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Familienbilder

Ein kunst­historischer Streifzug

1

Bevor im bürgerlichen Zeitalter die Familie als Keimzelle der Gesellschaft auch als Bildmotiv allgegenwärtig wurde, waren es in den Jahrhunderten zuvor die herrschenden Familien, die in der Malerei ihre Spuren hinterließen. In Zeiten, in denen repräsentative Überhöhung Programm war, arbeiteten Künstler Brüche heraus; wo familiäre Innerlichkeit möglich gewesen wäre, suchten sie patriotische Indienstnahme. Diese Gemälde spiegeln aber nicht nur den politisch-gesellschaftlichen Wandel der Familien, sie tragen zugleich die individuelle Signatur der geistigen Urheber.

Von Wibke von Bonin

1.

Man hielt sich Jagdhunde und Hofzwerge, die Damen knicksten in großen Reifröcken, und die Herren trugen Halskrausen. Man herrschte über nahe wie ferne Länder und genoss, was man erobert hatte. Reichtum und Prachtentfaltung bei strenger Etikette – das Leben am Hofe Felipe IV., detailreich dargestellt auf dem Bild „Las Meninas“ (1656, Die Hoffräulein) des Hofmalers Diego Velázquez (1599–1660), lässt nichts davon ahnen, dass in anderen Teilen Europas der Dreißigjährige Krieg noch immer Folgen zeitigte und dass die fortgesetzte Schwächung der Macht des spanischen Königshauses als Damoklesschwert über Madrid hing. Die Thronfolge war gefährdet. Von acht ehelichen Kindern des Königs lebte noch eine Tochter, als er 1649 in zweiter Ehe die seinem kurz zuvor verstorbenen Sohn und Thronerben zugedachte Maria Anna von Österreich heiratete. Er war 42, sie erst 15 Jahre alt und seine leibliche Nichte.

Aus dieser Verbindung ging als erste Margarita Teresa hervor, die als Fünfjährige im Mittelpunkt des Gemäldes steht, das ab dem 18. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts „La Familia“ hieß und als eines der meistbewunderten und -diskutierten Gemälde in die Kunstgeschichte einging. Die adligen jungen Damen, die sich der Prinzessin zuneigen, sind namentlich bekannt, wie auch die Kleinwüchsigen rechts im Bild und die Personen hinter ihnen. Das Interesse der Bildbetrachter konzentriert sich jedoch auf die beiden erleuchteten Rechtecke am Ende des Raums. Denn hier glaubt man nahezu einhellig links als Spiegelbild das Königspaar erkennen zu können, während rechts auf der Treppe im Gegenlicht der Hofmarschall José Nieto zu sehen ist. Als Beistand des Königs hatte er ihm die Türen zu öffnen; seine Gegenwart in dem Familienbild wird als Indiz dafür gewertet, dass es sich bei den als Brustbild Gespiegelten tatsächlich um Felipe IV. und seine Gemahlin handelt, obgleich es sich eigentlich nicht gehörte, die Majestäten anders als in ganzer Größe darzustellen.

Diego Velázquez konnte sich diesen Verstoß gegen die Etikette offensichtlich leisten, und zudem auch den, sich selbst als Maler größer als alle anderen Personen ins Bild zu bringen. Der König hatte ihm in seinem Palast Alcazar Wohnung und Atelier eingeräumt; ein Stuhl stand dort für seine häufigen Besuche bereit. Somit ist die These die wahrscheinlichste, dass das Königspaar sich – wie der Betrachter – vor dem Bild befinde, während es von Velázquez auf der Riesenleinwand verewigt und von den auf dem Gemälde Dargestellten dabei beobachtet werde. Die Prinzessin wurde 15-jährig mit Leopold I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, verheiratet und starb mit 22 Jahren. Als Carlos II., der zehn Jahre nach Margarita Teresa endlich geborene Thronerbe, im Jahr 1700 starb, erlosch die durch innerfamiliäre Heiraten geschwächte spanische Linie der Habsburger.

2.

