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"Treuebrüche können wir nicht tolerieren."

Wie sich das Künstler­kollektiv La Fura dels Baus vom katalanischen Straßen­theater zur globalen Kulturinstanz entwickelte

Welche Prozesse, welche geballten Energien, welche Absichten verbergen sich hinter Künstlerkollektiven? Ist nicht der Begriff an sich schon ein Widerspruch, haftet am Künstler doch per se die Idee des einsamen Genies? Daran glauben auch die „Furistas“, Spaniens furiose Theatermacher, die sich in den letzten Jahren immer mehr der Oper verschrieben haben. Ausgerechnet jenem Genre, das als letzte Bastion des bürgerlichen Establishments gilt. Von solchen und anderen Klischees will das „Familienunternehmen“ nichts wissen, gilt ihnen Musik doch als die höchste aller Künste. Was diese Familie, deren Ursprung auf Straßenkrawalltheater zurückgeht, seit über 30 Jahren zusammenhält, bleibt in der Welt der Kunst ein einzigartiges Experiment, und ihr Geheimnis. Carlus Padrissa, einer ihrer Köpfe, gewährt Einblick.

EINER DIESER typisch heißen Julitage in Peralada. Die freundlich knappe Frage „Wasser?“ kann nur bejaht werden. Carlus Padrissa federt auf braunen Gesundheitssandalen, aber ansonsten ist er, ganz Purist, vom Scheitel bis zur Sohle in Schwarz gekleidet. Er greift zur Flasche und schüttet sich mit zeitlupengetakteter Theatralik auch noch den letzten Tropfen über den kahlen Schädel. Als wär’s ein sakrales Taufzeremoniell. Oder doch eher der Prolog zu einer fulminanten Selbstinszenierung? Vielleicht auch nur der archaische Reflex eines Verdurstenden? Womöglich alles zusammen und noch etwas mehr. Denn in diesem Moment, den Kopf in den Nacken gelegt, die Augen zum Schlitz geschlossen, durch den halbgeöffneten Mund einen Seufzer losschickend, könnte Padrissa einer griechischen Tragödie entsprungen sein, oder einem avantgardistischen Mysterienspiel.

Hier also sind wir, beim Meister und Spiritus Rector der Fura dels Baus, here we are, estamos aqui: in einer nüchternen Turnhalle, gleich neben dem berühmten spätmittelalterlichen Schloss von Peralada, und die Stimmen der Sänger und Schauspieler aus vieler Herren Länder überkreuzen sich. Doch egal in welcher Sprache hier parliert und gesungen wird, umgehend wissen wir, dass dort, wo Carlus Padrissa den Ton angibt, Kommunikation über Bilder stattfindet und durch den Rausch der Musik, multimedial und interdisziplinär. Und bevor sich gleich alles überschlagen, verschlingen und neu auferstehen wird, sei – solange die Sinne noch im Zaun zu halten sind – zu Protokoll gegeben:

Nur wenige Tage noch, dann ist Premiere von „Orpheus und Euridike“, in der die georgische Mezzosopranistin Anita Rachvelishvili ebenso eine Hauptrolle spielt, wie es die neuesten Erfindungen der interaktiven Medientechnologien tun oder die Störche, die auf den Schlossgemäuern nisten. Wer dann zu den Vorstellungen von Fura dels Baus anreist, ist nicht einfach nur ein gewöhnlicher Operngänger, sondern ein Pilger zu den Spektakel verheißenden Wirkungsstätten der „Furistas“.

Das katalanische Peralada ist so ein Wallfahrtsort. Alljährlich im Juli und August findet dort im Schloss das Internationale Musikfestival statt. Es kann durchaus mithalten mit den Festspielen von Bayreuth und auch mit denen in Salzburg, seinen europäischen Vergleichsgrößen, und gilt in Spanien als das bedeutendste Kulturereignis des Sommers. Aber dort, wo La Fura dels Baus auftreten, hat sich die spanische Kultur, genauer gesagt: die katalanische, längst zum Kult verdichtet.

