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Von Eltern und Erziehern

Warum wir in familiären Beziehungen nur gewinnen, aber nicht siegen können

In einem sind sich wohl alle Eltern einig: Sie wollen das Beste für ihre Kinder. Doch schon an der Frage, was das sei, scheiden sich die Geister. Die einen halten Disziplin und Leistung für unabdingbar, damit Kinder später einmal ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen wissen. Andere kontern, sie benötigten vor allem Freiraum, um ihren eigenen Weg zu finden und glücklich zu werden. Seit „Erfindung der Kindheit“ werden auf diese Weise die Be­lange der Gesellschaft gegen jene des Individuums in Stellung gebracht, Gehorsam gegen Freiheit. Der dänische Familientherapeut Juul Jesper plädiert dafür, dieses Denken in Gegensätzen zu überwinden. Familie ist für ihn der Ort, an dem Beziehungen gelebt werden, Erziehung sei Aufgabe der Schule und anderer Institutionen. Gemeinsames Ziel von Erwachsenen und Kindern sollte es sein, voneinander zu lernen und einander in den jeweiligen Kompetenzen zu fördern.

Von Jesper Juul

EIN BUCH, das seit einigen Monaten in den USA die Gemüter erhitzt, sorgt nun auch in Europa für Gesprächsstoff. In „Die Mutter des Erfolgs“ singt Autorin Amy Chua eine Lobeshymne auf die „chinesische“ Mutter. Sie vergleicht deren Erziehungsstil mit dem der „westlichen Mutter“ und bedient sich dieser Archetypen, um allgemein für eine strengere Kindererziehung zu argumentieren. Die Tochter chinesischer Philippinen und Yale-Professorin stützt ihre Ratschläge auf eigene Erfahrungen als Mutter von zwei Töchtern, denen sie bereits im frühesten Kindesalter Bestleistungen abverlangte. Bei der älteren Tochter hatte die Methode Erfolg, die jüngere Tochter rebellierte.

Amy Chuas Buch ist nicht nur gut geschrieben, sondern kommt genau zum richtigen Zeitpunkt. Wir haben in der Diskussion um Kindererziehung und Schulbildung ein Stadium erreicht, wo es immer mehr Fragen, aber nur wenige Antworten gibt. Der moralische Konsens, der in der Vergangenheit diktierte, wie Kinder im Familienkreis aufzuziehen waren, ist in vielen Ländern nicht mehr gegeben. Gleichzeitig hat sich dank der modernen Forschung unser Wissen um die Entwicklung des Kindes und des kindlichen Gehirns explosionsartig vermehrt. Das Ergebnis dieser anhaltenden Entwicklung ist eine mehr oder weniger ausgeprägte Verunsicherung der Eltern. In vielen Fällen würde ich dies als konstruktiv bewerten – viele Eltern sind wissbegierig, engagiert und bereit, die Erziehungsmethoden ihrer eigenen Mütter und Väter kritisch zu hinterfragen. Andere dagegen streben zwar ebenso danach, ihre Kinder richtig und zu glücklichen Menschen zu erziehen, sind aber ohne Leitbilder hoffnungslos überfordert.

„Die Mutter des Erfolgs“ ist interessant und auch durchaus relevant. Chua vergleicht zwei Länder, deren Wert- und Zielvorstellungen sich decken. Beiden Gesellschaften geht es darum, Kinder durch Erziehung im Elternhaus und in der Schule zu Siegertypen zu machen und sowohl national als auch international Wohlstand, Macht und Einfluss zu gewinnen. Leistung und Erfolg wiegen mehr als alles andere, und diese Tatsache dient als moralische Rechtfertigung für nahezu unbegrenzten Zwang, für Manipulation und massive Strafen.

Es mag viele Leser überraschen, dass ich persönlich Chua als gute Mutter erachte. Sie tut unbeirrt das, was sie für richtig hält, und wendet sehr viel Zeit und Energie für ihre Töchter auf. Ihre Vorstellungen und Strategien führen bei der älteren Tochter auch zum erwünschten Erfolg. Und als die Jüngere sich gegen das mütterliche Erziehungsregime auflehnt, reagiert Chua richtig: Sie überdenkt ihren Erziehungsstil und passt ihn an. Die traditionelle Reaktion wäre gewesen, das Verhalten des zweiten Kindes als falsch, widersetzlich, ungezogen und womöglich sogar als behandlungsbedürftig zu betrachten.

Würde ich deshalb anderen Eltern empfehlen, Chuas Methoden nachzuahmen? Auf keinen Fall! Als Familientherapeut und Pädagoge sind mir viel zu viele „Projektkinder“ mit gravierenden existentiellen Problemen begegnet, unter denen nicht nur die Betroffenen selbst leiden, sondern auch ihre Beziehungen zu Partnern, Kindern und Eltern.

