Michael J. Sandel lehrt politische Philosophie. In diesem Interview spricht er über Gemeinschaft und Familie, Eltern und Kinder – und auch darüber, warum „Der Pate“ zu seinen Lieblingsfilmen gehört.
Focus: Sie gelten als Vertreter des „Kommunitarismus“, aber dieses Etikett behagt Ihnen nicht recht. Können Sie uns sagen, woran das liegt?
Michael J. Sandel: Zunächst möchte ich beschreiben, inwiefern dieses Etikett eben doch zutrifft. Meine Argumente richten sich gegen den aus meiner Sicht übertriebenen Individualismus jener Gesellschaften, deren Motor vor allem der Markt ist. Nach meiner These setzt eine gute Gesellschaft einen stärker ausgeprägten Sinn für Gemeinschaft und gegenseitige Verantwortung voraus, als er in den meisten dieser Gesellschaften zu finden ist. Daher habe ich Gründe dafür angeführt, mehr Nachdruck auf die staatsbürgerliche Seite zu legen sowie auf die entsprechenden Tugenden und das Gemeinwohl. So gesehen wäre es durchaus berechtigt, mich als „Kommunitarier“ zu bezeichnen.
Manchmal bezieht sich der Begriff „kommunitarisch“ jedoch auf die Vorstellung, wir alle seien dazu verpflichtet, die von der jeweiligen Mehrheit gebilligten Werte unhinterfragt gutzuheißen. Diese Vorstellung lehne ich ab. Häufig ist es in vielen Gegenden der Erde vorgekommen, dass man sich auf die Gemeinschaft berufen hat, um eine kritiklose Anpassung an überkommene hierarchische Verhältnisse zu rechtfertigen. Ein so verstandener Gemeinschaftsbegriff kann erstickend wirken. Ich möchte nicht als jemand gesehen oder hingestellt werden, der die in vielen Teilen der Welt anzutreffenden repressiven Seiten der Gemeinschaft verteidigt. Mir geht es vor allem darum, ein Korrektiv gegen die Übertreibungen des Individualismus amerikanischen Stils zu formulieren, und dieses Korrektiv steht in Zusammenhang mit einer stärkeren Akzentuierung der moralischen Bindungen an Familie und Gemeinschaft.
Focus: Was sollen wir unter „Gemeinschaft“ verstehen? Einen Ort, an dem die wichtigen Fragen vorentschieden und längst beantwortet sind?
Sandel: Nein, auf gar keinen Fall. Eine der Hauptfragen der politischen Philosophie besteht darin, dass man herausbekommen möchte, wie ein Zusammenleben möglich ist, wenn man über Werte, Moral und das Wesen des „Gemeinwohls“ unterschiedlicher Meinung ist. Auf dieser Welt gibt es keine Gesellschaft, in der sich diese Frage nicht stellt.
Von manchen Theoretikern der politischen Philosophie wird behauptet: Da wir im Hinblick auf die ethischen Zentralfragen verschiedener Meinung sind, sollte man die Gesellschaft organisieren, indem man Gesetze und politische Maßnahmen aufs Tapet zu bringen versucht, die moralisch neutral sind. Gegen diese Idee habe ich in meinem Buch „Justice: What’s the Right Thing to Do?“ Einwände erhoben. Meiner Ansicht nach ist es weder möglich noch auch nur wünschenswert, sich im Hinblick auf die konkurrierenden moralischen Überzeugungen, mit denen die Bürger an den öffentlichen Bereich herangehen, neutral verhalten zu wollen. Meines Erachtens sollte man mit dem Pluralismus der modernen Gesellschaften zurechtkommen, indem man alle moralischen Überzeugungen begrüßt und sich auf einen öffentlichen Dialog mit ihnen einlässt.
Focus: Setzt das aber nicht eine hochentwickelte Kultur des Dialogs voraus?
Sandel: Das ist richtig – und die Schaffung einer Kultur des Dialogs zwischen Bürgern ist keine Kleinigkeit. Die Kunst der demokratischen Auseinandersetzung ist eine Fähigkeit, die wir lernen müssen. Es ergibt sich nicht einfach so, dass man diese Fertigkeit erwirbt, sondern es handelt sich um ein bildungspolitisches Projekt. Was wir brauchen, ist eine Form der staatsbürgerlichen Bildung, die sich nicht damit begnügt, Wissen über öffentliche Angelegenheiten nahezubringen und das entsprechende Interesse zu wecken, sondern die außerdem die Fähigkeit vermittelt, an sachlich begründeten Auseinandersetzungen teilzunehmen und so über öffentliche Fragen und das Gemeinwohl zu diskutieren.