Absolute Disziplin

Wer aber sind diese Furistas, die seit Ende der siebziger Jahre wie eine unzertrennliche Familie sind und zunächst in Barcelona und bald im ganzen Land die Straßen besetzten und die Bühnen stürmten? Nur um dann mit weiterer Rasanz die Festungen der europäischen und internationalen Theater- und Opernwelt einzunehmen. Und die dabei im Laufe der Jahre auch en passant den Kulturhorizont verrückten. Niemand hätte sich damals vorstellen können, dass diese Krawallbrüder eines Tages die Bayerische Staatsoper erobern. Nun, im Dezember diesen Jahres wird Carlus Padrissa dort „Turandot“ unter der musikalischen Leitung von Zubin Mehta inszenieren.

Mehta und Padrissa sind ein eingespieltes Team. Gemeinsam haben sie im neuen Opernhaus von Valencia den „Ring des Nibelungen“, die erste spanische „Ring“-Darbietung seit langem, aufgeführt, und das Publikum war begeistert. Die leichtfüßig moderne Inszenierung war das Ergebnis einer intensiven Auseinandersetzung Padrissas mit der Wagner’schen Welt. Beobachter berichten von der absoluten Disziplin, mit der er zu Werke geht. Aber auch von der sanften Autorität eines gütigen Vaters, mit der er sein Team anleitet. Liegt in dieser Mischung vielleicht ein Teil des Erfolgs? Es ist ein langer Weg jedenfalls, den die Furistas zurücklegten von den staubigen Straßen Kataloniens bis in den Olymp.

Dabei waren die Umstände alles andere als göttlich, damals, als alles anfing, in einem kleinen katalanischen Kaff mit dem schönen Namen Moià, unweit von Barcelona. Ein ausgetrocknetes Bachbett zog sich durch die kleine Ortschaft, grad so unnütz wie der alte Esel, der bedenkenlos an die verrückten Jungs vom Straßentheater abgegeben wurde. „Erst waren wir nur fünf, aber als wir dann den VW-Bus hatten, wuchs unsere Gruppe auf neun an.“ Mehr passten nämlich nicht in den Bus.

„Wir sind ein kreatives Kollektiv, eine Familie, in der jeder eine andere Rolle spielt.“

Unverändert bleibt der Kitt, der den kleinen Theaterclan damals zusammenhielt. Bis dato, gute 33 Jahre später, ist er immer noch nicht zerbröselt. „Wir sind ein kreatives Kollektiv, eine Familie, in der jeder eine andere Rolle spielt.“ Stelle sich aber niemand das Idyll einer entzückenden Kleinfamilie vor. Denn die Furistas, so lernen wir von Carlus Padrissa, fühlen sich eher wie elternlose Geschwister oder wie Zirkuskinder, die eines von Anfang an spürten: „Gemeinsam sind wir stärker.“ Und plötzlich ist von Wölfen die Rede, die als Einzelne umkommen vor Angst, im Rudel aber ihrerseits Angst und Schrecken verbreiten können.

„Homo homini lupus.“ Ist der gefährlichste Feind des Menschen also tatsächlich der Mensch selbst? Dieses vergiftete Blut floss in den Siebzigern zweifelsohne durch die Venen der spanischen Gesellschaft. Wer wüsste das besser als die Gründer von La Fura dels Baus, die allesamt ihre Kindheit noch unter dem Generalísimo Francisco Franco verbrachten. Gerade erst war der Diktator gestorben, als sie ihre Volljährigkeit feierten. Die Bedrückung jedoch, die einem Land bleibt, wenn ihm die Luft abgeschnürt wurde, war noch überall zu spüren. War es da nur eine natürliche Folge, dass La Fura dels Baus mit all ihrer geballten Energie im Dienste der Freiheit geradezu explodierten? Dabei zerstörerisch zu Werke gingen, Autos zerdepperten und ihre Schauspieler an Fleischerhaken auf Marktplätzen zur Schau stellten. „Die Repression war ein Impuls“, erinnert sich Padrissa, „aber das Theater diente als Vorwand. Eigentlich ging es uns um das Abenteuer, den Spaß am Leben.“

