Steven Moran, Chief Learning Officer bei Bertelsmann
Steven Moran ist Chief Learning Officer bei Bertelsmann. Im Gespräch mit Egon Zehnder erläutert er, wie das Medien-, Dienstleistungs- und Bildungsunternehmen eine Lernkultur etabliert und Strukturen geschaffen hat, um lebenslanges Lernen in einer dezentralen Organisation fest zu verankern. Dabei steht neben der Anwendung neuer Technologien auch die innere Haltung der Lernenden für ihn im Fokus. Moran wirft zudem einen Blick auf das Talentmanagement und die Nachfolgeplanung in einem internationalen Konzern, dessen wichtigstes Asset Wissen ist.
Egon Zehnder: Viele Unternehmen schreiben sich lebenslanges Lernen auf die Fahne, doch oftmals ohne Konsequenzen. Bertelsmann dagegen gründete schon in den 90er Jahren eine eigene Universität und ging das Thema sehr früh strategisch an. Warum?
Steven Moran: Weil die Medienindustrie früher als andere Branchen auf die Digitalisierung reagieren musste. Es zeichnete sich zwar schon früher ab, aber spätestens Ende der 1990er kam mit dem Online-Musikdienst Napster eine Kehrtwende auf. Dies hat unser höchst profitables Geschäft im Bereich Musik schwer getroffen. Wir mussten uns zum ersten Mal mit einer grundlegenden technologischen Veränderung auseinandersetzen, die ein sehr etabliertes Geschäftsmodell und somit einen großen Teil der Mitarbeiterschaft betraf. Deshalb wurden wir früher als andere Unternehmen gezwungen, mit einer solchen disruptiven Entwicklung umzugehen. Unser damaliger Vorstandschef Mark Wössner hatte bereits die Zeichen der Zeit erkannt: dass Lernen, verstanden als kontinuierlicher Anpassungsprozess, die beste Antwort auf Veränderungen ist. Daher fiel der Startschuss für die Bertelsmann University nicht zufällig in diese Zeit.
Egon Zehnder: Was bedeutet lebenslanges Lernen heute konkret?
Steven Moran: Im aktuellen Wirtschaftsumfeld heißt Lernen, die offensichtlichen „Skills“ zu erwerben, die benötigt werden, um in digitalen Geschäftsmodellen erfolgreich zu sein – etwa Data Science oder Programmieren. Natürlich muss nicht jeder solche Themen bis ins Detail durchdringen. Aber für Manager im kaufmännischen Bereich ist ein Grundverständnis für technische Details notwendig. Und zum Beispiel im Kreativbereich ist es erforderlich, über das Wissen und die Erfahrung zu verfügen, welche Inhalte das Publikum ansprechen. Das hat sich nicht grundsätzlich verändert, wird aber zunehmend durch datenbasierte Ansätze ergänzt. Zusätzlich muss man heute auch verstehen, mit welcher Technologie, mit welchen Formaten und in welchen Kanälen diese Inhalte effektiv distribuiert werden. Die Wertschöpfung im Inhalte-Geschäft ist zunehmend technologiegetrieben.
Noch wichtiger ist aber: Mitarbeiter und Manager müssen sich eine bestimmte Haltung gegenüber Innovationen zulegen. Damit meine ich die Offenheit, sich damit fortlaufend auseinanderzusetzen – lebenslang! Viele, meist die Jüngeren, bringen diese Haltung bereits mit. Sie befinden sich schon in einem völlig digitalen Leben. Wir erachten es aber als unsere Verantwortung als Unternehmen, auch diejenigen, die vor 25 Jahren ihre Ausbildung absolviert haben, fit für die Zukunft zu machen. Die Halbwertzeit von erlangtem Wissen sinkt stetig, das ist ja kein Geheimnis mehr. Gelingt es, beides zu vermitteln – Haltung und Skills –, bekommen wir Mitarbeiter und Führungskräfte, die einen echten Spirit für Veränderung und Innovation ins Unternehmen tragen und sich gegenseitig beflügeln.
Egon Zehnder: Wie hat sich das Konzept der Bertelsmann University seit ihrer Gründung verändert?
