,,Wahrlich ein Super-Virtuose“, urteilte der Kritiker und Klavier-Kenner Joachim Kaiser, nachdem Lang Lang im Februar 2005 in München das b-Moll-Konzert von Peter Tschaikowsky, oft als Hymne der Klaviervirtuosen bezeichnet, gespielt hatte. Der zierliche Chinese mit seinen schier unerschöpflichen Reserven an Kraft und seinen unglaublichen Reflexen ist eine Symbolfigur für den Ehrgeiz seines Landes, sich auch kulturell durchzusetzen. Lang Lang gehört zu jenen Ekstatikern, die in ihrer Körpersprache wie in ihrer Mimik das innere Geschehen der Musik – Lyrismus wie Dramatik – spiegeln. In einem sehr persönlichen Gespräch mit FOCUS offenbart er, was ihn im Beschreiten seines außergewöhnlichen Weges als Musiker und Mensch antreibt.
Focus: Als Sie während der Olympia-Eröffnungsfeier spielten, haben etwa 40 Millionen Chinesen Ihren Vortrag im Fernsehen verfolgt. Was bedeutete das für Sie?
Lang Lang: Ich hatte das Gefühl, im Universum zu spielen. Es war das größte Ereignis, das China je veranstaltet hat, und die ganze Welt schaute zu. Deshalb war der Abend für mich einfach unglaublich, insbesondere weil ich den Aufbruch der jungen Generation verkörperte. Am bewegendsten war die Schlussszene der Show, in der ich ein kleines Mädchen einladen sollte, an meiner Seite zu spielen.
Focus: Ihr Vater ist selbst Musiker und hatte den Ehrgeiz, aus Ihnen einen herausragenden Pianisten zu machen. Fanden Sie Ihren Vater manchmal zu streng und zu anspruchsvoll?
Lang Lang: Ja, sicherlich – nicht immer, aber gelegentlich schon. Der Druck, den er ausübte, war richtig und gleichzeitig falsch. Pianist wird man nur durch eine gründliche Ausbildung. Das ist ein harter Weg, das lässt sich leider nicht vermeiden. Zum Glück hatte ich jemanden, der ein bisschen Druck ausgeübt hat – nicht jeden Tag, aber hin und wieder, wenn ich nicht üben wollte.
Focus: In den Anfangsjahren üben viele junge Musiker nur, weil die Eltern darauf bestehen. Erst wenn sie zehn, elf Jahre alt sind, entwickeln sie genug eigenen Antrieb.
Lang Lang: Das Klavierspiel hat mir von Anfang an richtig Spaß gemacht. Aber ein Kind ist ein Kind. Es will sich mit den anderen amüsieren und leidet, wenn es nicht auch Fußball spielen oder in Urlaub fahren darf. Ich hätte liebend gerne Basketball gespielt, aber für einen Pianisten geht das nicht, denn das Risiko von Handverletzungen ist einfach zu hoch.
Focus: Was hat Sie denn für die harte Arbeit und all den Druck entschädigt?
Lang Lang: Für mich war die Musik selbst wohl die treibende Kraft. Ich wollte Pianist werden. Wenn die Musik mich innerlich bewegte, dachte ich, müsste sie auch die Nachteile wettmachen. Man kann nicht ständig unter Hochdruck arbeiten oder spielen, nur weil man hofft, mit Musik Geld zu verdienen oder berühmt zu werden. Wer so denkt, hat sich wohl im Beruf geirrt.
Focus: In Ihrer Biografie schreiben Sie, ein gewisser sportlicher Ehrgeiz stecke Ihnen in den Genen. Sie ziehen oft Vergleiche zu Tennisspielern, zu Michael Jordan oder Tiger Woods. War der Ehrgeiz, Weltbester zu werden, die Triebfeder, die Sie zur Leistung angespornt hat?
Lang Lang: Das ist eine interessante Frage. In Asien allgemein, besonders aber in China, Japan und Korea, verfolgen Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder ehrgeizige Ziele. Sie erwarten einfach, dass ihre Sprösslinge an Wettkämpfen teilnehmen, und wer den ersten Platz schafft, der ist einfach der Größte und Beste. Im Denken der Chinesen spielt der Wettbewerb eine vorherrschende Rolle, der Wille, immer Erster zu sein, bester Konzertpianist, führender Wissenschaftler, was auch immer. Als ich als Kind am Konservatorium war, wurde man bei jedem Vorspielen auf einer Rangliste platziert. Die acht Besten schafften den Aufstieg in den landesweiten Wettbewerb. Ich war damals ziemlich kindisch und stellte für die größten Pianisten eine Rangliste auf, in der sie auf- und abstiegen – wie die Mannschaften der Bundesliga. In meiner Einfalt habe mir vorgestellt, dass ich mit diesen Pianisten konkurrierte. Ich habe mit einem Video von Horowitz geübt und versucht, das Stück besser vorzutragen als er. Ziemlich kindisch, aber es hat mir den Antrieb gegeben, mein Spiel zu verbessern.