Genau hundert Jahre später malte Francisco de Goya (1746–1828) seinen König und dessen Familie unter dem Titel „La familia de Carlos IV“. Der König galt als geistig zurückgeblieben; er überließ die Regierungsgeschäfte seiner Frau María Luisa de Parma, einer Cousine ersten Grades, und einem hohen Offizier der spanischen Armee, Manuel de Godoy, der auch ihr Liebhaber und der Vater der jüngsten ihrer 14 Kinder war. Goya war ab 1799 der Erste Hofmaler des Königs und schuf in seinem Auftrag auf Schloss Aranjuez das großformatige Familienbild, das in seinem schonungslosen Realismus zu den Inkunabeln der Porträtkunst zählt. Wie Velázquez gab auch er sich einen Platz auf dem Bild, doch weit zurückhaltender, im Halbschatten links hinter dem zukünftigen König Fernando VII. Dieser selbstbewusst dreinschauende Mann ist der Einzige, dessen Gesicht durch das von links einfallende Licht herausgehoben ist. Dieses beleuchtet zudem den vollen Busen der Dame neben ihm, deren Antlitz absichtlich anonym blieb, um Platz für die Züge der noch nicht erwählten Gattin des Prinzen zu lassen. Die Königin dominiert das Zentrum mit goldglänzender Robe und einem Blick, der an Impertinenz nichts zu wünschen übrig lässt. Ihre Arme fallen auf die gemeinsamen Kinder mit Godoy hinab; der kleine Francisco de Paula guckt verschreckt und hilfesuchend aus dem Bild, während der massige, ordengeschmückte König teilnahmslos in die Ferne blickt. Des Weiteren posieren seine Geschwister und deren Kinder, zukünftige Herrscher über Portugal und Parma. Der Lauf der Geschichte Europas wurde durch diese Menschen bestimmt oder gehemmt – die Kunstgeschichte hat durch Goyas erbarmungslose Offenheit ein Zeugnis dafür gewonnen, dass die Idee von der Herrschaft weniger Privilegierter über ihr Volk auf ein Ende zulaufen musste. Er war ein wacher und kritischer Bürger der Revolutionszeit und konnte es sich erlauben, die Granden in ihren Porträts bloßzustellen.

3.

Während andere Nationen sich im 17. Jahrhundert in Kriegen aufrieben, konzentrierten sich die vom spanischen Joch befreiten Niederländer auf Wirtschaft, Handel, Wissenschaft und Kultur. Über die Holländer herrschte kein König. Eine urbane Oberschicht aus Bankiers, Kaufleuten, Reedern und hohen Offizieren hatte das Sagen. In den Städten blühte die Kunst, ein gebildetes Bürgertum erfreute sich des wirtschaftlichen Erfolges und genoss das Wohlleben, das die Maler in den beliebten Stillleben und Porträts festhielten. Nicht der Bedeutendste, doch einer der Fleißigsten und Lustigsten war Jan Steen (um 1626–1679), ein keineswegs immer vom Glück verfolgter Bohemien, Sohn eines Brauers aus Leiden. In seinen Genreszenen stellte er gern die feiertäglichen Vergnügungen gesitteter Bürgersleute dar. Sein „Familienfest“ weist das gesamte Personal einer typischen, oft variierten Szenerie auf: Männer und Frauen aller Altersstufen unterhalten sich essend, trinkend, musizierend: ein dichtes Nebeneinander von fröhlichen Familienmitgliedern bis hin zum Wickelkind auf dem Schoß der Mutter, umsorgt, bestaunt, gehätschelt, und im Vordergrund ein Hündchen.

4.