Steven Moran: Wir haben von Anfang an die kluge Entscheidung getroffen, je nach Inhalten auf Partnerschaften zu setzen, kurz nach dem Entstehen der Bertelsmann University zum Beispiel durch ein Joint Venture aus der Harvard Business School und der privaten Wirtschaftshochschule IMD in Lausanne. Dass wir unsere University damals nicht als eigene physische Einheit geschaffen haben, ist für uns heute – mit Blick auf unsere dezentrale Unternehmensstruktur mit vielen hundert Standorten weltweit – ein enormer Vorteil: Wir müssen kein spezialisiertes Lehrpersonal auslasten, haben keine Standortkosten, sondern sind sehr agil in der Zusammenstellung der Inhalte, der Dozenten und der Kanäle, über die Wissen vermittelt wird. Heute bieten wir natürlich andere Inhalte an als vor zehn Jahren, und die Lernwege haben wir stark aufgefächert. Digitales Lernen und auch die Verbindung von Classroom Training mit Online-Lernen bekommt einen immer höheren Stellenwert.
Egon Zehnder: Wie schaffen Sie es, dass das vermittelte Wissen Verhalten verändert und im Unternehmen eine Wirkung entfaltet?
Steven Moran: Ich gebe Ihnen ein Beispiel aus unserem Angebot an Programmen, welches sich an unser mittleres sowie unser Topmanagement richtet: Es reicht längst nicht mehr, eine gute Strategie auszuarbeiten – das müssen die Teilnehmer in unserem Senior Leadership Programm sowieso selbst leisten. Um diese Strategie jedoch umzusetzen, brauchen wir Leute, die – wie man aus dem Englischen übersetzt – sozusagen „beidhändig“ (ambidextrous) führen können: Sie müssen auf der einen Seite in der Lage sein, ein Kerngeschäft zu führen, in dem es auf Stabilität und Effizienz ankommt. Auf der anderen Seite müssen sie gleichzeitig Innovation, Disruption und Transformation vorantreiben können. Das ist der Spagat, auf den wir vorbereiten.
Egon Zehnder: Wer nimmt welche Rollen bei der Ausbildung Ihrer Führungskräfte ein?
Steven Moran: Die Bertelsmann University konzipiert die Programme bedarfsorientiert für die Zielgruppe der Führungskräfte – mit unterschiedlichen Lernzielen, wie z. B. klassischen Leadership Skills oder auch mit konkreten unternehmensstrategischen Zielen im Hinterkopf. Abhängig vom jeweiligen Programm werden Teilnehmer entweder von den einzelnen Unternehmensbereichen nominiert, oder sie können sich selbst direkt anmelden. Unsere Aufgabe als zentrale Lernorganisation ist u. a. auch, Bertelsmann-weit die nötige Transparenz beim Lernbedarf herzustellen, die Fortschritte des Einzelnen im Blick zu behalten und ggf. darüber hinausgehende Anstöße und Impulse zu geben. Man kann sagen, wir befähigen und schauen, dass das, was wir gelehrt haben, auch angewendet wird. Dann schicken wir die Mitarbeiter los, damit sie das Gelernte für ihre eigene Karriere anwenden. Dies liegt in der Verantwortung der Teilnehmer unserer Programme – und an ihren Vorgesetzten.
Egon Zehnder: Wie stellen Sie sicher, dass Sie genügend geeignete Anwärter auf eine Topmanagementposition entwickeln?
Steven Moran: Für Positionen im Senior- und erst recht im Topmanagementbereich arbeiten wir mit einer internen Talent–Pool-Struktur: Leistungsträger mit Entwicklungspotenzial werden auf Basis gemeinsam verabschiedeter Kriterien von allen Unternehmensbereichen nominiert. Die Entscheidung, wer geschickt wird, liegt dabei bei den Geschäftsbereichen, wobei wir uns mit deren Personalverantwortlichen zusammensetzen und explizit diskutieren, in welche Richtung sich einzelne Kandidaten auch außerhalb dieses Bereiches entwickeln könnten. Denn die Idee ist, den Teilnehmern an neuralgischen Punkten in ihrer Karriere das Rüstzeug zu vermitteln, das sie für den nächsten Schritt – nicht nur innerhalb des „aktuellen“ Unternehmens – brauchen. Je mehr wir in Richtung Topmanagement, Bereichsleiter und Vorstand „gehen“, desto klarer wird auch die Vorstellung unseres Aufsichtsrats in Bezug auf Qualität, Quantität und nicht zuletzt Diversität der Teilnehmer in den entscheidenden Pools.
