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In Berlin wächst zwischen Kottbusser Tor und Rosenthaler Platz gerade eine höchst vielfältige neue „New Economy“ heran. Die Start-up-Szene lockt mittlerweile Young Professionals aus der halben Welt in die Hauptstadt – und versorgt sich dadurch automatisch mit einem wichtigen Treibstoff für schnelles Wachstum.
Von Harald Willenbrock
ES GEHT bereits schwer auf Lunchtime zu. Die Sommermittagssonne brennt auf den Asphalt der Berliner Invalidenstraße, als in der Hausnummer 15 ein bleicher Osteuropäer aus dem Bürofahrstuhl tritt und müde zu seinem PC schlurft. „Was, schon hier?“, begrüßt ihn Ijad Madisch ironisch und klopft dem Spätankömmling grinsend auf die Schultern. Madisch, 31, ein niedersächsischer Arzt und Virologe mit syrischen Wurzeln, ist einer der Shootingstars der Berliner Start-up-Szene. Sein Portal ResearchGate ist eine Art Kombination aus Facebook, LinkedIn und Twitter für Wissenschaftler, nur ohne Babyfotos und Katzenvideos. Rund 1,9 Millionen Forscher aus 193 Ländern nutzen Madischs Portal, um Aufsätze zu veröffentlichen, Forschungsvorhaben zu diskutieren und Forschungspartner zu finden. Von der Zentrale in der Berliner Invalidenstraße aus wird der digitale Austauschmotor beständig mit neuen Funktionalitäten aufgepowert. Und Spätankömmling Vyacheslav Zholudev, der in St. Petersburg geboren und in Bremen zum Software-Geek ausgebildet wurde, ist dabei einer von Madischs begabtesten Maschinisten.
Wer dem Firmengründer durch seine drei hellen Büro-stockwerke folgt, wähnt sich jäh zurück in den besten Zeiten des Internethypes. Langhaarige Programmierer hocken vor flimmernden Monitoren, mit Kopfhörern über den Ohren, Gothic-Shirts am Leib und Springerstiefeln an den Füßen. In diversen Besprechungsräumen wird hektisch präsentiert, „geskypt“ und „getelcot“. Das erste Stockwerk ist komplett Billard- und Tischtennistischen, Tischkickern sowie einer Mensa vorbehalten, in der jeder ResearchGate-Mitarbeiter zwischen drei kostenlosen Menüs wählen kann. „Unsere Spaßetage“, erklärt Madisch mit einer ausholenden Handbewegung, „schließlich gehört Entspannung zur Arbeit.“ Man glaubt sich mitten in einem Déjà-vu der New Economy.
Fantastischer Schnitt
Der große Unterschied zu damals: Heute sprechen nicht mehr nur die Wagniskapitalgeber Englisch. Unter Madischs 80 Mitarbeitern sind Ruander, Argentinier, Jemeniten, Venezolaner, Australier, Franzosen, Finnen, Russen, Polen, Äthiopier, US-Amerikaner, Syrer, Italiener und Engländer. „Für uns ist diese Vielfalt enorm wertvoll“, sagt der ResearchGate-Gründer, „jeder Mitarbeiter ist für uns gleich-zeitig ein Dolmetscher seines Heimatmarkts.“ Und die Anpassung an unterschiedlichste Märkte, Sprachen und Kulturen ist entscheidend, damit ResearchGate von indischen Biotechnologen genauso akzeptiert wird wie von chinesischen Politikwissenschaftlern. Zu Anfang, erinnert sich Madisch, habe er manchmal noch zu hören bekommen, seine Site sei unverkennbar deutschen Ursprungs. „Heute würde uns das nicht mehr passieren.“
Ein Beispiel: Während deutsche Wissenschaftler zumeist nur einen akademischen Titel angeben, sind ihre amerikanischen Kollegen gewohnt, sämtliche Qualifikationen aufzuzählen. Deshalb wird im ResearchGate-Anmeldefenster heute nicht mehr nach einem „Degree“, sondern nach „Degrees“ gefragt. Ein wahrhaft winziges Detail – aber eines, das mit über die weltweite Akzeptanz des Webtools entscheiden kann. Und ein unmittelbares Ergebnis von Madischs multinationaler Entwicklermannschaft.
