Der junge Lette Andris Nelsons, Music Director des City of Birmingham Symphony Orchestra, hat einen Platz im Oberhaus der Dirigenten erobert. Mit FOCUS sprach der weltweit gefeierte junge Star über Orchester-Psychologie, die Anforderungen an ein Spitzenorchester und die Rolle des CEO am Pult.
Focus: Das Spiel von 100 – und mehr – Musikern zu koordinieren gehört vermutlich zu den faszinierendsten Aspekten Ihrer Tätigkeit. Wie arbeiten Sie mit den Musikern als Team zusammen?
Andris Nelsons: Für den Dirigenten kommt es bei den Proben vor allem auf den guten Kontakt mit den ausführenden Musikern an. Im Opernfach ist das besonders kompliziert, da man als Dirigent nicht nur mit dem Orchester, sondern auch mit dem Chor und den Solisten zusammenarbeiten muss. So kommen leicht 200 und mehr Akteure zusammen. Sie müssen die richtige Atmosphäre schaffen und versuchen, die ausgeprägten individuellen Talente der verschiedenen Künstler zu bündeln, um eine rundum stimmige Aufführung zu verwirklichen.
Focus: Wie kommunizieren Sie Ihre Vorstellungen?
Nelsons: Durch Mimik, Gestik und durch Ihre Persönlichkeit müssen Sie versuchen das auszudrücken, was hinter den Noten steht. Manchmal müssen Sie auch zu umfänglichen Erklärungen greifen, um die Musiker zu unterstützen. Allerdings ist dabei Vorsicht geboten. Zu viel reden schadet nämlich nur, denn wenn sich die Orchestermitglieder erst einmal an Sie und Ihre Art gewöhnt haben, leidet die Aufmerksamkeit, wenn Sie das Gleiche zu oft wiederholen.
„Für eine rundum stimmige Aufführung müssen Sie ausgeprägte individuelle Talente bündeln können.“
Focus: Kommt es vor, dass Musiker oder Solisten versuchen, sich in den Vordergrund zu drängen?
Nelsons: Das kommt natürlich mal vor, dann sind Sie als Dirigent gefragt. Sie müssen die Kraft haben, die Vorstellungen der einzelnen Künstler auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Wenn dies gelingt, werden Sie eine wahre Explosion künstlerischer Kraft erleben.
Focus: Sie haben manchmal nur 14 Tage Zeit, um mit Künstlern zu proben, die Sie vorher noch nie gesehen haben. Wie wecken Sie bei diesen einen Korpsgeist?
Nelsons: Auch in vergleichsweise kurzer Zeit ist es möglich, die musikalischen Stärken der einzelnen Musiker kennenzulernen. Das setzt psychologisches Einfühlungsvermögen ebenso voraus wie gegenseitigen Respekt.
Focus: Ordnen die Musiker sich Ihnen bedingungslos unter?
Nelsons: Es ist keine bedingungslose Unterordnung. Die Musik ist die bestimmende Kraft, deshalb sollte der Komponist der Leader sein. Es ziemt sich für einen Dirigenten nicht, den Chef hervorzukehren. Wenn die Musiker nur das spielen, was der Dirigent von ihnen verlangt, dann wird man der Musik und dem Komponisten nur teilweise gerecht. Die Motivation, ein Musikstück auf eine ganz bestimmte Weise zu spielen, sollte die Tatsache sein, dass Beethoven oder Wagner es so gewollt haben. Dennoch gibt es natürlich eine gewisse Hierarchie.
Focus: Und ganz oben in der Hierarchie steht der Dirigent.
