Bill Drayton ist ein „Changemaker“, einer der Veränderungen antreibt. Und er widmet sich dieser Aufgabe mit viel Engagement und Ehrgeiz. Die von ihm gegründete Organisation Ashoka setzt unternehmerische Instrumente ein, um einen gesellschaftlichen Wandel herbeizuführen. Social Entrepreneurs finden in diesem internationalen Netzwerk Unterstützung für die Verbreitung und den Erfolg ihrer Ideen.
AUF DEN ERSTEN BLICK wirkt der Ashoka-Gründer ruhig und reserviert, dennoch spürt man sofort, wie sehr er von seiner Sache überzeugt ist. Drayton ist ein Mann, der Tag und Nacht für seine Überzeugungen kämpft. Seine mächtigste Waffe ist seine Wortgewalt. Er hält überhaupt nichts von Oberflächlichkeiten und wird nicht müde, seine Ziele detailliert zu erläutern. Deshalb ist ein Gespräch mit Bill Drayton im positiven Sinn eine überraschende und erstaunliche Erfahrung.
Focus: Gleich zu Beginn eine schwierige Frage: Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Citizen Sector in den letzten Jahren? Wie sieht seine Zukunft aus, wie sollte er sich Ihrer Meinung nach weiterentwickeln?
Bill Drayton: Im sogenannten Citizen Sector, auf dem Ashoka als eine gemeinnützige und nicht am Profit orientierte Organisation tätig ist, steht ebenso wie in allen anderen Sektoren im nächsten Jahrzehnt der Übergang an von der Entstehungs- und Etablierungsphase hin zur Phase der vollen Entfaltung mit Multiplikatorenwirkung. Dieser Übergang stellt jede Institution, jeden Einzelnen von uns vor große Herausforderungen. Das gilt insbesondere für den Citizen Sector, der strukturell betrachtet 1980 den Anschluss an unternehmerisches Denken und an Wettbewerbsfähigkeit gefunden hat. Zuvor waren die unzureichenden Strukturen dafür verantwortlich, dass er hinterherhinkte. Inzwischen sind fast 30 Jahre vergangen, in denen wir hinsichtlich der Produktivität rasch aufgeholt haben. Heute können Wirtschaft und Gesellschaft gleichberechtigt zusammenarbeiten, was früher nicht praktikabel war. Jetzt, da der Citizen Sector auf Augenhöhe mit dem Business Sector ist, rückt das große Ziel in greifbare Nähe – der Übergang zu einer Welt, in der jeder Einzelne ein Changemaker ist.
Focus: Das klingt ziemlich kompliziert. Sie haben einmal gesagt: „Social Entrepreneurs wollen nicht helfen. Sie wollen die Welt verändern.“ Welche Rolle spielt Social Entrepreneurship in dieser komplexen Gleichung?
Drayton: Social Entrepreneurship bringt den Wandel hervor und verleiht ihm Gestalt. Lassen Sie mich das erläutern: Um 1700 vollzog sich ein tiefgreifender Wandel in der Art und Weise, wie Geschäfte getätigt wurden. Bis dahin hatten wir es mit einer „Welt mit wenigen Akteuren“ zu tun. Da die Landwirtschaft seinerzeit nur bescheidene Gewinne abwarf, profitierten auch nur einige wenige von ihr. Genau hier liegt das Problem: Nach wie vor überlassen wir sowohl in gewinnorientierten Unternehmen als auch in gemeinnützigen Organisationen das Feld einigen wenigen Ideengebern, während alle anderen nur ausführende Organe sind. Dieses Muster wird aber angesichts der sich in zahlreichen Bereichen gleichzeitig ausbreitenden und skalierenden Veränderungen nicht mehr funktionieren.
„Das ist der Übergang zu einer Welt, in der jeder Einzelne ein Changemaker ist.“
Focus: Welche Konsequenzen hat der immer raschere Wandel für die Geschäftswelt? Und für Sie selbst?
Drayton: Ein Unternehmen, das in herkömmlicher Weise hierarchisch geführt wird, kann in unserer sich rasant verändernden Welt nicht bestehen. Es ist ein Auslaufmodell. Das Tempo, mit dem sich die Veränderungen vollziehen, wird im unternehmerischen wie auch im sozialen Sektor überall gleich hoch sein. Es kommt auch nicht auf die Größe des Unternehmens an. Aber wenn wir diesen Übergang tatsächlich schaffen, liegt eine wunderbare Zukunft vor uns.