Der Firmengründer selbst, der sich bescheiden als „Administrator“ vorstellt, ist das beste Beispiel für die Egal-wo-du-herkommst-Hauptsache-du-bringst-was-mit-Mentalität der Szene. Madischs Eltern stammen aus Syrien, er selbst wuchs in Celle und Wolfsburg auf, studierte in Harvard und kehrte im Oktober 2010 von Boston nach Deutschland zurück. Im Gepäck hatte er einige Millionen Dollar von Kapitalgebern wie Matt Cohler, einem der frühen LinkedIn- und Facebook-Pioniere, heute Partner beim amerikanischen Wagniskapitalgeber Benchmark. Cohler hätte ihm genauso gern eine Firmengründung im Silicon Valley finanziert, erzählt Madisch. Warum dann ausgerechnet Berlin?
„Weil die Konkurrenz um Raum und Talente hier kleiner ist als im Valley“, erklärt der Gründer. „Wir kriegen hier pro Woche im Schnitt sechs Initiativbewerbungen für Tech-Jobs. Das ist ein fantastischer Schnitt.“ Außerdem gelte Berlin mittlerweile in aller Welt als hippe Wahlheimat. „Wir haben gerade zwei Leute aus New York und dem Valley gehiret, die uns beide erklärt haben: ‚Wenn ich nach Europa gehe, gehe ich nach Berlin.‘“
Und weil das so ist, floriert heute entlang der U-Bahn-Linie 8 zwischen Kottbusser Tor und Rosenthaler Platz eine höchst kosmopolitische Gründerszene. Ihr Wachstum folgt dem ehernen Cluster-Gesetz, nach dem interessante Leute am liebsten dorthin gehen, wo bereits interessante Leute auf sie warten. Keimzelle und Kaffeequelle der Szene ist das legendäre Café St. Oberholz an der Torstraße, wo Businesspläne über die Cafétische gereicht werden wie anderswo Speisekarten. „In den letzten paar Jahren sind in Berlin 10 000 primäre Jobs bei Tech-Start-ups entstanden“, sagt Dr. Christian Nagel, „das ist schon enorm.“
„In den letzten Jahren sind in Berlin 10 000 primäre Jobs bei Tech- Start-ups entstanden.“
Für Earlybird-Partner Dr. Christian Nagel ist Berlin die
undeutscheste Stadt. Und damit derzeit „the place to be“ für Investoren.
Christian Nagels Büro liegt auf der gegenüberliegenden Seite der Torstraße und in einem großzügigen Hinterhofloft, das früher eine Tanzschule beherbergte. Eigentlich hatte Nagel, Gründer und Partner der Wagniskapitalfirma Earlybird , das Loft nur als Konferenz- und Präsentationsraum nutzen wollen, wenn es im „Oberholz“ mal zu voll oder zu laut war.
Mittlerweile ist die Berliner Gründerszene jedoch derart dynamisch, dass Nagel kurzerhand sein Hamburger Earlybird-Büro zugesperrt hat und ganz in die Hauptstadt gezogen ist. „In Berlin“, sagt der sportliche 51-Jährige, „kommt heute einfach alles perfekt zusammen.“ Zu Berlins perfekten Bedingungen zählt die Historie als deindustrialisierte Metropole und Zuflucht für Wehrdienstverweigerer, Künstler und andere Kreative. Hinzu kommt die Nähe zu Osteuropa und damit ein steter Strom an talentierten Programmierern. Und schließlich sind es die immer noch günstigen Mieten, das große Angebot an Talenten sowie deutsche Tugenden wie Präzision, Zuverlässigkeit und Analysekraft, die einen idealen Nährboden für Start-ups bilden.
„Berlin ist quasi die undeutscheste Stadt – in dem Sinne, dass hier kein gewachsenes Establishment, sondern mehr oder weniger Wildwuchs herrscht“, meint Nagel. „Die Stadt nimmt jeden ohne Vorbehalte auf, und das ist eine wichtige Voraussetzung, um ausländische Professionals anziehen zu können.“
Schnelles Wachstum
Rund 25 Millionen Euro haben Nagel und Kollegen mittlerweile in sieben Berliner Tech-Start-ups gesteckt, darunter 6Wunderkinder (die Macher der Organizer-App „Wunderlist“), Moped (eine Art Twitter für den Privatgebrauch) und madvertise (mobile Werbung). Vor jedem Investment prüfen die Earlybirds heute immer auch die Heterogenität von Management und Mitarbeiterstamm – nach Nagels Einschätzung ein wichtiger Wachstumstreiber. „Wenn man ein Businessmodell sehr schnell skalieren will, muss es von vornherein so angelegt sein, dass es auch Japaner, Amerikaner oder Osteuropäer sofort nutzen können. Und man muss heute schnell skalieren können, wenn man nicht von einem Größeren und Schnelleren überholt werden will. Das wiederum heißt nichts anderes, als dass Vielfalt bereits frühzeitig in der DNA von Mannschaft und Produkt verankert sein muss.“
Wer hingegen mit seinem Geschäftsmodell in Heimatmarkt und -kultur verhaftet bleibe, laufe Gefahr, wie studiVZ von einem internationalen Konkurrenten wie Facebook überrollt zu werden. Ohne eine mannigfaltige DNA mit einer Vielfalt an Kulturen, Sprachen, Charakteren und Kompetenzen seien daher Investoren viel schwerer zu überzeugen. Ohne Investoren aber kriege ein Start-up kein erstklassiges Management an Bord. Ohne Topmanagement wiederum schrumpften seine weiteren Wachstumsaussichten, was automatisch die Chancen auf Wagniskapital verringere. Diversität, folgert der Investor, entscheide heute also sehr früh mit darüber, ob ein Start-up auf schnelles Wachstum einschwenke. Oder ob es, weil es zu eindimensional denkt und arbeitet, in einer steten Abwärtsspirale Richtung Selbstauflösung trudelt.