War der Aufwand, nur für etwas Gaudi, nicht allzu heftig? „Theatermachen war auch eine Therapie für uns, um gegen die ,verguenza‘ anzukommen“, sagt Padrissa. Gegen Scheu also, Hemmungen und Scham gar. „Dann war da der Wunsch, sich selbst neu zu erfinden.“ Und natürlich auch eine Menge Testosteron. Die Gründer von La Fura dels Baus waren allesamt zornige junge Männer: „Da war Körper, Jugend, Narzissmus, all das, was uns heute nicht mehr so wichtig ist.“

Eine Familie starker Charaktere

Schon der Name ist Programm. „Fura hat mit Furor zu tun, mit Schaffen aus Leidenschaft, das ist unsere Identität. Fura ist etwas, das wir alle in uns tragen, ist ein ungezügelter Teil unseres Ichs. Fura heißt Wut, und darum geht es auch, die eigene Wut freizusetzen.“

Von den ursprünglich neun Wütenden im VW-Bus sind sechs übriggeblieben, immerhin. Darunter auch der Deutsche, Jürgen Müller. Der Charakter der Gruppe hat sich gewandelt, wie könnte es anders sein. Aber die Veränderung, sagt Carlus Padrissa, ist einem natürlichen Rhythmus gefolgt: „Vor 30 Jahren waren wir Leistungssportler. Dann ist es uns ergangen wie jedem Profifußballer: bis 30 ist man als Stürmer einsetzbar, bis 35 noch als Verteidiger, bis 40 als Torwart. Von da an betätigt man sich am besten als Trainer, und das sind wir jetzt.“ Diese Trainer haben keinen geringeren Anspruch als „das Streben nach dem Gesamtkunstwerk“. Und doch sind sie unprätentiös: „Wir sind flexibel und betrachten uns als Lernende.“

Aus dem kreativen Kollektiv ist ein Kollektiv von Kreativen geworden. Die Fura dels Baus sind heute die einzige Theatergruppe, die nicht einen Regisseur haben, sondern sechs. Sie agieren wie eine globale Kulturfabrik, mit speziellen Standortproduktionen und lokalen Zusammenschlüssen. Neben Carlus Padrissa und Jürgen Müller sind da noch die Kreativbosse Àlex Ollé, Miki Espuma, Pep Gatell und Pera Tantiña. 80 Prozent ihrer Produktionen stellt die Gruppe im Ausland auf die Beine, in ganz Europa, aber auch in Asien und selbst in den USA, wo man sich im etablierten Kulturbetrieb vor archaischen Ausbrüchen eher fürchtet.

Der Boom, den die Fura dels Baus gerade erleben, begann mit „Fausts Verdammnis“, einer musikalischen Dramatisierung des Goethe’schen „Faust I“ von Hector Berlioz. Die Inszenierung überzeugte 1999 in Salzburg, und gleich darauf folgte eine bejubelte Produktion der „Zauberflöte“ für die Ruhrfestspiele. Dann schlug der „Ring“ in Valencia das Publikum in Bann, überzeugten „Carmina Burana“ und Stockhausens „Licht“-Zyklus. Alles in allem erlebte die ehemalige Anarcho-Gruppe eine profunde Professionalisierung. „Heute sind wir ein Kollektiv, in dem sich die Einzelnen noch mehr respektieren als vor 15 Jahren“, erläutert Jürgen Müller in „La Vanguardia“, „weil wir mittlerweile mehr Selbstsicherheit gewonnen haben. Wir sind gewachsen, sind so viele Kooperationen mit anderen Künstlern eingegangen und haben uns gegenseitig Freiraum gegeben, damit jeder seine eigenen Stücke umsetzen kann.“