Focus: Wann kam die Wende?
Lang Lang: Als ich nach Amerika kam, hat mein Lehrer, Gary Graffman, mir gesagt, ich solle die dummen Vergleiche vergessen und mich auf meine Musik konzentrieren. Vor kurzem habe ich mir im Fernsehen ein Interview mit Arthur Rubinstein angeschaut. Der Interviewer fragte ihn, ob er sich für den größten Pianisten der Welt halte. Darauf antwortete Rubinstein: „Diese Frage ärgert mich jedes Mal. Wenn Sie an Beethoven, Mozart und Chopin denken, haben Sie dann eine Rangliste im Kopf? Wenn ich ein Bild von einem herausragenden Künstler betrachte, denke ich, sein Stil sei der einzig richtige. Aber sobald ich dann vor einem anderen großen Werk stehe, sage ich wiederum das Gleiche. Jeder große Künstler ist eine Welt für sich.“ Dem kann ich nur zustimmen. Man kann Meister einer Kunst nicht miteinander vergleichen oder gegeneinander ausspielen.
Focus: Wie würden Sie denn heute Ihren Erfolg messen, wenn Ihnen niemand mehr sagen würde, Sie seien die Nummer eins, wenn Sie nicht einmal mehr hören wollen, dass Sie der Beste sind?
Lang Lang: Nein, nein, es stimmt einfach nicht, dass ich der Beste bin. Die Nummer eins gibt es nicht! Sie können vielleicht der Publikumsliebling sein oder der größte Kassenschlager, aber das heißt noch lange nicht, dass Sie auch der beste Pianist sind. Die Gunst der Zuhörer und auch der Kollegen ist allerdings eine Belohnung, ein großartiges Gefühl. Der Anblick eines ausverkauften Konzertsaals, aus dem einem Begeisterung für die Musik entgegenschlägt, das ist wohl das höchste Glück. In solchen Augenblicken fühle ich, dass ich den besten aller Berufe gewählt habe – die Gabe, mein Publikum durch meine Musik in eine andere Welt zu versetzen.
Focus: Was Sie als persönliche Belohnung beschreiben, könnte man auch als Teilhabenlassen bezeichnen.
Lang Lang: Ja, auf jeden Fall.
Focus: Spielt dieser Gedanke auch eine Rolle bei Ihrer Absicht, der jungen Generation die klassische Musik näherzubringen?
Lang Lang: Der Gedanke beschäftigt mich seit vielen Jahren. Ich habe im Laufe meiner Ausbildung an vielen Meisterkursen teilgenommen, und auch in meiner Schulzeit hat es vieles gegeben, das mich inspiriert hat, nicht nur der Unterricht an sich, sondern auch künstlerische Aktivitäten. Ich hatte das Glück, eine Musikschule besuchen zu können. Angesichts der großen musikalischen Tradition sind die Voraussetzungen in Deutschland vermutlich gut. Aber in vielen anderen Ländern – und zwar in Europa ebenso wie in Amerika oder Asien – werden die Mittel für den Musikunterricht als Erstes gekürzt. Viele Kinder haben keine Gelegenheit, eine musikalische Erziehung zu genießen. Musik zu hören ist aber, glaube ich, wichtig für Kinder, für die Entwicklung ihrer Sensibilität. Ich bin fest davon überzeugt, dass klassische Musik einem Kind helfen kann, Lebenserfahrungen zu verstehen; dass sie durch die Förderung kreativer Fähigkeiten zur Entwicklung des kindlichen Gehirns beiträgt und das kindliche Gemüt empfänglicher macht. Sie hilft ihm nicht nur, die Welt zu verstehen, sondern das Kind kann sich auf dem Weg über die Musik sogar eine eigene Welt schaffen. Diese Art von Musik könnte den Lebensstil vieler junger Menschen verändern, ihre Konzentrationsfähigkeit, Selbstdisziplin und Vorstellungskraft verbessern.
Focus: Wie schwer oder leicht fiel Ihnen der Zugang zur Musik einer fremden, der westlichen Kultur?