Die politischen Parteien haben auf diesem Gebiet im Großen und Ganzen versagt, und die Medien ermuntern zu den übelsten Schlammschlachten, anstatt sich dafür einzusetzen, dass begründete Überlegungen über das Gemeinwohl angestellt werden. Unsere Schulen und unsere Universitäten müssen es als Teil ihres Auftrags begreifen, junge Menschen zu aktiven, kritisch gesinnten Staatsbürgern heranzubilden, die dazu fähig sind, sich an öffentlichen Auseinandersetzungen über ethische Streitfragen zu beteiligen. Auch die Familie kann als Institution dazu beitragen, die uns allen gegebene Fähigkeit zur Ausbildung dieser staatsbürgerlichen Anlagen zu gestalten und zu kultivieren.
Focus: Nach Ihrer Auffassung ist die Gemeinschaft also ein Rahmen, in dem Debatten geführt werden können. Doch wie soll die Gemeinschaft mit jemandem umgehen, der sich eingepfercht fühlt, der ausbrechen und etwas völlig anderes tun will?
Sandel: Was Sie da schildern, hat nach meinem Eindruck eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Geschehen bei einem Familienstreit. Konflikte kann es im Bereich verschiedener Kulturen und Zivilisationen sowie zwischen ihnen geben, doch die besonders tief reichenden Konflikte und Auseinandersetzungen werden oft im Inneren bestimmter Kulturen und Traditionen oder sogar einzelner Familien ausgetragen. Dabei handelt es sich um Meinungsverschiedenheiten darüber, wie man eigentlich die gemeinsame Geschichte, die Erfahrungen und Lebensläufe interpretieren soll.
Nehmen wir ein Beispiel aus dem Alltag: Angenommen, man ist ganz in einen spannenden Roman oder Film vertieft. Da kann es passieren, dass man sich mit jemandem anderes, der ebenso von der Handlung gefesselt ist, darüber streitet, was als Nächstes mit einer bestimmten Figur geschehen soll. Es kann sogar vorkommen, dass man schon das Ende des Romans oder des Films erreicht hat und ausruft: „Was für ein schreckliches Ende! Wenn der Autor kapiert hätte, worum es eigentlich geht, hätte er die Geschichte anders ausgehen lassen müssen.“ Darüber könnte man sich mit einer anderen Person streiten und argumentativ auseinandersetzen. Doch dieser Streit würde von derselben Rahmenhandlung ausgehen und sie zugleich thematisieren. Bei dieser Auseinandersetzung würde es um die angemessenste Deutung der Geschichte gehen. Diesen Streit könnte man weder mit jemandem führen, der die Figuren gar nicht kennt und sich nicht in der einen oder anderen Weise mit ihnen identifiziert, noch mit jemandem, der von der Geschichte gar nicht gefesselt ist.
Focus: Also verfechten wir trotz dieser gemeinsamen Erfahrung unseren Standpunkt, weil wir uns für das entschieden haben, was uns aus unserer Sicht richtig erscheint. Sind wir damit nicht näher an einer liberalen Position, als Sie geltend machen möchten?
Sandel: Nein, denn bei dieser Auseinandersetzung geht es nicht um entgegengesetzte Entscheidungen, sondern um einen Konflikt zwischen konkurrierenden Interpretationen. Dabei handelt es sich nicht darum, was ich wünsche oder was mir lieber ist, sondern um die beste Interpretation dieser Figur, dieser Episode, dieser Gesamthandlung. Ginge es lediglich um eine persönliche Entscheidung, könnte man sich an das Bild des kalten Buffets halten, bei dem der andere wählt, was er mag, und bei dem ich wähle, was ich mag. Hier gibt es keinen Anlass zum Streit. Doch sobald wir uns darüber streiten, wie eine bestimmte Figur im Roman oder im Film handeln würde oder hätte handeln sollen, geht es bei unserer Auseinandersetzung eigentlich um die Frage: Welches ist – im Hinblick auf die Figur und die Geschichte – die beste Gesamtinterpretation?
