Der afrikanische Architekt Diébédo Francis Kéré hält an einer einfachen Idee fest: Gebäude zu errichten, die sinnvoll und unaufwändig sind, ihren Bewohnern nutzen und sich in die Gegebenheiten vor Ort einfügen. Um dies zu verwirklichen, überschreitet er in einem engen Dialog mit den Menschen Grenzen, Traditionen und Kulturen. Architektur, so wie er sie praktiziert, wird dabei zur Kulturvermittlung und übernimmt gesellschaftliche Verantwortung.
Als Francis Kéré als einer der Ersten aus seinem Dorf eine Schule besuchte, glaubten viele, den Sohn des Häuptlings für das Dorf verloren zu haben. Sie dachten sich: „Der Häuptling schickt seinen ältesten Sohn in die Schule. Wer wird ihm und uns nun bei der Feldarbeit helfen?“ Und zum Erstaunen seines Dorfes ging Kéré nicht nur auf eine Schule, sondern entfernte sich noch weiter: Nach dem Schulabschluss nahm er mit Hilfe eines Stipendiums in Deutschland ein Architekturstudium auf. Doch anstatt für immer für sein Dorf verloren zu sein, kam er zurück – mit westeuropäischem Know-how und mit Architekturtechnik, mit einem neuen Blick auf sein Land und seine kulturellen Wurzeln – und mit einer Idee: das Schulhaus, das in seinem Heimatdorf Gando errichtet werden sollte, aus Lehm zu bauen.
Kleines Projekt mit großer Wirkung
Die Dorfbewohner standen seiner Idee zunächst skeptisch gegenüber. Lehm war zwar kostenlos und in rauhen Mengen vorhanden, überstand aber erfahrungsgemäß nicht mehr als eine Regenzeit. Ihnen schwebten eher Betongebäude vor, wie die französischen Besatzungsmächte sie in Afrika bauen ließen. Auch seine Berliner Kommilitonen hielten nicht viel von seinem Lehmhüttenprojekt und quittierten seine Ausführungen gerne mit Schmunzeln. Ihnen erschien das Vorhaben, europäisches Wissen zu sammeln, um afrikanische Hütten zu modernisieren, simpel und architektonisch anspruchslos.
Kéré aber ließ sich nicht beirren, sprach mit den Menschen in seinem Dorf über technische Möglichkeiten und Anforderungen an die Bauten, entwickelte das Material Lehm weiter, indem er ihm Zement hinzufügte, bildete die Menschen vor Ort aus, damit sie das Gebäude und die notwendigen Materialien selbst entwickeln und errichten konnten und ließ eine Architektur entstehen, die im wahrsten Sinne des Wortes bis heute Schule macht: Zehn Jahre nach seiner Entstehung wird der mittlerweile um Lehrergebäude erweiterte Bau immer noch als Schule genutzt, seine Konstruktionsweise und interkulturelle Entstehungsgeschichte ist zum Thema für Promotionsarbeiten avanciert, und Kéré ist für den Modellcharakter der Schule jüngst mit dem renommierten Swiss Architectural Award ausgezeichnet worden. Wie kaum ein anderer gilt Kéré international als Vorreiter einer nachhaltigen Architektur, die es versteht, den örtlichen ökologischen und sozialen Anforderungen gerecht zu werden, und die über Traditionen und Kulturgrenzen hinweg verschiedene Ansätze vereint.
Austausch mit den Menschen
Was seine Architektur auszeichnet, ist jedoch nicht alleine die Beschaffenheit der fertiggestellten Gebäude, in denen sich Moderne und Tradition, neue und alte Materialien, Europa und Afrika treffen und zu neuen Form- und Stoffkombinationen zusammenfließen. Es ist auch nicht alleine Kérés behutsamer Umgang mit den Ressourcen, die zur Errichtung und zum Betreiben seiner Gebäude notwendig sind. Noch bemerkenswerter ist der Dialog, der aus seiner Arbeit vor Ort entsteht. Es ist die Art und Weise, wie er die Menschen einbezieht, wie der Architekt Kéré sich in seinen Arbeiten selbst zurücknimmt, zuhört, moderiert, Ideen aufgreift und aus langen und intensiven Gesprächen etwas Neues entstehen lässt; wie er eine fruchtbare Korrespondenz zwischen seinem europäischen Wissen um Technik und Know-how und den örtlichen Materialien und Kulturen schafft.
Ob er sich selbst als Brückenbauer, als Vermittler zwischen zwei Welten versteht? Diese Frage macht ihn nachdenklich, und mit bescheidenen Worten erläutert Kéré, dass seine Art, europäisches Know-how mit afrikanischer Tradition zu verbinden, keinem Plan entspreche, sondern „einfach so entstanden sei“. Er habe versucht, das in Europa Erlernte zu nehmen und für seine Gemeinschaft in Gando nutzbar zu machen: „An der Universität hatte ich gelernt, wie man am besten ein Gebäude baut, damit es steht. Mit diesem Wissen bin ich in mein Heimatdorf gegangen und habe überlegt: Wie kann man das dort machen, wo die meisten Menschen weder lesen noch schreiben, also auch keine Pläne verstehen können?“ Er habe also angefangen, mit den Menschen zu diskutieren, sehr lange, und am Ende, so formuliert er es, „hatte die ursprüngliche Idee ein Kleid“.
