Was ist es, das Familien in ihrem Innern zusammenhält? Auf welche Weise bleibt die Identität einer Familie über Generationen hinweg erhalten, ohne die eigenständige Persönlichkeit ihrer Mitglieder in Frage zu stellen? Rituale spielen in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Das lässt sich über die Zeiten und über Kulturen hinweg beobachten. Das Anfang des 20. Jahrhunderts erschienene Buch des französischen Ethnologen Arnold van Gennep, „Übergangsriten“, gilt auch heute noch als ein Standardwerk der Völkerkunde. Im Folgenden erörtert der US-amerikanische Familienberater und Anwalt James E. Hughes, Jr., inwieweit van Genneps Erkenntnisse dazu dienen könnten, die Identität und Zukunft von Familien über Generationen hinweg zu sichern.
Von James E. Hughes, Jr.
„FROM shirt-sleeves to shirt-sleeves in three generations”, lautet ein amerikanisches Sprichwort, das frei übersetzt besagt: „Es ist leichter reich zu werden als reich zu bleiben.“ Es beschreibt die Tatsache, dass es vielen Familien nicht gelingt, das einmal mit viel Einsatz und Disziplin erwirtschaftete Vermögen über mehrere Generationen hinweg zu wahren oder gar zu mehren. In meiner Arbeit als Berater von Familienunternehmen kam ich zu dem Schluss, dass das alte Sprichwort auf jene Familien am seltensten zutrifft, die wichtige Abschnitte im Leben ihrer Angehörigen mit Ritualen feiern.
Überraschen sollte dies eigentlich niemanden, denn Rituale zur Feier wichtiger Lebensabschnitte des Einzelnen und seiner Familie oder Sippe zählen nach Ansicht der Anthropologen zu den Grundlagen eines reibungslosen Zusammenlebens in Stammesgesellschaften. Zudem zeigt die Anthropologie, dass Stammesgruppen dadurch entstehen, dass die zweite oder dritte Generation einer Familie Verwandschaftsgruppen bildet und diese sich in der vierten und fünften Generation dafür entscheiden, zusammenzubleiben. Stämme bestehen somit aus den Nachfolgegenerationen einer Ursprungsfamilie.
Viele so entstandene Stämme haben sich über Dutzende von Generationen hinweg vermehrt und weiterentwickelt, ein gutes Beispiel dafür sind die Irokesen. Es liegt auf der Hand, dass vielköpfige Gemeinschaften nicht von dem gemeinsamen Erbgut zusammengehalten werden – der Anteil einzigartiger, von einem gemeinsamen Vorfahren ererbter und von allen Mitgliedern geteilter Erbinformationen ist minimal. Was diese Individuen zu einem Stamm zusammenschweißt, sind die überlieferten Erfahrungen und Bräuche früherer Generationen. Die Stammeszugehörigkeit beruht somit nicht auf Blutsverwandtschaft, sondern auf Affinität. Vom Stamm entwickelte, oftmals einzigartige Rituale sind das Ergebnis dieser Überlieferungen und Erfahrungen und bringen das „Anderssein” der Gruppe zum Ausdruck. Sie schlagen die Brücke zu den Ahnen und zur Stammesgeschichte und stärken das Gefühl, einer besonderen Gemeinschaft anzugehören.
Was sind Rituale und welche Rolle spielen sie in der Entwicklung des Einzelnen und seiner Familie oder Stammesgruppe?
In „Übergangsriten“ erklärt Arnold van Gennep, dass Familien- und Stammesrituale es den individuellen Mitgliedern erleichtern, von einer Lebensphase zur nächsten überzugehen. Van Gennep beschreibt solche Riten als einen Prozess, bei dem der Betroffene mit Hilfe seiner Gemeinschaft drei Abschnitte durchläuft. In einer ersten Phase löst er sich von der abgeschlossenen Lebensetappe ab. In der zweiten erfolgt die Einführung in den bevorstehenden Lebensabschnitt mit der Vermittlung von speziellen Kenntnissen. Im dritten und letzten Schritt wird das mit dem neuerworbenen Wissen ausgestattete Individuum wieder in die Gemeinschaft aufgenommen und ist nun bereit, das bevorstehende Lebensstadium in Angriff zu nehmen. Die rituellen Abläufe helfen, Reibungen zu vermeiden und den Fortbestand der Gemeinschaft zu sichern.
Rituale erfüllen auch zwei Aufgaben im Leben von Familien, die den Erfolg gegenwärtiger und künftiger Generationen sicherstellen wollen. Zum einen erleichtern sie dem Einzelnen das Überschreiten von Lebensschwellen. Zum anderen tragen sie zum gemeinschaftlichen Erfolg bei, indem sie die persönliche Entwicklung der Mitglieder fördern. Dadurch treiben sie das Anwachsen der Familie zur Sippe und zum Stamm voran und sichern deren Fortbestand über viele Generationen.