Nelsons: Nein, nicht der Dirigent, der Komponist. Als Dirigent müssen Sie inspirieren und Energie geben. Dirigieren setzt den bedingungslosen Ehrgeiz voraus, das beste musikalische Ergebnis zu erzielen. Dies verlangt dem Dirigenten ebenso wie den Musikern viel Disziplin ab. Die Musiker sollten das Gefühl haben, dass eine gewisse Disziplin sehr wichtig ist. Karajan hat einmal gesagt, dass es zwei Schauplätze gibt, an denen Demokratie unangebracht ist: in der Musik und beim Militär. Da hatte er recht. Falsch aber wäre der Rückschluss, deshalb von einer Diktatur zu sprechen. Das, was vom Dirigenten gefordert ist, lässt sich am besten mit Ermutigung und Bestärkung beschreiben.
Focus: Genügt denn die musiktechnische Sprache, um die Musiker zu bestärken?
Nelsons: Bei den Proben ist die Sprache manchmal sehr technisch, manchmal emotional oder auch assoziativ. Die musiktechnische Sprache verwendet Begriffe wie kürzer, länger, marcato, staccato, tenuto usw. Oftmals ist der Dirigent auf diese Sprache angewiesen, weil die Musiker Anweisungen in Form genauer technischer Begriffe bevorzugen. Allerdings verschaffen sie keinen Zugang zur Seele des Werks. Am Auftakt zu Beethovens Fünfter können Sie bei den Akkorden „bi, ba, ba, bam“ die Musiker auffordern, marcato zu spielen. Diese Anweisung mag zwar technisch korrekt sein, reicht jedoch nicht aus, um die richtige Stimmung zu schaffen. Der Charakter eines Musikstücks lässt sich nur über eine emotionale und assoziative Sprache vermitteln.
Focus: Ihre große Liebe gehört der Oper. Würden Sie sagen, dass die eben beschriebene Art von Führung sich besonders für das Opernfach eignet?
Nelsons: Nein, meine Arbeitsweise ist die gleiche für sinfonische Musik. Eine Sinfonie enthält ebenso viele dramatische Elemente wie eine Oper. Der Unterschied liegt lediglich darin, dass sinfonische Musik noch mehr Raum lässt für Interpretation und Phantasie, weil es zwar eine Richtung gibt, aber keine Handlung.
Focus: Heißt das, dass Sie mehr interpretatorischen Freiraum haben, wenn Sie eine Sinfonie dirigieren?
Nelsons: Ich möchte es so sagen: Der Dirigent hat eine gewichtigere Rolle, was die Interpretation, Führungskraft und -stärke im besten Sinne des Wortes anbetrifft. Im Opernfach müssen Sie einerseits die Interpretation der einzelnen Gesangssolisten respektieren; andererseits müssen Sie versuchen zu führen und die richtige Richtung zu finden. Sie können sich nicht allein auf Ihre Autorität als Dirigent verlassen. Sie müssen die Sänger und Musiker überzeugen. Den Tristan oder Beethovens Sechste können Sie nur dirigieren, wenn Sie vorurteilslos an das Stück herangehen und mit Herzblut dirigieren; denn für diese Musik müssen Sie eine Atmosphäre schaffen, in der Liebe und Leiden spürbar sind.
Einfühlungsvermögen ist sehr wichtig. Das Großartige an der Musik ist, dass es kein Falsch oder Richtig gibt, sondern lediglich andere Arten und Stile. Der Komponist hat zwar geschrieben, was er haben will, aber wer weiß schon ganz genau, was sich hinter den Hieroglyphen – und Noten sind letztlich nur Hieroglyphen – verbirgt. Niemand sollte sich anmaßen, die innere Botschaft eines Musikstücks vermitteln zu können, indem er sagt: „Das ist richtig und das ist falsch.“ Letztlich entscheidend ist, ob wir von der Musik berührt werden oder nicht.
Focus: Wovon ist es abhängig, ob Sie sich im Orchester die erforderliche Glaubwürdigkeit verschaffen können?
Nelsons: Ich habe zum Glück vor meiner Karriere als Dirigent selbst in einem Orchester gespielt. Ich war Trompeter und habe auch Gesang studiert. Sechs Jahre als Orchestermusiker sind nützlich, wenn es darum geht, die Atmosphäre im Orchester zu verstehen. Wenn Sie zu einer Probe kommen, wissen Sie schon nach zehn Minuten, ob Sie mit dem Orchester harmonieren werden.