Keineswegs turbulent gestaltet sich hingegen die „Réunion de famille“, das großbürgerliche Familientreffen in der französischen Provinz, wie Frédéric Bazille (1841–1870) es um 1850, also etwa 200 Jahre später malt. Und was kunsthistorisch bedeutender ist: Es findet im Freien statt. Auf einer ländlichen Terrasse im Schatten eines großen Baumes ordnet der Künstler aus Montpellier seine eigene Verwandtschaft in Gruppen an. Vorn links sitzen seine Eltern, dahinter stehen sein Bruder Marc und, am äußersten Bildrand, er selbst. Man kennt die Namen und Verwandtschaftsgrade der einzelnen Personen, der Schwägerin und der Cousinen, des Herrn Doktor und seiner Gemahlin. Doch die sind eher von Interesse für die Nachkommen dieser vornehmen Familie. Der heutige Betrachter des großen Gemäldes genießt die duftigen Sommerkleider der jungen Damen, die Sonnenflecken auf dem Boden und das zauberhafte kleine Stillleben aus Hut, Stock und Blumenstrauß im Vordergrund. Und er wundert sich über den feierlichen Ernst in den Gesichtern, die fast alle auf einen Punkt vorn außerhalb des Bildes gerichtet sind. Wäre das Bild ein paar Jahrzehnte später entstanden, so könnte man vermuten, hier werde auf eine gleichsam fotografische Perspektive Bezug genommen.

Der Maler war befreundet mit den Impressionisten, besonders mit Claude Monet. Drei Jahre nach dem Entstehen dieses friedlichen sommerlichen Idylls fiel Frédéric Bazille im November 1870, noch nicht 30-jährig, im französisch-preußischen Krieg.

5.

Als Porträtmaler konnte man im Amerika des beginnenden 18. Jahrhunderts nicht überleben. Talentierte Künstler arbeiteten zugleich als Kunsthandwerker, waren etwa Anstreicher oder Vergolder. Durch den aufblühenden Handel wurden in Städten wie Boston und Philadelphia zwar große Vermögen geschaffen, doch der neureiche Mittelstand kam nicht auf die Idee, die Künste zu fördern. Erst späteren Generationen gelang es, im Austausch mit den Meistern im englischen Mutterland, die Mängel der kolonialen Malerei zu überwinden.

Charles Willson Peale (1741–1827) war der Erste, der selbstbewusst genug war, nach einem mehrjährigen Studienaufenthalt in London schließlich in seiner Heimat als Autodidakt sein Heil zu suchen. Philadelphia war damals mit 70 000 Einwohnern die größte Stadt Amerikas und die reichste. Und diesen Reichtum mochte ein wohlhabender Bürger wie John Cadwalader inzwischen auch gern zur Schau stellen. Gleich fünf Werke für sein Herrenhaus gab er bei Peale in Auftrag, darunter „Portrait of John and Elizabeth Lloyd Cadwalader and Their Daughter Anne“. Das Familienporträt mit Frau und Tochter entstand 1772. Der Hausherr präsentiert sich in seiner Leibesfülle, während seine Frau in kostbarem Seidengewand und Rokokofrisur selbstbewusst zu ihm aufschaut. Er reicht seiner kleinen Tochter einen reifen Pfirsich und schaut sinnend auf die beiden herab. Das Gemälde strahlt eine ruhige Zufriedenheit aus. Das Ehepaar blickt nicht aus dem Bild heraus, ist mit sich und dem Kind beschäftigt, das von seinem Reichtum profitieren und wohl den Tugendregeln seiner Zeit entsprechend erzogen werden wird.

Der strenge Realismus seines Stils entsprach Peales selbstgewählter Aufgabe. Das Land brauchte Bilder seiner herausragenden Bürger und Helden. Der Künstler war ein glühender Patriot und schloss sich im Unabhängigkeitskrieg der Bürgermiliz an, in der er ab 1776 kämpfte und schnell eine Militärkarriere machte. Er wurde der erste Historienmaler der jungen Republik. Damals entstanden Bilder von Schlachtfeldern und Siegern, und immer wieder Porträts von George Washington, den er erstmals 1772 porträtiert hatte.

6.

Ein Präsidentenmaler war auch Norman Rockwell (1894–1978). Doch lange bevor seine Porträts von Dwight D. Eisenhower, Richard Nixon und John F. Kennedy in höchster Auflage auf den Titelseiten der „Saturday Evening Post“ erschienen, war der Künstler in den amerikanischen Haushalten heimisch, seine Figuren so populär wie die Walt Disneys. 1916 schmückte erstmals eine Illustration des 22-jährigen Rockwell das Massenblatt; es sollten in fast 50 Jahren über 300 werden. Die Menschen lieben seine Bilder, weil sie mit einem gewissen Augenzwinkern die amerikanische Durchschnittsfamilie idealisieren.