Meilensteine
Welche Abschnitte im Leben des Einzelnen und der Familie werden mit speziellen Ritualen gefeiert?
Eintritt in das Erwachsenenalter. Alle Stammesgesellschaften und viele religiöse Gemeinschaften zelebrieren den Übergang von der Kindheit zum Erwachsenenalter durch symbolische Handlungen. Vielfach war dies mit einer Trennung der jungen Menschen von den Eltern und der Einweihung in die Geheimnisse des Stammes oder der Religionsgemeinschaft verbunden. In den frühen Gesellschaften wurden die entsprechenden Riten von den Stammesältesten und oft auch von engen Verwandten wie Onkel oder Tanten des Kindes ausgeübt, bei Religionsgemeinschaften von den Priestern und Priesterinnen. Häufig sieht das Ritual eine Zeit der Absonderung vom Stamm vor, während derer der Jugendliche ausschließlich mit Gleichaltrigen zusammenlebt. Diesen Vorgang bezeichnet van Gennep als Ablösungsphase. Während der Trennung vom Stamm werden die Jugendlichen in das Stammeswissen eingeführt – van Genneps zweite Phase. Gleichzeitig haben sie Gelegenheit, persönliche Begabungen auf die Probe zu stellen, und werden angeleitet, sie zum Wohl der Allgemeinheit einzusetzen. Wenn dieser Vorgang abgeschlossen ist, wird der frischgebackene Erwachsene in der dritten Phase wieder in den Stamm aufgenommen, und oft beginnt das Leben als vollwertiges Stammesmitglied mit der Verleihung eines neuen Namens. Die Wiederaufnahme entwickelte sich zu einem ausgefeilten Ritus.
Ernennung von Oberhäuptern. Alle erfolgreichen Familien und Stämme sind sich der Bedeutung von Oberhäuptern als Voraussetzung für ein geregeltes Zusammenleben bewusst. Mit der Ernennung eines Ältesten oder Anführers erklärt sich die Familie oder Gruppe als Ganzes bereit, die betreffende Person mit der Schlichtung von Streitigkeiten, Durchsetzung von Regeln und Wahrung von Traditionen zu beauftragen und ihr die nötige Entscheidungsgewalt zu verleihen. Deshalb ist eine solche Handlung ein wichtiger Augenblick in der Familien- oder Stammesgeschichte. Für den Erwählten selbst ist sie natürlich nicht weniger bedeutungsvoll: Der neue Rang zeigt in der Regel an, dass der Betreffende die erwarteten Leistungen erbracht hat und nun als erfahren genug erachtet wird, für die Gemeinschaft zu handeln. Viele Stämme haben Rituale entwickelt, mit denen sie diese Bevollmächtigung verkünden und den persönlichen Erfolg des neuen Anführers feiern.
Aufnahme neuer Mitglieder. Eine wichtige Rolle spielen auch Rituale anlässlich des Zugangs neuer Mitglieder durch Geburt oder Einheirat; alle Familien, Stämme und Religionsgemeinschaften feiern Geburten mit aufwendigen Festen. Die entsprechenden Riten dienen nicht nur zur Bekanntgabe der Geburt als solcher, sondern bekräftigen auch das Band zwischen der Gemeinschaft und den Ahnengenerationen, von denen das Kind abstammt. Noch wichtiger ist die Geburtsfeier als Bekräftigung der gemeinschaftlichen Zukunft. Zudem wird durch das Ritual die Legitimität des Kindes anerkannt und damit sein Anrecht auf Fürsorge und künftige Zugehörigkeit bestätigt.
Auch die Einheirat stellt ein wichtiges Ereignis dar, sowohl für das neue Mitglied als auch für die Gemeinschaft. Alle Familien, Stämme und Religionsgemeinschaften legitimieren Eheschließungen mit einem aufwendigen Zeremoniell. Die Riten zur Aufnahme des einheiratenden Ehepartners feiern die Erweiterung der Familie oder Sippe und bestätigen gleichzeitig den Anspruch des Neuankömmlings auf Aufnahme in die Gemeinschaft. Über diese Handlungen wird signalisiert, dass das neue Mitglied sich von der eigenen Sippe ablöst und mit den Gepflogenheiten der Gruppe, in die es einheiratet, vertraut gemacht werden muss. Vor allem aber stellen sie für den Neuankömmling einen Weg dar, sich in ein neues Beziehungsgeflecht einzufügen.