Focus: Also muss das Management nun ganz schnell seine Einstellung ändern?
Drayton: Richtig. Wir stehen vor der tiefgreifendsten Veränderung in Sachen Mitarbeiterführung seit Jahrhunderten. Anders ausgedrückt: Im Wirtschaftsleben hat sich jahrhundertelang nur ganz allmählich etwas verändert. Heute hingegen vollzieht der Wandel sich sprichwörtlich exponentiell.
Focus: Woran merken Sie, dass wir gerade jetzt an einem Wendepunkt angekommen sind?
Drayton: Bei Ashoka haben wir in den letzten Monaten intensiv untersucht, wie Prozesse des Bewusstseinswandels vonstatten gehen. Sehen Sie sich die Ghandi-Bewegung in Indien oder die Bürgerrechtsbewegung in den Vereinigten Staaten an – alle sind nach einem verblüffend ähnlichen und sehr verständlichen Muster verlaufen. Meines Erachtens befinden wir uns derzeit in der Übergangsphase von „wenigen Akteuren“ zu „Everyone a Changemaker“, also am Anfang eines Wandels, der sich auf zahlreichen Bühnen gleichzeitig vollzieht und dadurch eine immense Dynamik zur Selbstvervielfältigung zeigen wird. Bislang war es meist so, dass ein oder zwei Organisationen stetig daran gearbeitet haben, den Wandlungsprozess voranzutreiben. Denken Sie an Organisationen wie die Bürgerrechtsorganisation NAACP in den Vereinigten Staaten. Fast alle haben lange gebraucht, um sich zu etablieren. Erst ganz allmählich entstehen kleine Cluster mit einer kritischer Masse, so dass tatsächlich Veränderungen stattfinden können, und dann kommt man allmählich an den Punkt, an dem wir uns jetzt gerade befinden, den Punkt, an dem jeder einzelne von uns Veränderungen antreibt: „Everyone a Changemaker“.
Focus: Liegt im Networking, einer der großen Stärken von Ashoka, der Schlüssel zum Meistern des Veränderungsprozesses?
Drayton: Wenn Sie die besten Entrepreneure der Welt dazu bewegen können, gemeinsam auf ein Ziel hinzuarbeiten, so verfügen Sie über ein Potenzial, das weit über die Summe der Einzelnen im unternehmerischen und im sozialen Sektor hinausgeht. Bei Social Entrepreneurs ist das natürlich insofern einfacher, als sie nicht das Ziel verfolgen, einen Markt für sich allein zu erobern. Das erleichtert die Zusammenarbeit über unterschiedliche Unternehmensformen hinweg.
"Social Entrepreneurship ist sehr ansteckend, denn die Menschen haben den großen Wunsch, im Alltag Nächstenliebe und Achtung zum Ausdruck zu bringen."
Focus: Sie propagieren einen sozialen Wandel in der Geschäftswelt. Woher nehmen Sie die Gewissheit, damit erfolgreich sein zu können?
Drayton: Social Entrepreneurship ist sehr ansteckend, denn die Menschen haben den großen Wunsch, im Alltag Nächstenliebe und Achtung zum Ausdruck zu bringen. Sie wollen selbst aktiv werden. Menschen, die sich die dazugehörigen sozialen Kompetenzen nicht aneignen und die nicht bestrebt sind, einen Wandel zu bewirken, werden zunehmend zu Außenseitern. Und wer will schon ein Außenseiter sein? Wir haben es hier also im weitesten Sinne mit einer Befreiungsbewegung zu tun. Wir befreien die Menschen dahingehend, dass sie künftig in der Lage sein werden, in großem Stil Nächstenliebe und Achtung zu praktizieren. Die Anforderungen an die soziale Kompetenz des Einzelnen sind heute bereits viel höher als vor zwanzig Jahren und nehmen weiterhin ständig zu. Deshalb muss sich jeder Manager überlegen, wie er all die Menschen, mit denen er zusammenarbeitet, dabei unterstützen kann, soziale Kompetenzen zu erwerben und zu verbessern. Die Fähigkeit, diese Kompetenzen zu kommunizieren und zu vermitteln, wird mit darüber entscheiden, wer ein erstklassiger Manager und was ein erstklassiges Unternehmen ist.