Lang Lang: Nun ja, ich bin mit dieser Musik aufgewachsen. Meine Eltern haben mir viele Geschichten über die berühmten Komponisten erzählt, vor allem über Mozart, Beethoven und Bach, aber auch über Chopin, Tschaikowsky und Rachmaninow. Als ich anfing, Stücke dieser Komponisten zu spielen, schien mir das ganz und gar natürlich. Aber als ich dann im Alter von elf Jahren zu einem Wettbewerb nach Deutschland kam, ging mir auf, dass die europäische Tradition eine andere Spielweise hervorgebracht hat. Ich fühlte, dass ich mehr Konzerte besuchen und Ton- und Videoaufnahmen der älteren Pianisten studieren sollte, von Artur Schnabel und Arthur Rubinstein, Claudio Arrau, Wladimir Horowitz und Svjatoslav Richter – um ihr Spiel verstehen zu lernen. Schließlich entschied ich mich für das Curtis Institute of Music in Philadelphia, eine der führenden Schulen für klassische Musik. Wenn man jedoch den falschen Lehrer wählt, lernt man nichts.
Focus: Welcher Lehrer war für Sie am wichtigsten?
Lang Lang: Gary Graffman war damals für mich genau der Richtige. Unter seiner Anleitung habe ich schnell angefangen, mich weiterzuentwickeln. Später bin ich Christoph Eschenbach begegnet, der der alten Schule angehört. Die Zusammenarbeit mit ihm war eine prägende Erfahrung. In der Musik gibt es viele Probleme, die schwer zu ergründen sind; von ihm habe ich viele Antworten erhalten. Das hat nicht mit Talent zu tun, sondern mit Bildung und Tradition. Er ist tief in dieser Tradition verwurzelt.
Focus: Sie haben einmal gesagt, Sie nähmen die schwierigsten Stücke am liebsten zuerst in Angriff.
Lang Lang: Wenn man ein schwieriges Stück anpackt, hat man das Gefühl, einen riesengroßen Schritt zu tun. Für einen Zwölfjährigen sind Stücke wie Rachmaninows 3. Klavierkonzert sehr schwer. Zum Glück spielte ich zu der Zeit auch die kompletten Etüden von Frédéric Chopin, und das hat mir geholfen, die schwierigen Passagen zu meistern. Aber es ist auch kein Fehler, frühzeitig mit so etwas zu beginnen. Dann hat man später keine Angst vor dem Stück, wenn man es vor Publikum spielen soll. Bei Rachmaninows 3. Klavierkonzert oder Tschaikowskys Nr. 1 oder Nr. 3 kann man es aber nicht bewenden lassen. Bevor man sich versieht, kommt dann von allen Seiten die Bitte, künstlerisch anspruchsvollere Stücke wie die Konzerte von Mozart oder Beethoven zu spielen. Mir gelang der große Einstieg mit Virtuosenstücken, aber zwei Jahre später wurde ich dann von den Kritikern unter Beschuss genommen. „Der Junge spielt nur Musik, die schnell, laut, und kompliziert ist“, lautete ihr Urteil. Also geht man zu Beethoven oder Chopin über, zu einer besinnlicheren, einer verinnerlichten Musik. So lief das bei mir. Ich habe also die frühen Beethoven-Sonaten gelernt. Anfangs fielen sie mir ziemlich schwer, da sie nicht nur eine ganz andere Technik erfordern, sondern auch ein anderes Verständnis. Wenn du fliegen könntest, aber nie das Laufen gelernt hättest, wäre das nicht traurig?
Focus: Welche Rolle spielt Kammermusik für Sie?
Lang Lang: Kammermusik halte ich für sehr wichtig, aber man muss den richtigen Partner finden. Man braucht als junger Musiker jemanden, der erfahrener ist als man selbst. Für mein nächstes CD-Projekt habe ich mir Kammermusik vorgenommen, die Klaviertrios von Peter Tschaikowsky und Sergej Rachmaninow.
Focus: Sie haben also die richtigen Partner gefunden?
Lang Lang: Ja, und ich habe ein paar Unterrichtsstunden bei Experten genommen; ich hoffe, dass ich den Rhythmus, das Gespür für Kammermusik entwickelt habe. Ich würde nicht behaupten, dass ich auf dem Gebiet schon ausgereift bin.
Focus: Machen Ihnen Solospiel und Kammermusik gleich viel Spaß, oder gibt es da Unterschiede?
Lang Lang: Kammermusik ist Teamwork. Bei einem Solostück hängen sämtliche Orchestermitglieder am Spiel des Solisten. Natürlich hört dieser auch auf das Orchester, aber er muss im Konzert bis zu einem gewissen Punkt führen. In der Kammermusik dagegen wirft man den Partnern den Ball zu. Es ist ein wenig wie beim American Football. Du bekommst den Ball und gibst ihn weiter, wie es der Spieler in der Center-Position tut. In der Kammermusik ist es in vielfacher Hinsicht wichtig – für die Phrasierung, das Timing, die Harmonie – genau hinzuhören, weil es oft das Klavier ist, das die Harmonie des Stücks bestimmt. Das eigene Ohr muss schneller reagieren, um die anderen Spieler – Geigen, Flöten, Cellos – zu stützen. Man braucht in gewisser Weise ein besseres Fundament und lernt dadurch, die Musik strukturell zu verstehen.
