärts-Aufwärts-Strategie“ zur Selbstverständlichkeit, die nicht mehr hinterfragt wird.
Berufliche Ambitionen und der Wunsch nach Erfolg können dabei die unterschiedlichsten Wurzeln haben. Nicht immer sind diese Antriebskräfte hilfreich, können sogar destruktiv wirken. Mehr Einkommen und ein höherer Status sind für viele Führungskräfte extrinsische Motivatoren, aber genauso kann der Karrierewunsch aus dem Bestreben entspringen, Erwartungen anderer zu erfüllen, etwa jene der Familie oder um Freunde zu beeindrucken. Manchen dient die Karriere auch dazu, Defizite und Verluste im Leben zu kompensieren.
Ein genauer Blick auf sich selbst
All dies macht deutlich, warum es wichtig ist, sich seiner selbst bewusst zu werden und ein tiefes Verständnis für die eigenen Motive in Bezug auf die berufliche Agenda zu entwickeln. Dazu ist es notwendig zu verstehen, wie die Identität in eine gesamthafte Sichtweise der Persönlichkeit passt und welche Rolle sie dort spielt. Wir stützen uns bei Egon Zehnder dabei auf folgendes Modell:
- Motivation. Den innersten Kern dieses fünfschaligen Modells der Persönlichkeit stellen die unbewussten Motive dar, die kaum beeinflussbar oder zu ändern sind. Die psychologische Forschung geht heute davon aus, dass Menschen unbewusst von drei Grundmotiven angetrieben werden – von Affiliation (dem Wunsch bzw. der Art und Weise der Verbindung mit anderen Menschen), von Achievement (der Absicherung von Zielen) und von Machtstreben. Bei den meisten Menschen wirken alle drei Grundmotive in unterschiedlich starker Ausprägung.
- Eigenschaften. Dies sind tief in der Persönlichkeit verankerte Charakterzüge. Die meisten Persönlichkeitsmodelle basieren heute auf wenigen Faktoren, deren unterschiedliche Kombination und Ausprägung ein Individuum entscheidend formen. Auch diese charakterlichen Eigenschaften (zum Beispiel: Offenheit, Extrovertiertheit, Introvertiertheit) sind nur schwer zu verändern.
- Identität. Verglichen mit Motivation und Eigenschaften ist die Identität wandelbarer. Sie wird zwar von den beiden erstgenannten Faktoren beeinflusst, ist aber zugleich abhängig von Erfahrungen und individuellen Lebenszusammenhängen. Sie ist somit eine wichtige, aber keine unveränderliche Konstante. Die Entwicklung der eigenen Identität fußt auf zwei fundamentalen Prozessen: der Selbsterkenntnis und dem Selbstentwurf.
- Fertigkeiten. Damit ist die Fähigkeit gemeint, vorhandenes oder neu erworbenes Wissen in praktische Ergebnisse umzusetzen. Diese Fähigkeiten nehmen durch Training und Erfahrung zu, sind somit gut beeinflussbar.
- Wissen. Das gilt für das Wissen über große Zusammenhänge ebenso wie für Expertenwissen: Wissenserwerb ist für Führungskräfte eine Daueraufgabe.
„Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, aber auch gute Leistungen und persönliche Erfüllung hängen davon ab, wie gut Aufgabe und Persönlichkeit harmonieren.“
Bei der Potenzialbewertung von Führungskräften setzen wir uns in der Beratungspraxis inzwischen intensiv mit deren individuellem Selbstverständnis auseinander. Das kann sich als schwieriger, manchmal sogar schmerzhafter Prozess erweisen. Denn es braucht Mut – gerade im beruflichen Kontext –, das eigene Ich zum Gegenstand der Diskussion zu machen, das Visier zu öffnen und zumindest zeitweilig aus der Inszenierung der eigenen Person auszusteigen. Deshalb ist es wichtig, dass ein vertraulicher Umgang mit dem Thema Identität sichergestellt ist und sensible Informationen später nicht gegen die Führungskraft eingesetzt werden. Oft ist es effektiver, derart persönliche Gespräche mit einem externen Partner zu führen – also mit jemandem, der einen objektiven Standpunkt und Abstand zu der üblichen Beziehung zwischen Führungskraft und Vorgesetztem hat. Ein solcher Dialog braucht Zeit. Bei der diffizilen Suche nach dem Kern einer Persönlichkeit kann eine Reihe von Gesprächen über Monate hinweg notwendig sein, um Antworten auf sehr persönliche Fragen zu finden:
- Was macht eine Aufgabe für mich spannend? Was schenkt mir dabei Energie und was raubt sie mir?
- Welche persönliche Motivation hat mich in meine jetzige Rolle gebracht und was spornt mich dazu an, die nächste Position anzustreben?
- Was bestärkt mein Selbstwertgefühl und was untergräbt es? Wie fühle ich mich in meiner Rolle? Macht mich irgendetwas oder irgendjemand ärgerlich, ängstlich, unausgeglichen? Was kann ich daraus lernen? Wann fühle ich mich verletzt? Warum? Wann fühle ich mich wertgeschätzt oder unterstützt? Wie weit kann ich meine Gefühle ausdrücken? Was hindert mich daran?
- Wie würde meine persönliche Lebensbilanz aktuell aussehen? Was bedauere ich? Was hätte ich anders machen sollen?
- Was mag ich in meiner momentanen Rolle nicht, nehme es aber hin? Wird dies auch in meiner nächsten Aufgabe vorkommen? Bin ich bereit, diesen Preis zu zahlen?
- Wie sehe ich mich selbst, wie sehen mich andere?
- Welche Auswirkungen wird ein vielleicht noch stärkeres berufliches Engagement auf mein Privatleben haben?