„Michael Corleone ringt darum, seine Freiheit zu gewinnen, doch zum Schluss gelingt es nicht. Darin liegt eine gewisse Tragik.“
Focus: Inwiefern hilft uns das bei einer wirklichen Entscheidung? Nehmen wir beispielsweise an, jemand soll ein Familienunternehmen erben. Wird er oder sie das Erbe antreten müssen? Ist er oder sie dazu verpflichtet, das Unternehmen im Sinne der Tradition weiterzuführen?
Sandel: Nicht unbedingt. Wer vor einer solchen Entscheidung steht, muss offenbar eine Wahl treffen. Die interessante Frage lautet: Inwiefern sollen die eigene Vergangenheit und das Gefühl der Verpflichtung gegenüber Eltern und Angehörigen diese Entscheidung beeinflussen? Bei derart wichtigen Lebensentscheidungen kommt man oft nicht umhin, mit verschiedenen Seiten der eigenen Identität zu ringen – der eigenen Identität als Kind dieser Eltern im Gegensatz zur eigenen Identität als jemand mit einer bestimmten Berufung, der man nicht gerecht werden kann, wenn man sich der Führung des Unternehmens widmet. Nehmen wir beispielsweise an, der mögliche Erbe sei ein begabter Musiker. Dieses Talent ist ein wichtiger Teil der Identität dieser Person. Aber das gleiche gilt auch für ihre Identität als Kind dieser Familie beziehungsweise als Enkel oder Enkelin dieser weitzurückreichenden Familientradition. Dabei kommt es zu einem Konflikt über die Frage, wie sich die Identität des Einzelnen im höchsten Maße verwirklichen lässt. Einer meiner Lieblingsfilme handelt von einer Familiengeschichte – nämlich „Der Pate“. In vielerlei Hinsicht ist das eine Geschichte über die Erfahrung der amerikanischen Einwanderer, zugleich ist es eine Geschichte über den Druck, den Familie und Tradition auf die Identität ausüben. In einer Szene des Films erzählt Michael Corleone seiner Verlobten, dass er sich von den Geschäften seiner Familie lösen will. Doch dann wirken verschiedene Umstände zusammen und veranlassen ihn zur Rückkehr in die Familie. Faszinierend ist diese Geschichte, weil sie etwas über diese menschliche Erfahrung aussagt. Man sieht, wie Michael Corleone darum ringt, seine Freiheit zu gewinnen, doch zum Schluss gelingt es nicht. Darin liegt eine gewisse Tragik. Ich finde, das ist eine aufwühlende Geschichte.
Focus: Was befähigt Familien dazu, Konflikte trotz dieser tiefreichenden Differenzen zu lösen? Viele Unternehmen wären froh, wenn es ihnen gelänge, einen solchen Zusammenhalt zwischen ihren Mitarbeitern herzustellen. Kommt es darauf an, einen gemeinsamen Rahmen zu schaffen?
Sandel: Soweit ich das beobachtet habe, belassen es die besonders erfolgreichen unter den weltweit operierenden Firmen nicht bei einem gemeinsamen Rahmen, sondern es gelingt ihnen im Laufe der Zeit, eine Kultur auszubilden. Zu den Voraussetzungen gehört, wie ich glaube, dass man einen Weg findet, um einen solchen Rahmen in eine gemeinsame Kultur zu verwandeln. Den Ausdruck „Kultur“ entlehne ich hier der Welt der Anthropologie und der Soziologie. Unter einer Kultur stellt man sich häufig die Geschichte eines Landes oder eines Volkes vor. Doch die Gestaltung und Schaffung einer Kultur ist zugleich ein Bildungsprojekt. Der Unterschied zwischen einem Rahmen und einer Kultur liegt im Vorhandensein gemeinsamer Werte, und diese Werte müssen kultiviert und entfaltet werden. Damit sind wir wieder beim Gedanken der Bildung. Die Entstehung einer Kultur setzt staatsbürgerliche Bildung voraus, denn gemeinsame Werte wachsen nicht einfach aus dem Boden.
Focus: Wenn Sie von Bildung sprechen, klingt das ein wenig nach vernunftgeleiteter Planung. Viele Familien machen jedoch die Erfahrung, dass das Leben ein kurvenreicher Weg voller unvorhergesehener Serpentinen ist. In Ihrem Buch „Plädoyer gegen die Perfektion“ haben Sie das Elterndasein als „Schule der Demut“ bezeichnet.