Focus: Sie erwähnen in Ihrer Biografie eine Zeit, in der Sie sich unausgeglichen und sogar depressiv fühlten. Es gab eine Verletzung, die Sie für einige Zeit am Klavierspiel gehindert hat. Was hat diese Zeit Sie gelehrt?
Lang Lang: Wenn man krank oder verletzt ist, ist man nicht unbedingt aus dem Gleichgewicht. Ich erinnere mich an viele Aspekte. Der Lebensstil, den man führt, kann der Gesundheit wirklich Schaden zufügen; zu viel Klavierspiel schadet den Armen; ständiges Reisen ist nicht natürlich, man fühlt sich einsam. Wenn einem das, was man tut, keinen Spaß mehr macht, wenn man das Gefühl hat, sich dazu zwingen zu müssen, dann wird die Karriere sicherlich nicht lange dauern. Man wird die Sache leid oder fühlt sich ausgebrannt. In dieser Situation muss man sich fragen, was für einen persönlich richtig ist. Man muss lernen, den Terminkalender auch nach den eigenen Bedürfnissen zu planen, muss lernen, rund um den Globus Freundschaften zu knüpfen. Es ist einfach nicht richtig, wenn man sich jeden Morgen zum Aufstehen zwingen muss, um ein dummes Flugzeug zu erreichen und von Stadt zu Stadt zu jetten, aus dem Flugzeug direkt zur Probe zu eilen, zwischendurch nur ein Butterbrot zu essen, bis zum späten Abend zu arbeiten und erst um elf oder zwölf Uhr nachts zu essen.
Focus: Haben Sie einen Ausweg gefunden?
Lang Lang: Ich fühle mich jetzt viel besser. Meine Mutter oder mein Vater reisen jetzt immer mit, oder ich bitte einen guten Freund, mich zu begleiten. Inzwischen habe ich Freunde in allen Teilen der Welt. Mein Terminkalender ist vernünftiger. Ich muss nicht mehr ständig von einem Kontinent zum anderen fliegen, sondern verbringe fünf Monate in Europa, drei in Amerika, zwei in Asien. Ich bleibe zehn Tage in derselben Stadt, arbeite an meiner Kammermusik, begleite Sänger, gebe Konzerte, spiele mit Orchestern, gebe Meisterkurse, halte Vorträge an Schulen. Jetzt kann ich auch öfters von ein und demselben Hotel aus arbeiten, fast wie von zu Hause. Das würde ich gerne ausbauen.
Focus: Dabei wünschen wir Ihnen viel Erfolg! Vielen Dank für das Gespräch.
Lang Lang: Lassen Sie mich nur noch kurz sagen, dass ich dieses Interview ganz ausgezeichnet fand, ganz anders als die üblichen. Exzellente Vorbereitung. Ganz herzlichen Dank.
Das Interview wurde geführt von Ulrike Mertens, ChefredakteurinFOCUS, und Friedrich Kuhn, Egon Zehnder, Berlin.
Lang Lang
Der 1982 in Shenyang geborene Lang Lang gehört zu jenen Rätselwesen, die, wie der Dirigent Bruno Walter sagte, mit einer ,,angeborenen Technik‘‘ auf die Welt kommen. Er war, wie die Fama erzählt, zwei Jahre alt, als er im Fernsehen sah, wie Tom – aus der Reihe ,,Tom und Jerry‘‘ – die Ungarische Rhapsodie Nr. 2 von Franz Liszt spielte. Seine Eltern setzten alles darein, ihm Klavierunterricht zu ermöglichen. Mit fünf gewann er einen lokalen Wettbewerb, ab dem neunten Lebensjahr besuchte er das Konservatorium von Peking, mit elf gewann er den ersten Preis beim vierten Internationalen Jugend-Wettbewerb in Ettlingen. Seinen Durchbruch feierte er 1999, als er bei der „Galaxy of Stars“ des Ravinia Festivals nahe Chicago anstelle des indisponierten André Watts das Tschaikowsky-Konzert spielte. 2003 führte er sich mit einem auf CD und DVD dokumentierten Recital in der Carnegie Hall ein. Seine internationalen Erfolge sorgten in seinem Heimatland für Euphorie und führten dazu, dass viele Millionen junger Chinesen mit dem Klavierspiel begannen.
FOTOS: PHILIP GLASER/DETLEF SCHNEIDER_ADIDAS