„Diversität entscheidet heute sehr früh über die Wachstumschancen eines Start-ups.“
Und weil das so ist, strömen heute nicht nur einzelne Geeks und Gründer, sondern gleich komplette Start-up-Teams in die Bundeshauptstadt. Der Schwede Henrik Berggren beispielsweise zog im Herbst 2011 mit seinem Studienkollegen David Kjelkerud und ihrer gemeinsamen Unternehmensgründung Readmill von Stockholm nach Berlin-Mitte. Readmill ist eine Art virtueller Lesezirkel, dessen Mitglieder ihre gelesenen E-Books online mit Anmerkungen versehen, sich virtuell mit anderen Bücherwürmern austauschen und nachlesen können, was andere gelesen und dabei gedacht haben. Gerade haben Berggren & Co. ihre Datencloud ins Web gebracht, die zweite Finanzierungsrunde und einen Umzug in die Schönhauser Allee hinter sich gebracht. „Es sind verdammt aufregende Monate“, sagt der 32-jährige Schwede, „aber wir sind definitiv am richtigen Ort zur richtigen Zeit. David und ich sind bereits in Malmö gemeinsam zur Schule gegangen und haben in Stockholm gemeinsam studiert. Als wir Readmill gründeten, war uns klar, dass unser Unternehmen wirklich die Welt in sich tragen muss und nicht nur unseren kleinen schwedischen Kosmos.“
Lesen und lachen viel: Henrik Berggren (links) und sein Chefentwickler Christoffer Klang
Multinationale Szene
Mittlerweile beschäftigt Readmill in Berlin-Mitte unter zwölf Mitarbeitern auch einen amerikanischen Designer sowie Tushar, den Praktikanten aus Neu-Delhi. Kaum in Berlin angekommen, wies Tushar seine neuen Arbeitgeber darauf hin, dass Readmills Applikation auf Basis des Apple-Betriebssystems ja ganz wunderbar sei – in seiner indischen Heimat aber nur eine Minderheit der Webnutzer mit Apple arbeite. „Natürlich wären wir auch ohne ihn darauf gekommen, dass wir eine Windows-basierte Applikation brauchen“, sagt Berggren, „aber Tushar hat uns überzeugt, es jetzt zu tun. In diesem Moment arbeitet er gerade daran. Und in etwa einem Monat werden wir eine Windows-basierte Version starten, die uns in Indien hoffentlich viele zusätzliche Nutzer bringen wird.“
Sechs Stationen der U-Bahn-Linie 8 weiter schraubt Edial Dekker an ganz ähnlichen Problemen. Tags zuvor hat der 27-jährige Niederländer gerade die weltweite Version von Gidsy freigeschaltet. „Gids“ ist das niederländische Wort für „Führer“ und Gidsy eine Vermittlungsplattform, die Menschen mit besonderen Talenten und Angeboten mit Interessenten zusammenführt. Über Gidsy lässt sich beispielsweise eine „Art & Graffiti Tour“ durch Berlin buchen, die eine gewisse Vanessa organisiert. Michael aus Hamburg bietet eineinhalb Stunden Tai Chi im Park, Edial und sein Bruder Floris wiederum offerieren über ihre Website einen regelmäßig überbuchten Start-up-Crashkurs. Ihre Idee, Kompetenzen mit Interessenten zu verkuppeln, scheint derart überzeugend, dass der US-Schauspieler und Investor Ashton Kutcher im Dezember 2011 die Dekker-Brüder in ihrem Kreuzberger Dachloft besuchte und ihnen eine geschätzte Million Dollar Startkapital hinterließ.