- Wie wird sich die angestrebte Position von den Anforderungen der bisherigen unterscheiden? Was muss ich tun, um in der neuen Position erfolgreich zu sein? Wie viel intellektuelle und emotionale Kraft wird mich das möglicherweise kosten?
Antworten auf diese Fragen sollten dabei helfen, sich zu erkennen, die eigenen Motive und Werte besser zu verstehen und damit dem Kern der eigenen Persönlichkeit nahezukommen. Mit der gewonnenen Einsicht über die eigene Identität sollte es leichter gelingen, sich darüber klar zu werden, ob der nächste Karriereschritt tatsächlich der richtige ist.
Identität kann sich verändern
Die eigene Identität ist keine unveränderliche Konstante. Erfahrungen und Einsichten, die Menschen im Lauf ihres Lebens gewinnen, verändern auch ihren Blick auf sich selbst, ihre Prioritäten und ihr Selbstverständnis. Das trifft auf das private Umfeld ebenso zu wie auf das berufliche. Junge High Potentials am Anfang ihrer Karriere etwa definieren ihre gesamte Identität sehr stark über ihre Arbeit, über Leistung und Aufstieg. In der mittleren Lebensphase definieren sich Führungskräfte immer noch sehr über ihre beruflichen Aufgaben, übernehmen aber meist zusätzliche private Rollen etwa als Ehepartner und Eltern. Drei innere Entwicklungen prägen diesen Lebensabschnitt nach Ansicht von Psychologen besonders: die Überprüfung dessen, was einmal befriedigend war und nun nicht mehr zum persönlichen Lebensstil passt, die Neubewertung persönlicher Ziele sowie eine Neuinterpretation der eigenen Zukunft mit einem Schwerpunkt darauf, einst vage Pläne endlich in die Realität umzusetzen.
In ihren reifen Jahren werden extrinsische Anreize auch für Führungskräfte immer unwichtiger und intrinsische Werte wie etwa die Übereinstimmung von Außenwahrnehmung und Selbstbild, die eigene emotionale Balance oder der persönliche Beitrag zur Gesellschaft gewinnen an Bedeutung. Es ist also sowohl aus Sicht der betreffenden Persönlichkeit als auch aus der Perspektive des jeweiligen Vorgesetzten wichtig, sich bei Karriere- und Entwicklungsüberlegungen auch Gedanken über die jeweilige Lebensphase zu machen.
Zugleich aber sollte eine mögliche Beförderung nicht allein deshalb ad acta gelegt werden, weil die künftige Aufgabe und Rolle zunächst nicht zur Persönlichkeit einer Führungskraft zu passen scheinen. Jede Beförderung verlangt ja auch, die eigene Komfortzone zu verlassen. Verunsicherte Führungskräfte ziehen sich oft auf die eigene Identität in Form von bekannten und erprobten Verhaltensweisen zurück. Angesichts der radikalen Veränderungen in ihrem Umfeld müssen zahlreiche Unternehmen heute oft gravierende Kurswechsel vollziehen. Neue Märkte und Produkte, Kunden mit veränderten Ansprüchen verlangen neue Strategien, andere Geschäfts- und Führungsmodelle. Ein allzu rigides Selbstkonzept des Führungsteams oder einzelner Führungskräfte an wichtigen Schaltstellen können da ein Hindernis werden.
Die renommierte Organisationswissenschaftlerin Herminia Ibarra rät Führungskräften, sich als „work in progress“ zu verstehen, „adaptively authentic“ zu sein und so zu neuen Einsichten auch über sich selbst zu gelangen. Inkonsistenz in Maßen ist dabei erlaubt. „Handeln“, so die Wissenschaftlerin, „verändert uns!“ Führungskräfte sollten nicht am „Ich“ ihrer Vergangenheit festhalten, sondern sich fragen: „Wie will ich sein? Was ist mir künftig wichtig?“, und sich entsprechend weiterentwickeln. Vorgesetzte bzw. Organisationen sollten ihnen die dafür nötige Zeit und entsprechende Spielräume geben.
Die eigene Identität ändert sich, wie bereits dargestellt, nicht von heute auf morgen. Es gilt vielmehr, sich behutsam zu verändern, neue Rollen auszuprobieren und damit zu einem neuen Selbstverständnis zu finden. Es ist sowohl die individuelle Aufgabe jedes Executive als auch die Verantwortung des jeweiligen Führungsverantwortlichen, seine vielversprechenden Mitarbeiter in diesem Prozess effektiv zu unterstützen.
Führungskräfte, denen es gelingt, die Übereinstimmung zwischen Identität und beruflicher Rolle zu leben, werden Herausforderungen effektiver meistern. Denn Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit, aber auch gute Leistungen und persönliche Erfüllung hängen davon ab, wie gut Aufgabe und Persönlichkeit harmonieren. Die Unternehmen sind dabei aufgefordert, das jeweilige Selbstverständnis ihrer Führungskräfte beim Talentmanagement stärker zu berücksichtigen. Und sie sollten sich zudem überlegen, ob und in welcher Form sie künftig alternativ zu den üblichen Karrierepfaden „Orden“ anbieten können. Gerade die radikalen Veränderungen der Arbeitswelt durch die Digitalisierung bieten hier eine Vielzahl neuer Möglichkeiten.
Silke Eisenreich
ist seit 1999 Beraterin bei Egon Zehnder. Von den Standorten Wien und Frankfurt am Main aus berät sie vor allem Klienten aus den Bereichen Financial Services und Health.
James Martin
ist seit 2000 Berater im Londoner Büro von Egon Zehnder.
Er leitet die globalen Aktivitäten der Human Resources Practice und berät Unternehmen zu Fragen des Talent Management.