Tod eines Mitglieds. Alle Familien, Stämme und Religionsgemeinschaften praktizieren Begräbnisriten. Indem sie das Leben des Verstorbenen würdigen, erleichtern diese Rituale den Hinterbliebenen die Trauerarbeit und ermöglichen es ihnen, das Leben des Verstorbenen als Teil einer gemeinsamen Familien- oder Stammesgeschichte zu verstehen.
Einführung von Außenstehenden. Familienangelegenheiten werden oft vorsorglich durch die Bestellung von Treuhändern, Schirmherren und Beratern geregelt. Rituale zur Feier der Aufnahme solcher Persönlichkeiten in den Familienkreis sind wichtig. Sie dienen der Anerkennung der jeweiligen Rolle und legitimieren die künftige Autorität und Zuständigkeit des Betreffenden im Hinblick auf die Ordnung der Familienverhältnisse. Die entsprechenden Bekanntgabe- und Begrüßungsrituale verankern die Position des Beauftragten im Familiengefüge und erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass er seine künftigen Aufgaben mit Erfolg wahrnehmen kann.
Riten als Ausdruck der eigenen Identität
Welche Arten von Ritualen stehen Familien zur Auswahl, die sich über eigene Bräuche von anderen unterscheiden möchten?
Die meisten Religionsgemeinschaften pflegen Rituale zur Feier bestimmter Lebensabschnitte wie Taufe, Namensvergabe, Firmung, Bar oder Bat Mitzvah, Eheschließung, Ordination, Sterbesakramente und Trauerfeiern. Viele dieser Riten lassen sich an die Wünsche der feiernden Familie anpassen. Säkulare Gemeinschaften, gleich ob Monarchie, Diktatur oder Republik, zelebrieren üblicherweise bestimmte Ereignisse im Leben des Einzelnen und der Gesellschaft mit Musik, Reden, spezieller Kleidung, Tanz, Essen und Trinken, Wahlen, Abschlussfeiern, Hochzeiten und Trauerfeiern. Meiner Erfahrung nach lassen sich viele dieser symbolischen Handlungen an familiäre Geburtstage, Hochzeiten, Jubiläen und Begräbnisse anpassen. In der sozialanthropologischen Literatur findet sich eine Fülle von Beispielen, die belegt, dass menschliche Gesellschaften die einzelnen Abschnitte im Leben ihrer Angehörigen und der Gemeinschaft mit einer Vielfalt von Riten feiern.
Ich hoffe, es ist mir gelungen aufzuzeigen, wie kreativ die Menschheit ist, wenn es darum geht, Ereignisse im Leben von Familien und Gemeinschaften zu feiern, und wie wichtig diese Kreativität für die Entwicklung des Einzelnen und seines Familienverbandes ist. Das Bedürfnis nach rituellen Handlungen zur Würdigung wichtiger Lebensabschnitte und zur Förderung der Familie oder Sippe scheinen alle Menschen zu teilen. Wir haben wohl ein Gespür dafür, wann es an der Zeit ist, uns von einem Lebensstadium abzulösen, neue Kenntnisse zu erwerben und uns anschließend als gereiftere Persönlichkeiten wieder in unsere Gemeinschaft einzufügen. Deshalb haben wir Riten entwickelt, mit denen wir als Familie oder Volksstamm Lebensabschnitte und Ereignisse zelebrieren, und wir festigen damit unsere Bindungen untereinander – im Interesse unseres persönlichen Erfolgs und der langfristigen Zukunft unserer Familie oder Gemeinschaft.
Auch Ihnen möchte ich empfehlen, wichtige Lebensabschnitte nicht als rein persönliche Angelegenheiten, sondern als Meilensteine im Werdegang Ihrer Familie zu betrachten und sie entsprechend zu feiern. Sie werden dabei entdecken, was Ihre Familie besonders macht, und die gemeinsame Geschichte fortschreiben. Vor allem aber werden Sie das verbindende emotionale und intellektuelle Kapital Ihrer Familie vermehren und ihre Zukunft dadurch in jeder Hinsicht bereichern.
James E. Hughes, Jr.
James E. Hughes, Jr. ist Gründer der New Yorker Rechtsanwaltskanzlei Hughes and Whitaker. Gestützt auf seine Erfahrung als Anwalt und Rechtsberater mit Schwerpunkt Familien- und Vermögensrecht sowie Nachfolgeplanung veröffentlichte er mehrere Bücher zum Themenkreis Family Governance und Vermögenssicherung, darunter „Family Wealth: Keeping It in the Family – How Family Members and Their Advisers Preserve Human, Intellectual, and Financial Assets for Generations“. Er ist als Redner bei nationalen und internationalen Veranstaltungen gefragt.