„Alles, was wir jetzt zu Anfang tun, wird sich beim Wachstum multiplizieren.“
„Alles, was wir jetzt zu Anfang tun, wird sich beim Wachstum multiplizieren“, sagt Edial Dekker. „Wenn wir also international sein wollen, müssen wir es von Anfang an sein. Nebenbei helfen uns unsere ausländischen Mitarbeiter, all die dummen Fehler zu vermeiden, die man in einem fremden Markt eben so macht.“
Während die Szene erfrischend multinational ist, hat sie in puncto kultureller, sozialer und geschlechtlicher Diversität durchaus noch Nachholbedarf. Ihre Protagonisten sind zumeist männlich, weiß, 25 bis 35 Jahre alt und stammen aus einer Mittelklassefamilie in Europa oder Nordamerika (ResearchGates bunter Ländermix bildet hier eine echte Ausnahme). Asiaten, Südamerikaner oder Afrikaner hingegen muss man in der Szene lange suchen, Frauen sind Mangelware, Mitarbeiter jenseits der 40 quasi inexistent und Quereinsteiger Exoten.
Im Vergleich zum Silicon Valley sei die Gründerszene in Berlin „leider noch ziemlich homogen“, meint Research Gate-Gründer Ijad Madisch. Zu erklären sei dies vor allem durch die unterschiedlichen Gründergeschichten auf beiden Seiten des Atlantiks: Im Valley würden Unternehmen klassischerweise von Professionals aus ganz unterschiedlichen Disziplinen und vor allem mit dem Ziel gegründet, ein spezifisches Problem zu lösen; die Berliner Gründerszene ist hingegen ganz wesentlich von männlichen Betriebswirtschaftlern oder Ingenieuren geprägt. „Aber das ändert sich gerade, je mehr die Szene reift“, so Madisch.
Lokale Netzwerker
Schließlich birgt Diversität für Unternehmensgründer gleich mehrere unschlagbare Wettbewerbsvorteile. Zum einen dienen ihnen Mitarbeiter aus einer Vielzahl an Ländern und Kulturen als kundige Übersetzer für aktuelle oder künftige Zielmärkte. Zum anderen fungieren Expats und ihre Netzwerke auch als Botschafter ihres Unternehmens in ihrer Heimat. Edial Dekkers Gidsy-Community beispielsweise wächst derzeit besonders stark in jenen Städten in Kanada, den Vereinigten Staaten und den Niederlanden, in denen Gidsy-Mitarbeiter ihre Freunde und Familien auf das Vermittlungsangebot aufmerksam gemacht haben.
Und schließlich sorgt eine möglichst große Bandbreite an Charakteren, Kompetenzen, Interessen und Erfahrungen in der Firma für jenen steten Strom an Inspirationen, ohne den sich kein starkes Unternehmen aufbauen lässt. „Die Großkonzerne dieser Welt sind ja vor allem deshalb so langweilig, weil sie versuchen, durch Gleichheit und Struktur zum Erfolg zu kommen“, sagt Madisch. „In homogenen Belegschaften aber gibt es kaum Diskussionen. Und ohne Diskussionen kommt man nicht weiter.“
Bei ResearchGate sind daher gerade jene Querköpfe willkommen, die in einer konservativen Konzernkultur früher oder später anecken würden. Beispielsweise, weil sie nicht in Anzug und Kostüm, sondern in Gothic-Klamotten zur Arbeit erscheinen. Weil ihnen Zweizellenbüros und Kernarbeitszeiten so fremd sind wie Rentenversicherung und Betriebskrankenkasse. Oder weil sie wie Vyacheslav, der Programmierer, mitunter bis 3.00 Uhr morgens an einem Softwareproblem tüfteln und ihren ersten Kaffee des Tages daher selten vor der Mittagszeit schlürfen.
„Spielen Arbeitszeiten eine Rolle?“, fragt Ijad Madisch und antwortet sich gleich selbst: „Natürlich. Jeder sollte genau dann und so arbeiten können, wann und wie es ihm und seinem Team am ehesten entspricht.“ Und sein Kollege Vyacheslav beispielsweise arbeite nun einmal definitiv am besten, wenn er ausgeruht sei.
Harald Willenbrock
Harald Willenbrock, 44, ist Reporter des Wirtschaftsmagazins brand eins. Seine mehrfach ausgezeichneten Reportagen erscheinen außerdem in GEO, A&W und NZZ-Folio.