Und beim Stichwort Rüstzeug wären wir dann auch wieder bei Rolle und Aufgabe der Bertelsmann University in diesem Zusammenhang: Dass entsprechende Maßnahmen für einen Pool möglicher Vorstandsnachfolger vielleicht etwas anders aussehen als bei einem Senior Management Pool, ist normal. Wichtig ist uns, dass Lernen und Talentmanagement ganz eng abgestimmt sind und gemeinsam an ein und derselben Definition von „Mission Success“ gemessen werden.
Egon Zehnder: Wie hat Bertelsmann seine HR-Organisation umgestaltet, um diese agile Entwicklung von Talenten möglich zu machen?
Steven Moran: Es fängt schon mit dem Signal an, dass man einen Verantwortlichen für Personal im Rang eines Vorstands hat. Bei uns ergab sich diese Entwicklung in der Amtszeit unseres aktuellen CEO Thomas Rabe. Das ist konsequent, denn mehr denn je basiert unser Geschäft auf Menschen, deren Kreativität und Unternehmertum. Da liegt es nahe, jemanden zu benennen, der für diese wichtige Ressource auf höchster Ebene die Verantwortung trägt. Wegen der Unterschiedlichkeit unserer Geschäfte agieren die Personalchefs unserer Bereiche jeweils eigenständig, die Rolle der zentralen HR ist, jene Themen zu identifizieren und voranzutreiben, die alle Bereiche betreffen, und dort auch bei der lokalen Umsetzung einer gemeinsam mit den Bereichen festgelegten HR-Strategie zu unterstützen.
Egon Zehnder: Welche Rolle spielt Technologie?
Steven Moran: Neben Unternehmertum und Kreativität spielt Technologie eine ganz herausragende Rolle, insbesondere auch an der Schnittstelle zu HR. Das lässt sich gut am Beispiel des Musikgeschäftes zeigen: Die Entwicklung der Musikindustrie vom physikalischen CD-Vertrieb zum Streaming-Angebot ist als Transformationsgeschichte hinreichend bekannt. Auch in unserem Musikgeschäft – BMG – arbeiten ungefähr genauso viele Kolleginnen und Kollegen an Technologiethemen, bspw. der Analyse und Interpretation von Daten, wie an der eigentlichen Produktion kreativen Outputs. Es geht uns dabei wie fast jedem anderen Unternehmen: Auf dem Arbeitsmarkt gibt es bei Weitem nicht genug Talente, die die nötigen technologischen Skills beherrschen, um das, was wir vorhaben, abzudecken. Wir mussten uns also etwas einfallen lassen. Gemeinsam mit Google haben wir deshalb Technologiestipendien beim Online-Bildungsanbieter Udacity ausgeschrieben. Die besten Absolventen durften weitere Kurse absolvieren und einen Abschluss – einen sog. Nanodegree –, bspw. als Data Analyst, erwerben. Durch die Kombination der Kompetenzen aller drei Partner hat die Initiative eine enorme Reichweite gehabt. Allein bei Bertelsmann haben sich mehrere Hundert Mitarbeiter eingeschrieben. Diese haben jetzt ein zertifiziertes Ausbildungslevel und können dort eingesetzt bzw. auf einen entsprechenden Job entwickelt werden. Zudem hatten wir nur einen Bruchteil der Kosten der Neueinstellung einer Person, die den Konzern und unsere Kultur noch nicht kennt. Und ganz nebenbei ist es eine Wertschätzung für motivierte Mitarbeiter, die nun eine zusätzliche, hochrelevante Kompetenz aufweisen können, die sie für die berufliche Zukunft besonders gut vorbereitet.
Egon Zehnder: Welche Herausforderungen kommen beim Thema Lernen auf die Unternehmen und ihre Mitarbeiter in den nächsten Jahren zu?