„Wir sind stahlharte Menschen, und was uns so lange zusammengehalten hat, ist die Freiheit zusammenzusein.“

Natürlich ist Kunst auch ein Wirtschaftsfaktor: „Wir sind ein Familienunternehmen, dessen Mitglieder ständig auf Achse sind.“ Was aber charakterisiert den Einzelnen in diesem global agierenden Kunstkonzern? Sie seien alles eigenwillige Charaktere, erfahren wir. „Wir sind stahlharte Menschen, und was uns so lange zusammengehalten hat, ist die Freiheit zusammenzusein.“ Zur Freiheit kommt selbstredend die Pflicht, sich in komplizierte Diskussions- und Entscheidungsprozesse zu begeben. Vornehmlich dann, wenn ein Inszenierungsangebot ins Haus flattert. Dann stellen sich diverse Fragen: Hat einer Lust und Zeit, die Herausforderung anzunehmen? Wenn zwei wollen, wird’s gemeinsam gemacht oder auch zu dritt. Absolut unumgänglich ist nur, dass alle informiert werden und mit dem Projekt einverstanden sind.

Loyalitätsfragen

Für das Konzept einer Inszenierung wird oft so lange und so gnadenlos diskutiert, dass schon mal Tränen fließen. Jeder muss seine Meinung sagen, gerade auch dann, wenn eine Produktion nicht gefällt. Die Balance zwischen künstlerischer Individualität und Gruppe wird stets neu verortet. Nichts gilt als nebensächlich, alle Gedanken werden erörtert, selbst wenn das zum allergrößten Chaos führt. „Dahinter steht halt eine etwas anarchistische Lebensauffassung.“ Es gilt aber auch die Prämisse: „Die Musik ist die höchste Form der Kunst.“ Ihr ordnen sie alle anderen Disziplinen unter. Der gegenseitige Umgang, auch der mit den Mitgliedern aus den Gruppen aus aller Welt, ist von vorneherein mit einem Grundrespekt gesegnet, denn: „Wir gehen prinzipiell davon aus, dass Künstler Genies sind und die Möglichkeit haben sollen, dies unter Beweis zu stellen.“

Die Jungs von der Gründertruppe, heute alles gestandene Männer, kennen sich zumeist, seitdem sie sechs Jahre alt sind. Die Behauptung „Wir sind Familie“ ist da keine Schönfärberei. Und das Eingeständnis, bei aller Offenheit könnten in die Kerngruppe keine neuen Mitglieder aufgenommen werden, ist leicht nachvollziehbar. Die Entwicklung von der Straßentheatergruppe hin zur globalen Kultmarke des etablierten Kulturbetriebs darf als einzigartig gelten. Bei aller Freiheit des Einzelnen, gibt es aber eine unabdingbare Voraussetzung, ohne die das Zusammenspiel der Furistas nicht funktionieren würde: die Loyalität zur Gruppe, zur Familie. „Treuebrüche können wir nicht tolerieren.“

Carlus Padrissa

Drei Freunde, die sich seit Kindheitstagen kennen, gehören 1979 zu den Gründern der Straßentheatergruppe La Fura dels Baus. Von Anfang an ist Carlus Padrissa trotz des Kollektivanspruchs, dass alle gleichberechtigt seien, einer ihrer führenden Köpfe, und er ist es bis heute geblieben. Der Name der Gruppe heißt übersetzt: das Frettchen von Baus. Er klingt nach Dada, nach Bauhaus und nach Pina Bausch, Assoziationen, die den Furistas durchaus lieb sind. In über 30 Jahren gemeinsamer Projektarbeit ist die Gruppe zusammengewachsen wie eine Familie. Jede neue Inszenierung besprechen sie gemeinsam, kämpfen sich durch Emotionen und Rivalitäten. Ihre Sprache ist hart und direkt. Niemand schont sich. Alles ist verhandelbar, nur eines nicht: Jeder Einzelne muss in absoluter Loyalität zum Ganzen stehen.

FOTOS: MICHAEL HUDLER

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