Familienbeziehungen und Schulerziehung

Meine Leser werden bemerkt haben, dass ich zwischen dem Großziehen von Kindern in Familien und ihrer Erziehung in Institutionen unterscheide. Zwischen den beiden Bereichen gibt es wesentliche Unterschiede, und das muss auch so sein. Um dem Kind gerecht werden zu können, müssen Familie und Schule es auf sehr verschiedenen Ebenen beeinflussen, unterstützen und lenken. Und damit sind wir bei einer uralten Frage angelangt: Widersprechen die Interessen von Kindern denen der Gesellschaft? Die Frage darf verneint werden, auch wenn hier in der Vergangenheit oft ein Widerspruch gesehen wurde. Aber natürlich hängt die Antwort davon ab, was für eine Gesellschaft wir uns wünschen und welche Ziele wir als Eltern und Erzieher verfolgen.

Als Vater, Großvater, Bürger und Pädagoge würde ich das Gewicht ebenso auf geistige und körperliche Gesundheit wie auf psychologische und soziale Kompetenz legen. Es steht für mich außer Frage, dass dies nicht nur im Interesse des Einzelnen liegt, sondern dass auch die Gesellschaft gewaltig davon profitiert – und zwar auch rein rechnerisch. Legt man die genannten Maßstäbe zugrunde, kommt das häusliche und schulische Großziehen von Kindern zumindest in den letzten 300 Jahren einer Katastrophe gleich. Wer dieses Urteil anzweifelt, möge sich die offiziellen Zahlen ansehen – zu Alkoholsucht, psychischen Erkrankungen, Straffälligkeit, körperlicher und sexueller Misshandlung, dem Konsum illegaler und legaler Drogen, der Verschreibung von psychosomatischen Medikamenten … Die Liste ließe sich fortsetzen.

Auch bei Vermeidung von seelischer und körperlicher Gewalt (den Phänomenen, die die höchsten sozialen Kosten verursachen) lässt sich nur begrenzt vorhersehen und planen, wie ein Kind sich in seiner Persönlichkeit und seinen Charaktermerkmalen entwickeln wird. Erstgeborene sind in der Regel am kooperativsten und deshalb am ehesten geneigt, sich an jeden beliebigen Erziehungsstil anzupassen. Zweitgeborene, egal ob Junge oder Mädchen, reagieren meistens ganz anders und werden nicht selten als schwierig eingestuft. Nummer drei legt oft eine kreativere und freigeistigere Persönlichkeit an den Tag als die älteren Geschwister. Kurzum: Wenn Sie hoffen, dass einer Ihrer Sprösslinge in Ihre Fußstapfen tritt und Ihnen Ihre Träume erfüllt, dann setzen Sie am besten auf das Erstgeborene!

Die Ergebnisse der ersten PISA-Studie, die erstmalig den schulischen Leistungsstand verschiedener Länder verglich, lösten bei vielen Regierungen panische Reak­tionen aus und verstärkten den Druck auf Schulen, Lehrer, Schüler und Eltern. Gleichzeitig sorgt ein zunehmender Trend für Frust bei den Lehrern und Schulverwaltungen: Kinder und Eltern sind immer weniger bereit, sich mit einem Schulsystem abzufinden, das aus den Zeiten der frühen Industriegesellschaft stammt und auf den damaligen Bedarf an disziplinierten, folgsamen und zur Unterordnung bereiten Arbeitnehmern zugeschnitten ist.

In Alternativen statt Gegensätzen denken

Unsere Schulerziehung steckt in einer schweren Krise. Ein Großteil der Schulen im westlichen Teil der Welt wird ihrem Bildungsauftrag und dem intellektuellen Potential ihrer Schüler immer weniger gerecht. Die Schuld liegt nicht bei den Eltern und Kindern, sondern bei den Schulen selbst und bei unseren kurzsichtigen Politikern. Man scheint in den zuständigen Ministerien tatsächlich zu glauben, mit einer zusätzlichen Rechenstunde pro Woche ließen sich die Mathematikkenntnisse der Nation verbessern und damit die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Landes sichern!