Eines seiner berühmtesten Bilder ist der Freiheit von Not gewidmet, „Freedom from Want“, entstanden 1942. Eine Großfamilie versammelt sich am Thanksgiving Day um den Esstisch, man plaudert bei bester Laune, während die Hausfrau den traditionellen Truthahn aufträgt, den das Familienoberhaupt gleich zerteilen wird. Man leidet nicht Mangel, doch es wird auch nicht geprasst: In den Gläsern ist Wasser. Es ist eine puritanische, eine heile Welt, gesehen von einem Standpunkt am Ende des Tisches, den auch der Betrachter einnimmt. Dieser könnte sich einbezogen, eingeladen fühlen von dem Mann rechts vorn. Es scheint jedenfalls genug Platz und Essen da zu sein für jeden. Das Idyll der Zufriedenheit ist mit so viel Genauigkeit wiedergegeben, dass es sich um eine Fotografie handeln könnte.

Dies ist eine der Illustrationen der „Vier Freiheiten“, zu denen Rockwell die gleichnamige programmatische „Rede zur Lage der Nation“ von Präsident Franklin D. Roosevelt vor dem Kongress 1941 inspiriert hatte. Der Künstler fand eindringliche Bilder für das Freisein von Not und von Angst, für die Freiheit der Rede und der Religionsausübung. Dafür sollte es sich zu kämpfen lohnen, dafür sollte sich das amerikanische Volk einsetzen, das zu jener Zeit mehrheitlich gegen einen Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg stimmte. Die „Saturday Evening Post“ druckte die „Vier Freiheiten“ im Februar/März 1943. Norman Rockwell, der sich nicht am Kampf für den amerikanischen Traum von Freiheit und Wohlleben für jedermann beteiligen konnte, begriff seine Freiheitsillustrationen als missionierende Unterstützung des Präsidenten Roosevelt, dessen Wirtschaftsprogramm den Amerikanern nicht geringe Entbehrungen abnötigte.

Über weite Strecken der Geschichte hinweg sind uns wirkmächtige Vorstellungen von Familie insbesondere durch Werke der bildenden Kunst übermittelt. Ob sie nun vor der Folie eines dynastischen oder eines bürgerlichen Selbstverständnisses entstanden – von besonderem Rang sind diese Werke vor allem dann, wenn sie zugleich die subjektive Sicht der Künstler zum Vorschein bringen. Heute sind Fotografen an deren Seite, wenn nicht gar an deren Stelle getreten. Denn anders als es das ursprüngliche Diktum von der Fotografie als einem objektiven Abbild besagte, wird auch dieses Medium in höchstem Maße künstlerisch genutzt. Die Familienbilder von Thomas Struth sind hierfür nur ein Beispiel, wenn auch ein außergewöhnlich originäres.

Wibke von Bonin

Wibke von Bonin ist promovierte Kunsthistorikerin. Als Redakteurin für Bildende Kunst im Deutschen Fernsehen (WDR) begleitete sie das internationale Kunstgeschehen mit Dokumentationen und vermittelte in Einzelfilmen und Serien kunstgeschichtliche Themen aus allen Zeiten und Kulturen. Besonders populär wurde ihre Sendereihe „100 Meisterwerke aus den großen Museen der Welt“, zu der sie auch die begleitende Buchreihe herausgab. Sie veröffentlicht Texte zur Kunst in Büchern, Zeitschriften und Ausstellungskatalogen.

FOTOS: PICTURE ALLIANCE/UNITED ARCHIVES(VELAZQUEZ); PICTURE ALLIANCE/ARTCOLOR/A. KOCH(GOYA); PICTURE ALLIANCE/AKG-IMAGES/ERICH LESSING(STEEN); PICTURE ALLIANCE/AKG-IMAGES (BAZILLE); PHILADELPHIA MUSEUM OF ART/CORBIS (PEALE); CORBIS(ROCKWELL)

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