Sandel: Ja, dieses Buch entstand aus einer gewissen Sorge heraus, die unmittelbar die Frage betrifft, in welchem Verhältnis die Familie zu den neuen technischen Entwicklungen steht. Vier Jahre lang war ich in einer zur Beratung von US-Präsident George W. Bush eingesetzten Bioethik-Kommission tätig. Diskutiert wurde über die neuen gentechnischen Möglichkeiten, die es den Eltern beispielsweise gestatten würden, das Geschlecht ihrer Kinder zu wählen, sie größer oder stärker zu machen und letzten Endes auf die Intelligenz, das sportliche Können oder die musikalische Begabung der Kinder Einfluss zu nehmen. Ich selbst halte das Bestreben, biotechnische Mittel zur Schaffung stärkerer, intelligenterer und hübscherer Kinder einzusetzen, für falsch. Der Fehler liegt meines Erachtens darin, dass man riskiert, die Aufgabe der Eltern in einen Ableger der Konsumgesellschaft umzufunktionieren. Man läuft Gefahr, Kinder in Waren zu verwandeln. Das wiederum steht nach meiner Auffassung im Gegensatz zu unserer Vorstellung von der uneingeschränkten Liebe der Eltern zu ihren Kindern. Zieht man den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens in Betracht, ist es wichtig, dass Elternschaft Überraschungen und Unvorhersehbares mit sich bringt.
„Es ist wichtig, dass Elternschaft Überraschungen und Unvorhersehbares mit sich bringt.“
Focus: Man kann den Eltern doch kaum einen Vorwurf daraus machen, dass sie für ihre Kinder das Beste wollen.
Sandel: Sicher, wir wollen das Beste für unsere Kinder. Doch was das Elterndasein betrifft, kommt man nicht um die wichtige Tatsache herum, dass wir die Entwicklung unserer Kinder nicht steuern können. Haben Sie den Film „Gattaca“ gesehen? Darin wird uns ein Science-Fiction-Szenario vorgeführt, dem zufolge es ganz normal geworden ist, dass die Eltern die genetischen Merkmale ihrer Kinder wählen. Die Eltern gehen zur genetischen Beratungsstelle, um sich dort die Haarfarbe der erwarteten Kinder ebenso auszusuchen wie die Augenfarbe, die Körpergröße und diverse Fertigkeiten. An einer späteren Stelle des Films erleben wir ein brillant gespieltes Klavierkonzert und sehen plötzlich, dass der Pianist nicht fünf, sondern sechs Finger an jeder Hand hat. Da kann man sich ausmalen, wie die Eltern sagen: „Ich möchte, dass mein Kind der größte Pianist aller Zeiten wird.“ Was geschieht aber, wenn dieses Kind eigentlich gern Baseballspieler geworden wäre, was jedoch sehr schwierig ist, wenn man einen Extrafinger an der Hand hat? Das Elterndasein ist so etwas wie eine ethische Schulung in Demut und sollte es auch bleiben.
Focus: Welche moralischen Verpflichtungen sehen Sie auf Seiten der Familie? Und wie stellen wir es an, das richtige Gleichgewicht zu finden?
Sandel: Es ist interessant, dass die Frage nach den Verpflichtungen im Bereich der Familie heute in vielerlei Hinsicht umgekehrt gestellt und vor allem auf die Pflichten der Eltern gegenüber den Kindern bezogen wird. Der Frage, welche Pflichten die Kinder gegenüber ihren Eltern haben, wird eine relativ geringe Beachtung geschenkt. Das hängt, wie ich glaube, mit dem Individualismus zusammen, von dem vorhin die Rede war.
Wenn man der Ansicht ist, dass sich Verpflichtungen ausschließlich aus Zustimmung, Wahl oder vertraglicher Abmachung ergeben, fällt es tatsächlich sehr schwer, eine Verpflichtung des Kindes gegenüber den Eltern sinnvoll zu erklären, denn in diesem Fall besteht ein asymmetrisches Verhältnis. Die Eltern entscheiden darüber, ob sie ein Kind haben wollen, aber nicht umgekehrt. Diese Überlegung erklärt die Asymmetrie der Verpflichtung, die in westlichen Gesellschaften zu beobachten ist. Dennoch kann es sein, dass dieser Gedanke und diese Praxis etwas Beunruhigendes an sich haben.
Focus: Haben Sie an dieser Praxis etwas auszusetzen?