Selbst von erfahrenen Pädagogen und Bildungswissenschaftlern hört man den Ruf nach mehr Zucht und Ordnung, nach strengeren Regeln und härteren Konsequenzen für Schüler und Eltern. Das heißt: Zwar sind immer weniger Eltern bereit, die Methoden anzuwenden, mit denen Chua bei ihrer ältesten Tochter Erfolg gehabt hat, gleichzeitig aber verharrt unser Erziehungssystem in einem Denkschema, das auf Gegensätzen beruht, anstatt nach Alternativen zu suchen. Unsere heutigen Kinder und Jugendlichen kommen mit einem anderen Selbstbild in die Schule als früher, sie sehen sich nicht mehr nur als Schüler, sondern als Personen. Das gilt analog auch für Erwachsene beim Einstieg in den Arbeitsmarkt. Und diese Entwicklung wird sich in der westlichen Welt fortsetzen, zumindest solange keine schwere Rezession über uns hereinbricht und jahrzehntelang anhält.

Auch die Wirtschaft, mit einer ähnlichen Lage konfrontiert, tut sich mit der Überwindung herkömmlicher Einstellungen schwer. Nur zögerlich erkennt man in den Führungsetagen an, dass Mitarbeiter Familien haben, und hört auf, diese als Konkurrenz zu sehen. Eigene Untersuchungen und meine praktische Erfahrung sagen mir, dass Familienväter und -mütter fleißiger und ge­wissenhafter arbeiten als Alleinstehende. Sie beweisen außerdem, dass familiäre Krisen und vor allem Scheidungen häufig die Leistung beeinträchtigen und an Arbeitsplätzen mit hohen Sicherheitsanforderungen das Risiko gefährlich erhöhen können. Aber auch die weitverbreitete Verunsicherung von Müttern und Vätern in Bezug auf ihre Elternrolle kann sich auf die Effizienz und Zielstrebigkeit am Arbeitsplatz auswirken. Die von mir mitbegründete Organisation FamilyLab International führt gerade erste Gespräche mit Unternehmen, die im Sinne einer präventiven Maßnahme erwägen, die Familienbande ihrer Mitarbeiter durch das Angebot von Seminaren, Vorträgen und Beratungsdiensten zu stärken.

Neue Paradigmen, alte Gewissheiten

Niemand wird bezweifeln, dass Disziplin in Form von Selbstdisziplin und freiwilliger Unterordnung wichtig ist – für Schulkinder ebenso wie für Manager, Buchhalter, Kraftfahrer und Sekretärinnen. Lernbereitschaft ist etwas, das Kinder von sich aus mitbringen. Es müssen aber dringend neue Wege gefunden werden, um den Spaß am Lernen zu fördern und über das dritte Schuljahr hinaus zu erhalten. Die Gehirnforscher und Sozialpsychologen weisen uns dabei den Weg. Was Autorin Chua in der Beziehung zu ihrer älteren Tochter außer Acht gelassen hat, war die Bedeutung der freien Entscheidung. Kinder wie Erwachsene sind kompetente Individuen. Begegnet man ihnen mit Achtung und Respekt, so können sie von sich aus die erforderliche Disziplin und Unterordnung entfalten, sei es als Soldaten oder Arbeitnehmer, sei es als Schüler, Söhne oder Töchter. Die traditionelle Alternative dagegen heißt Drohung mit Strafe oder Liebesentzug.

Die sechziger und siebziger Jahre brachten zum ersten Mal eine Auflehnung gegen die Führung durch Zwang und Druck, getragen von einer ausgeprägten Oppositionshaltung. In der Retrospektive betrachtet, war diese Antibewegung zwar in mancherlei Hinsicht produktiv, aber aufgrund ihres rein oppositionellen Ansatzes in ihrer Reichweite eingeschränkt. Opposition ist angeboren: Unser Gehirn ist darauf ausgerichtet, in Gegensätzen zu denken, sofern man es nicht anders gelernt hat. Unsere Gesellschaft hat begonnen, eine neue Weltanschauung zu verinnerlichen, die von den Erkenntnissen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen untermauert wird. Bis dieser Prozess vollzogen ist, müssen wir im Umgang mit unseren Kindern, Mitarbeitern und uns selbst den Rückgriff auf unzeitgemäße Grundsätze vermeiden. Dazu ist kreatives Denken angesagt. Nichts braucht unsere Gesellschaft auf allen Ebenen dringender als die Fähigkeit und Bereitschaft zum Querdenken.

Jesper Juul

Jesper Juul, geboren 1948 in Dänemark, arbei­tete nach seinem Realschulabschluss als Schiffskoch und Barkeeper und studierte dann Geschichte, Religion und Ideengeschichte. Anschließend war er als Lehrer und Sozial­pädagoge tätig, bevor er sich zum Familientherapeuten ausbilden ließ. Er ist Mitbegründer des Kempler Institute of Scandinavia und gründete das Programm FamilyLab International, das auch in Deutschland angeboten wird (www.familylab.de). „Aus Erziehung wird Beziehung“ lautet nicht nur eines seiner zahlreichen Bücher, es ist auch das Motto bei der Unterstützung von Eltern.

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