Wie wichtig für diesen Dialog das Prinzip ist, das wir in Europa „auf Augenhöhe“ nennen, beschreibt Kéré eindrücklich und greifbar: „Ich setze mich auf die Erde, genauso wie die Leute in meinem Dorf Gando, und wir diskutieren lange. Ich bin nicht einer, der mit einem Übersetzer eingeführt wird, mit einem großen Auto kommt und Respekt einflößt. Ich bin nicht ein Gast, den man nicht vor den Kopf stoßen will, weil man seine Kultur nicht kennt. Ich werde offen angesprochen, und so entsteht aus dem Dialog eine Substanz. Das ist die Arbeit, die ich mache. Wenn dieser Austausch dann tatsächlich als Brücke gesehen wird, dann habe ich das nicht geplant, aber im Grunde freut es mich sehr.“
„Aus einem offenen Dialog entsteht Substanz. Das ist die Arbeit, die ich mache.“
Selbst für ihn als gebürtigen Afrikaner seien die Hürden hoch, mit den Menschen, die nicht lesen und schreiben können und auf den ersten Blick keine Zusammenhänge erkennen, ein ergiebiges Gespräch zu führen. Er sei gezwungen, seine Wissenschaft und Technik, sein europäisches Denken, erst einmal ganz beiseite zu legen und auf die Menschen zuzugehen. Aber, so erzählt er begeistert weiter: „Wenn Sie es schaffen, diese Hürde zu überwinden, den kulturellen Ballast abzuwerfen, wenn Sie sich die Zeit nehmen, dann entdecken Sie, was für ein Potential dort vorhanden ist, und Sie stellen fest, dass die in der Wissenschaft entstandene Idee durch die Erfahrung dieser Menschen bereichert werden kann.“ Ihrer wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Armut stünden andere Reichtümer wie ein jahrhundertealter Umgang mit der Natur gegenüber. Wer in Afrika mit den Menschen erfolgreich arbeiten wolle, müsse zweierlei wissen: Er darf keine falschen Hoffnungen wecken, und er muss bereit sein, von ihnen zu lernen. Die Menschen vor Ort wüssten zum Beispiel besser als jeder Fachmann, dass es keine gute Idee sei, in dem nicht mehr erkennbaren und ausgetrockneten Flussbett ein Gebäude zu errichten, da eines Tages die Fluten wieder steigen und auf ihrem Weg alles mit sich reißen werden.
Kéré ist es ein Anliegen, den Austausch zwischen Afrika und Europa anzusprechen. „Sicherlich gibt es Annäherungen, Konvergenzen“, aber man sei doch immer noch dabei, aus dem afrikanischen Kontinent ein zweites Europa zu machen. „Wir importieren europäische Ideen und Vorbilder, anstatt von Afrika zu lernen.“ Wie soll ein Austausch zwischen ernsthaften Partnern entstehen, fragt er, wenn dem afrikanischen Kontinent keine Zeit gelassen werde, seine eigenen Erfahrungen und Fehler zu machen? Könne ein Kontinent von heute auf morgen europäische Demokratiemodelle und Parteiensysteme übernehmen, die sich in Europa erst im Verlauf vieler Jahrhunderte gebildet haben?
Kein zweites Europa
Zu einem echten Austausch, so betont er immer wieder, gehöre es, dass beide Seiten ihre Kultur darstellen und einbringen können. Kéré erinnert sich noch gut, wie er in Deutschland nach nur wenigen Wochen von seinen europäischen Erfahrungen so begeistert war, dass er anfing, seine afrikanische Kultur geringzuschätzen. So stimmte er ein in „den Chor der Pauschalisierungen über die Primitivität der afrikanischen Länder“ und war überzeugt von der Notwendigkeit, europäische Errungenschaften nach Afrika zu exportieren. Besonders das europäische Bildungssystem hatte es ihm angetan mit seiner Schulpflicht, die nicht nur auf dem Papier besteht, sondern für deren Einhaltung auch ausreichende Einrichtungen sorgen. Irgendwann jedoch änderte sich sein Blick, er interpretierte seine Wurzeln neu und lernte die Schwächen seines Kontinents als seine Stärken wieder neu schätzen. Kéré erinnert an die Weisheit und das implizite Wissen, das in Afrika ohne Institutionen von Generation zu Generation weitergetragen wird, und er beschreibt die deutschen Studenten, die unter hohem Zeitdruck Semester für Semester, Prüfung für Prüfung absolvieren. Er beobachtet, wie sie darüber den Mut verlieren, neue Gebiete zu betreten, einfache Ideen zu testen oder für ein paar Monate ins Ausland zu gehen.
