Wer wacht über die Wächter? Mit Blick auf den politischen Raum wird diese Frage bereits seit über zwei Jahrtausenden diskutiert. Schon Platon entwickelte die Idee einer Wächterkaste, die in Ergänzung zu den herrschenden Philosophen als Verteidiger des Staates wirken sollte. Ihre umfangreiche „Seelenbildung“ sollte Machtmissbrauch verhindern.
Und wie ist es in der Unternehmenswelt? Hier ist das Wächtersystem bei Weitem nicht so ausgeprägt wie im politischen Raum. Den obersten Wächtern – den Aufsichts- oder Beiratsvorsitzenden – ist normalerweise kein ausgleichendes Korrektiv zur Seite gestellt. Hinzu kommt, dass bei uns außergewöhnlich viele Unternehmen im Familienbesitz sind. Nicht selten korrigieren oder beeinflussen Eigentümerinnen und Eigentümer die Entscheidungen ihrer Aufsichtsräte. Die Wächterfunktion ist hier beschränkt – mit allen Vor- und Nachteilen, die in der Praxis damit einhergehen. Tatsächlich findet man die weisesten – ebenso wie die problematischsten – Eingriffe an den Wächtergremien vorbei häufig in Familienunternehmen, wo viele Eigentümer oder Eigentümerinnen eine außergewöhnlich starke Stellung einnehmen.
Macht, Unternehmenswohl und persönliche Integrität
Bei Unternehmen in Streubesitz verschiebt sich dieses Kräftefeld. Sie machen zwar nur die Minderheit der Unternehmen hierzulande aus, aber viele dieser Firmen gehören zu den größten in Deutschland. Durch die Abwesenheit starker Persönlichkeiten auf Aktionärsseite genießen die Aufsichtsratsvorsitzenden dort eine außergewöhnlich starke Stellung. Zwar hat der Vorstand einen großen inhaltlichen Vorsprung gegenüber den selten tagenden Aufsichtsräten. Dennoch ist der Einfluss der Aufsichtsratsvorsitzenden in der Regel erheblich. De facto haben die Vorsitzenden im Aufsichtsrat die Hoheit über Agenda, Moderation und sogar die eigene Nachfolge und dies führt zu einer ausgeprägten Position der Stärke. Vereinfacht folgt die klassische Machtverteilung im Aufsichtsrat dem Verhältnis 60:20:20 – wobei auf die Aufsichtsratsvorsitzenden die Vorsitzenden des Prüfungsausschusses und dann der Rest des Gremiums folgen.
Die Stärke der Aufsichtsratsvorsitzenden muss für Unternehmen keinen Schaden nach sich ziehen. Die Arbeit des Aufsichtsgremiums ist nur einer von vielen Erfolgsfaktoren. Hinzu kommt, dass viele Aufsichtsratsvorsitzende über die Seelenbildung verfügen, die Platon fordert. Sie bringen in den meisten Fällen reiche professionelle Erfahrung sowie persönliche Stabilität und Integrität mit – und gehen auf dieser Grundlage verantwortungsbewusst mit ihrer Machtposition um. Die Kehrseite ist: Charaktereigenschaften einzelner mächtiger Aufseher entscheiden so in hohem Maß über Wohl und Wehe ganzer Unternehmen mit. Das geht nicht in jedem Fall gut und wirft die Frage auf, ob der Status quo dem bestehenden Kontrollbedarf Genüge tut.
Der Wandel der Deutschland AG
Zwei kulturelle Faktoren wirken dem Machtgefälle unserer Aufsichtsräte derzeit noch entgegen: Das klassische deutsche Führungsverhalten schließt in der Regel einen inhaltlichen Diskurs ein. Es ist überwiegend akzeptiert, den Vorsitzenden zu widersprechen. Das ist in manchen Führungskulturen auch der westlichen Welt anders. Nicht ohne Grund fehlt hierzulande der für uns undenkbare Titel des PDG – Président-directeur général, wie er bei unserem Nachbarn Frankreich gepflegt wird –, ein Erbe der absolutistischen Zeit, die es in dieser starken Ausprägung in Deutschland nie gegeben hat.
Der zweite Grund ist die enge Verwobenheit deutscher Managerinnen und Manager, die sogenannte Deutschland AG. Diese ist dort ein Problem, wo die Verwobenheit zum Filz wird. Aber gerade in Abwesenheit klarer Regeln kann sie auch hilfreich sein, wenn Führungsfiguren sich im Sinne der Sache auf freundschaftliche Weise Feedback geben. Die Deutschland AG löst sich allerdings zunehmend auf, getrieben durch die Globalisierung der Märkte und die Entwicklung des Managements. Zeitgleich verändert sich die Zusammensetzung deutscher Aufsichtsräte. Bereits heute internationalisieren sie sich Schritt für Schritt, unter anderem als Nebeneffekt der Erhöhung des Anteils weiblicher Aufsichtsräte.
Großbritannien als Vorbild?
Umso wichtiger ist es, die Wirkungskraft der deutschen Aufsichtsräte zu sichern und auszubauen. Einen klugen Ansatz für eine institutionelle Regelung bietet Großbritannien. Zwar ist das dortige Governance-System der Unitary Boards ein anderes als in Deutschland, gleichwohl stellt sich auch dort die Frage nach dem Wächterprinzip. In England wurde bereits im Jahr 2003 der sogenannte Senior Independent Director eingeführt, also eine unabhängige Persönlichkeit im Board, die als „weiser Counterpart“ des Chairs agiert. Ihre Aufgaben sind unter anderem die Bündelung von Feedback des Boards, die Moderation von Konflikten zwischen Chair und CEO sowie die Führung von Themen, die den Chair selbst betreffen – insbesondere also auch dessen Nachfolge.
In der ursprünglichen Debatte über dieses Modell wurde viel darüber diskutiert, ob der Senior Independent Director im Falle von Konflikten zwischen Chairperson und Anteilseignern sinnvoll moderieren könne. Zu Recht stand die Frage im Raum, ob der Chair durch diesen zweiten Kommunikationskanal zu sehr geschwächt werden würde. In der Praxis und nach inzwischen zwanzigjähriger Erfahrung mit dem Modell zeigt sich jedoch, dass alternative Kommunikationskanäle selten vorkommen. Die meisten Senior Independent Directors der britischen börsennotierten Unternehmen werden als eine Kombination von Blitzableiter, Rauchmelder und Feuerlöscher geschätzt. Abgesehen von ihrer formalen Rolle – nämlich diejenigen Themen zu moderieren, die den Chair selbst betreffen –, wird ihr großer Nutzen gerade in der informellen Bündelung und Glättung von Kommunikation und Feedback innerhalb des Boards gesehen. Gelegentlich erweist sich der Senior Independent Director auch als hilfreicher Sparringspartner der Chairperson, wenn diese sich mit dem CEO „verhakt“. Und es hat sich als informelles Verständnis etabliert, dass ein „SID“ für die Nachfolge des Chairs nicht in Frage kommen sollte.
Mit dem Senior Independent Director geht es also weniger darum, ein zweites Machtzentrum im Aufsichtsrat zu schaffen. Vielmehr ist das Ziel, dort eine moderierende und stabilisierende Komponente zu verankern. Informell gibt es diese Rolle in Deutschland heute schon häufig, aber im Rahmen der praktischen Weiterentwicklung deutscher Aufsichtsräte könnte in den kommenden Jahren eine Institutionalisierung hilfreich sein. Bei allen Unterschieden der Board-Strukturen zwischen Deutschland und Großbritannien lohnt sich also der Blick über den Kanal, gerade für deutsche Unternehmen in Streubesitz.