Steven Moran: Die Bandbreite an Aufgaben, die ein Mitarbeiter zu bewältigen hat, um täglich seinen Job gut zu machen, wird ohne Frage immer umfangreicher. Und Wissen entwickelt sich in bestimmten Bereichen rasend schnell weiter. Unternehmenslenker, besonders die im Mittelstand, sollten diese Herausforderung frühzeitig ernst nehmen. Es müssen Möglichkeiten geschaffen werden, damit dieses Wissen zugänglich wird – und neue Technologien ermöglichen uns das. Die Voraussetzung ist allerdings, dass eine entsprechende Lernkultur etabliert wird und man sich agile Strukturen zunutze macht. Alle Mitarbeiter, die sich weiterentwickeln wollen, müssen ermutigt werden, Wertschätzung erfahren und den nötigen Freiraum dafür bekommen.
Natürlich verstehe ich, dass sich „Lernkultur etablieren“ zunächst wie ein nahezu unmögliches Unterfangen anhört – wozu braucht es das, was bringt es? Das ändert sich aber in der Regel schnell, wenn ich mit dem finanziellen Effekt argumentiere, abgesehen vom Innovations- und Motivationsschub. Ein gut gemachtes E-Learning-Angebot beispielsweise kann signifikant Kosten sparen im Vergleich zu normalen Präsenzschulungen, ohne Einbußen im Lernerfolg, und ermöglicht Lernen zu jeder Zeit an jedem Ort.
Egon Zehnder: Was bedeutet Lernen für Sie persönlich?
Steven Moran: Lernen ist etwas, das mich permanent begleitet. Meine Motivation, immer weiter zu lernen, wird geweckt, wenn ich entdecke, dass mein Wissen in einem Thema nicht auf dem neuesten Stand ist, es mich jedoch weiterbringen wird, dieses Wissen auszubauen. Dann mache ich mich auf den Weg. Lernen findet auch statt, wenn man aus Fehlschlägen und Scheitern Rückschlüsse zieht – eine gefestigte Fehlerkultur zu haben, ist essenziell. Auch das ist ein Lernprozess, den wir uns auf die Fahne geschrieben haben. Man kann nicht ständig von anderen verlangen, dass sie innovativ sind, ohne zuzugestehen, mit den Einschätzungen auch mal falsch zu liegen. Ich weiß, das ist leicht gesagt, es wirklich zu leben ist aber eine ganz andere Sache. Persönlich probiere ich mich da immer zuerst mit meinem unmittelbaren Umfeld aus und teile die Versuche, die nicht wirklich funktioniert haben – und auch, welche Konsequenzen ich daraus ziehe. Genau das bedeutet Lernen.
Egon Zehnder: Herr Moran, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Vita
Steven Moran wurde 1975 als Sohn eines amerikanischen Vaters und einer belgischen Mutter geboren. Seine Schulzeit hat er in Deutschland und den USA verbracht. An der University of Houston, in Harvard und an der Washington University in St. Louis hat er Betriebswirtschaft, Ökonomie und Deutsch studiert.
Nach seiner Studienzeit arbeitete Steven Moran als einer der ersten Ausländer für den Technologiekonzern Samsung in Seoul. Nach seinem Master Degree 1999 trat er in das Bertelsmann Entrepreneurs Program (BEP) ein. Es folgten Stationen im Mediengeschäft des Gütersloher Konzerns und in den Bereichen Geschäftsentwicklung und Investment Management in Deutschland und den USA.
2005 verließ Steven Moran Bertelsmann und ging zu Apple, wo er bis 2007 die Markteinführung des iTunes-Geschäftes in Deutschland, Österreich und der Schweiz verantwortete. Anschließend kehrte er als Senior Vice President HR Strategy & Controlling zu Bertelsmann zurück. Als COO des Musiklabels BMG zog es ihn zurück in den Musikbereich, bevor er 2013 bei Bertelsmann die Aufgabe des Group EVP & Transformation Management Officer (TMO) übernahm. Seit 2015 ist er Chief Learning Officer von Bertelsmann.
Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Michael Hudler