Sandel: Ja, und ich habe geltend gemacht, dass sich bestimmte Verpflichtungen aus dem Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Familie oder einer Gemeinschaft ergeben können, ohne dass sich dieser Zusammenhang mit den Begriffen der Zustimmung, des Vertrags oder der Wahl vollständig erfassen ließe. Sofern es überhaupt aus Zugehörigkeit hervorgehende Verpflichtungen gibt, haben Kinder tatsächlich Verpflichtungen gegenüber ihren Eltern. Will man diese Verpflichtungen dingfest machen, muss man sich an die Geschichte halten und die Tradition sowie die Zugehörigkeitsbedingungen erforschen, die sich im Laufe der Zeit im Rahmen dieser Familie entwickelt haben.
Die auf Zustimmung und Vertrag basierende Vorstellung geht von einer Entscheidung aus und fragt: „Was will ich?“ Die auf Mitgliedschaft oder Zugehörigkeit basierende Vorstellung führt zu einer Entscheidung hin: „Soll ich diesen Weg einschlagen oder jenen?“ Doch diese Entscheidung ergibt sich aus der Interpretation der eigenen Identität, und zu ihr gehört auch, dass ich der Sohn oder die Tochter meiner Eltern bin. Das ist der Punkt, an dem Tradition und Erinnerung ins Spiel kommen.
Focus: In Ihrem Buch „Justice: What’s the Right Thing to Do?“ behandeln Sie die Frage nach Erinnerung und moralischer Verantwortung. Wie weit sollte diese Erinnerung zurückreichen?
Sandel: Die schwierige Frage lautet: „Habe ich eine spezielle Verantwortung dafür, die Missetaten einer früheren Generation – etwa der Generation meiner Eltern oder meiner Großeltern – wiedergutzumachen?“ Damit ist die Frage der langfristigen Kollektivverantwortung aufgeworfen. Nach meiner Überzeugung haben wir tatsächlich solche Verpflichtungen.
In Deutschland hat es sehr ernsthafte und anhaltende Diskussionen darüber gegeben, welches ethische Gewicht der historischen Erinnerung zukommt und ob es so etwas wie eine generationenübergreifende Verantwortung gibt. Diese Debatte hätte keinen Sinn, wenn man nicht glaubte, dass sich Verpflichtungen nicht nur aus Entscheidungen des Einzelnen ergeben können, sondern auch aus unserer Geschichte und unserer Gemeinschaftsidentität. Um auf Ihre vorhin gestellte Frage zurückzukommen: Ich habe Ihnen nicht wirklich gesagt, wie sich der Erbe entscheiden soll, der vor dem Dilemma steht, entweder das Familienunternehmen zu übernehmen oder den eigenen Bestrebungen zu folgen. Hier gibt es keine Formel. Was es jedoch gibt, sind mehr oder weniger ethisch verantwortungsvolle Möglichkeiten, die historische Entwicklung heranzuziehen und den Konsequenzen, die sich daraus für die Gegenwart ergeben, ins Auge zu blicken.
Michael J. Sandel
Michael J. Sandel wurde 1953 in Minneapolis geboren. Er studierte an der Brandeis University bei Boston und später als Rhodes-Stipendiat in Oxford, wo er 1981 promovierte. Seine frühen Schriften trugen dazu bei, der „kommunitarischen“ Bewegung den Weg zu bahnen, obwohl er selbst sich lieber als Vertreter der „Öffentlichkeitstheorie“ sieht, die bestrebt ist, den Einsatz für öffentliche Aufgaben in moralischer und staatsbürgerlicher Hinsicht zu fördern.
Sandel, der seit 1980 in Harvard politische Philosophie lehrt, wird seinerseits öffentlich stark wahrgenommen. Sein neues Buch „Justice: What’s the Right Thing to Do?“ wurde in 15 Sprachen übersetzt und hat bisher eine Auflage von über 1,5 Millionen Exemplaren erreicht. Seine Vorlesungen zum Thema „Gerechtigkeit“ werden jedes Mal von annähernd 1 000 Studenten besucht. Es ist die erste Lehrveranstaltung in Harvard, die online frei zugänglich ist (www.JusticeHarvard.org) und weltweit im Fernsehen übertragen wird. Michael Sandel hält regelmäßig Gastvorlesungen und Vorträge, darunter die angesehenen „Reith Lectures“, die 2004 vom Radio 4 der BBC übertragen wurden. 2010 schrieb „China Newsweek“, kein Ausländer habe in China stärker gewirkt als er. Sandel ist verheiratet und hat zwei erwachsene Söhne.
FOTOS: JÜRGEN FRANK