„Von Afrika lernen“ ist der Leitsatz des Architekturprojektes, das Kéré weit über Fachkreise hinaus berühmt gemacht hat. Im Auftrag des kürzlich verstorbenen Regisseurs Christoph Schlingensief setzt Kéré dessen Idee um, in Burkina Faso ein Operndorf entstehen zu lassen. Schlingensief kam, bereits schwer von Krankheit gezeichnet, mit seinem Projekt auf Kéré zu und bat ihn, dieses als Architekt und Kulturvermittler zu begleiten. Wesentliches Merkmal bei der Umsetzung sollte nicht die Realisierung eines bereits vorliegenden Entwurfs sein. Schlingensief ging es vielmehr darum, einer Idee den Raum und die Zeit zu geben, um zu wirken. Kéré nennt das, „eine Idee langsam von ihrer Wirkung her entstehen lassen“. Für Kéré stellt das Operndorf „alles auf den Kopf, was bislang in der Entwicklungshilfe getan wurde“. Diese Idee Schlingensiefs sei „wie eine Idee, die Brücken baut“: Viele Menschen aus Afrika und aus Europa wollen sich daran beteiligen, ob als Künstler, Architekten oder Entwicklungshelfer. So entsteht kein Opernhaus nach europäischem Modell, sondern ein „Ort der Selbsthilfe“, ein „Ort des Austausches“. Wie bei den anderen Arbeiten von Kéré werden auch hier keine Technologien oder Materialien importiert, sondern alles vor Ort unter Beteiligung der Bevölkerung aus dem Vorhandenen fabriziert. Schlingensief hat diesen Ansatz mit dem Beuys’schen Begriff als eine „soziale Plastik“ bezeichnet, bei der Menschen nicht einfach eine Oper bauen, sondern lernen, Werkstätten zu errichten, Baumaterialien und Techniken zu verwenden.
Neue Partner für eine neue Architektur
Architektur, so wie Kéré sie versteht, erschöpft sich also nicht in dem Errichten von Gebäuden. Sie befähigt die Menschen vor Ort, diese selbst zu bauen, ist sozial und ökologisch umsichtig. Und sie zeigt Europäern, was sie von Afrika lernen können. Vielleicht verfolgt Kéré damit einen Ansatz, der zukunftsweisender ist als große Architekturprojekte, die auf dem Reißbrett entstanden sind und sich über viele Etagen in den Himmel erstrecken. Mit Erstaunen stellt Kéré fest, dass Stararchitekten wie Rem Koolhaas, dessen Architektur sich durch spektakuläre Größe auszeichnet, über die Notwendigkeit einer neuen Architektur nachdenken – einer Bauweise, die von kleinen Einheiten und fremden Kulturen inspiriert ist, wie zum Beispiel den südamerikanischen Favelas. Doch warnt er davor, aus dieser nachhaltigen Bauweise einen kurzfristigen Modetrend zu machen. Kéré sieht die Architektur in der Pflicht, die großen Probleme wie Klimaerwärmung, Armut, Umweltkatastrophen zu berücksichtigen und Lösungen anzubieten. „Ein Gebäude muss mehr sein als nur eine Erscheinung“, fasst Kéré seinen Anspruch an die neue Architektur in Worte. „Kann ein Architekt in einem Büro alleine sitzen und ein Gebäude entwerfen und bauen, welches uns alle berührt?“, fragt er sich. „Architektur ist ein sehr großer Eingriff in die Umwelt“, gibt er selbst die Antwort. „Und deshalb dürfen nicht nur die Architekten beteiligt sein. Sie brauchen Ökonomen, Ökologen, Bautechniker, Ingenieure und Soziologen, die Bevölkerung muss mitreden und mitentscheiden können, was mit ihrer Umwelt passiert.“ Folglich, so fasst Kéré zusammen, „brauchen wir andere Partner. Wir müssen anders denken als früher und das Bauen vom Nutzer her entwerfen.“ Die Idee des Architekten als „Schöpfer, der glaubt, er hätte den großen Wurf, um das Leben der Menschen zu verbessern“, habe ausgedient. Was gibt Kéré den jungen Studenten, die er an der Technischen Universität zu Berlin unterrichtet, mit auf den Weg? „Ich zeige Ihnen nicht, wie man ein wunderschönes Hochhaus baut. Ich vermittle Ihnen, dass das Einfache sinnvoll und wichtig ist.“
Francis Kéré
Der 1965 in Burkina Faso geborene Architekt wurde bereits für sein erstes Projekt, den Bau einer Schule in seinem Heimatdorf Gando, das er noch als Student ausführte, mit diversen internationalen Architekturpreisen wie dem Aga Khan Award ausgezeichnet. Das Schulprojekt wird zurzeit im New Yorker Museum of Modern Art im Rahmen der Ausstellung „Small Scale, Big Change“ gezeigt, die sich innovativer Architektur als Form des sozialen Engagements in Entwicklungsländern widmet. Mit seinem in Berlin ansässigen Büro verfolgt er Projekte in Indien, China, Europa, im Jemen und natürlich in Afrika. Parallel unterrichtet er an der TU Berlin und engagiert sich für den von ihm gegründeten Verein „Schulbausteine für Gando“.
FOTOS: DAVID HEERDE (PORTRAIT) / ERIK-JAN OUWERKERK