Focus: Kann man davon ausgehen, dass alle Musiker dieselbe Liebe zur Musik empfinden, dass sie mit derselben Motivation an ihre Arbeit gehen?
Nelsons: Vielleicht ist meine Auffassung vom Musizieren naiv und idealistisch, aber ich glaube tatsächlich, dass dies der Fall sein sollte.
Focus: Wie viel Individualismus können sich Orchestermusiker leisten?
Nelsons: In jeder Sinfonie oder Oper gibt es Soloparts für bestimmte Instrumente. Die Solisten üben diesen Part ein und überlegen, wie sie ihn spielen wollen. Sie entwickeln eine interessante Idee, und sie legen auch ihre Persönlichkeit hinein. In diesem Fall ist es durchaus angebracht, diese Solophrase herauszuheben. Aber Sie müssen das Gefühl haben, dadurch der Komposition gerecht zu werden. Das Gleiche gilt für Gesangssolisten. Wenn Sie sagen: „Sie müssen das genau so und so singen“, machen Sie jede Spontaneität zunichte und unterdrücken die Persönlichkeit des Sängers, die mit ihrer eigenen Interpretation zufrieden sein müssen.
Focus: Lassen Sie sich Ihrerseits auch von ihnen inspirieren?
Nelsons: Ja, das ist eine sehr bereichernde Erfahrung. Wenn Sie erstmals mit einem Orchester zusammenarbeiten, kann dessen Energie zu einer starken Quelle der Inspiration für den Dirigenten werden. Am schönsten ist es natürlich, mit dem eigenen Orchester im eigenen Opernhaus zu spielen; wenn es gelingt, einen bestimmten Klang zu verwirklichen. Ich bin sehr glücklich über die großartige Zusammenarbeit mit meinem wunderbaren Orchester in Birmingham.
Nelsons
Das Interview mit Andris Nelsons führten Ulrike Mertens (links), FOCUS, und Gabriel Sànchez Zinny, Egon Zehnder, New York, in der Metropolitan Opera, New York.
Andris Nelsons
Andris Nelsons, geboren 1978 in Riga, stammt aus einer Musiker-Familie und wurde als Trompeter ausgebildet. Schon früh zeigte sich ein Interesse am Dirigentenfach, so dass er ein Dirigierstudium begann. Daneben absolvierte er Meisterkurse bei Neeme Järvi und Jorma Panula. Seit 2002 nahm er überdies Privatunterricht bei Mariss Jansons. Seine erste feste Stelle fand er als Trompeter im Orchester der Lettischen Nationaloper, wo er in der Saison 2003/04 zum Music Director berufen wurde. In den folgenden Jahren debütierte er beim Tonhalle-Orchester Zürich, beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, beim BBC Philharmonic Orchestra und beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin. Im Sommer 2006 übernahm er die Leitung der Nordwestdeutschen Philharmonie in Herford. Es folgten die Debüts an der Berliner und der Wiener Staatsoper, bei Pittsburgh Symphony, beim Cleveland Orchestra und dem Pariser Orchestre National de France. Im Oktober 2007 übernahm er die Leitung des City of Birmingham Symphony Orchestra, das durch Sir Simon Rattle in die „Champions League“ der Orchester geführt worden war. Den Vertrag hat er jüngst bis in die Saison 2013/14 verlängert. In dieser Saison wird er an der Metropolitan Opera New York, am Royal Opera House in Covent Garden, bei der Staatskapelle Berlin, der Sächsischen Staatskapelle Dresden und anschließend bei den Berliner Philharmonikern, den Wiener Symphoniker und dem Gewandhausorchester Leipzig debütieren. Im kommenden Jahr wird Nelsons in Bayreuth erstmals den „Lohengrin“ dirigieren.
FOTOS: JÜRGEN FRANK