Focus: In der täglichen Praxis stellen wir fest, dass Hochschulabsolventen die Einstellung ihrer potenziellen Arbeitgeber sehr genau unter die Lupe nehmen.
Drayton: Ich möchte Ihnen ein Beispiel geben. In den letzten Monaten habe ich Gespräche mit einer Hotelkette mit knapp hunderttausend Mitarbeitern geführt. Dort wird nach dem Henry-Ford-Modell gearbeitet, beispielsweise bekommt das Zimmerpersonal strenge Anweisungen: „Bei uns werden die Betten so und so gemacht.“ Dieser hierarchische Ansatz zieht sich durch das ganze Unternehmen. Ich halte das für ein aussichtsloses Modell. Sobald auch nur ein Wettbewerber den Dreh raus hat, wie man ein Hotel auf „Everyone a Changemaker“-Basis führt, ist diese Hotelkette weg vom Fenster. Stellen Sie sich einmal vor, wie es in einem „Everyone a Changemaker“-Hotel zugeht. Dort lautet die Botschaft an jeden Mitarbeiter: All diese Menschen da draußen sind Reisende. Wie können wir ihren Wünschen und Bedürfnissen entgegenkommen?
Focus: Was bedeutet das nun für die Unternehmensführung? Und wie versuchen Sie in der Praxis einen Wandel in Unternehmen voranzutreiben?
Drayton: Im Grunde geht es um etwas, was eigentlich jedes Unternehmen machen sollte: Es geht darum herauszufinden, was die Kunden wirklich brauchen. Dieser Prozess darf aber nicht nur einigen wenigen smarten Leuten im Unternehmen vorbehalten bleiben. Sie müssen vielmehr jedem Einzelnen im Unternehmen sagen: „Sie sind ein Changemaker. Sie können herausfinden, was die Kunden wirklich brauchen, und wenn Sie auch noch einen Weg finden, dies umzusetzen, dann sind Sie spitze.“ Es geht darum, jedem Einzelnen – bis hin zum Portier – etwas zuzutrauen. Die gleiche Vorgehensweise sollten wir überall an den Tag legen, ob nun in Bildungsreinrichtungen, in Hotelketten oder Elektronikfirmen, denn nur so gelingt der Übergang zu einer Welt, in der gilt: „Everyone a Changemaker“.
Mit Bill Drayton sprachen in New York John J. Grumbar und Elaine Yew, beide Egon Zehnder, London
Bill Drayton
Bill Drayton wurde 1943 in New York als Sohn eines Archäologen und einer Cellistin geboren. Nach abgeschlossenen Studien an den Universitäten Harvard und Oxford besuchte er die Yale Law School. Sie verlieh ihm 1970 den akademischen Grad eines Juris Doctor.
Zu Beginn seiner beruflichen Laufbahn war Drayton bei McKinsey als Consultant tätig. Später arbeitete er für die US-amerikanische Environmental Protection Agency (EPA).
1980 gründete er Ashoka, eine international ausgerichtete gemeinnützige Organisation, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, weltweit mit den Instrumenten der Marktwirtschaft gesellschaftliche Probleme zu lösen. Drayton war maßgeblich an der Definition dessen beteiligt, was Sozialunternehmertum – Social Entrepreneurship – ausmacht: die Gründung von Unternehmen, deren Erfolg sich nicht am Gewinn bemisst, sondern am gesellschaftlichen Wandel, den sie bewirken. Im Idealfall lassen sich die Geschäftsmodelle von anderen Social Entrepreneurs kopieren – ein Multiplikatoreneffekt, der das Tempo des gesellschaftlichen Wandels beschleunigt. Als Ashoka 1980 gegründet wurde, verfügte die Organisation weltweit über ein Budget von 50000 US-Dollar. 2006 waren es circa 30 Millionen US-Dollar. Heute ist Ashoka in mehr als 30 Ländern präsent und unterstützt die Arbeit von circa 2000 Fellows.
FOTOS: JÜRGEN FRANK