Beziehungsorientierung, Selbstreflexion und Anpassungsfähigkeit. Diese drei Kernkompetenzen zeichnen den/die CEO der Zukunft aus, so Egon Zehnder. Auch eine weltweite Umfrage unter knapp 1000 CEOs bestätigt diese Aussage. Was ist damit gemeint? Und wie können CEOs und Führungskräfte diese Zukunftskompetenzen entwickeln? Diesen Fragen geht Dr. Steffen Elbert, Autor des Buches „Innere Fesseln lösen – befreit führen“ und Egon Zehnder Alumnus, auf den Grund.
Zunächst stellen die Egon Zehnder Studien die Beziehungsfähigkeit der obersten Führungspersönlichkeit als einen von drei wesentlichen Erfolgsfaktoren für die Zukunftsorientierung von Organisationen heraus. Nur auf der Basis einer neuen, tieferen und ganzheitlicheren Beziehungsgestaltung scheinen nachhaltige, vernetzte, flexible und vor allem sinnstiftende Organisationskulturen entstehen und wachsen zu können, insbesondere in einer Welt mit den heutigen komplexen Herausforderungen.
Der und die zukunftsfähige CEO sollten daher die gesamte Klaviatur menschlicher Beziehungsgestaltung spielen können – weit jenseits reiner sach- und faktenorientierter Dialoge, Top-down-„Ansagen“ oder manipulativer Machtspiele. Es geht um eine tiefere Form der Beziehung, in der das Gegenüber nicht auf seine Rolle, Aufgabe oder Fachkompetenz reduziert wird. Beziehung in diesem Sinne meint die Wahrnehmung und den Umgang mit dem ganzen Menschen, mit seiner Biografie und seinen Prägungen, seinen Lebensumständen und Herausforderungen, seinen Nöten, Sorgen und Bedürfnissen. Es geht um das Ernstnehmen als Mensch über seine Funktion und hierarchische Stellung hinaus, um echte Begegnungen von Mensch zu Mensch auf Augenhöhe (und ohne, dass man Freund werden muss). Ganzheitliche, tiefe Beziehungen zeichnen sich vor allem aus durch echten, wertschätzenden Respekt und Empathie für das menschliche Wesen im Gegenüber, eine grundlegende Neugier mit Aufmerksamkeit und zugewandter Präsenz, mit der eine Atmosphäre emotionaler Ausgeglichenheit auch bei kontroversen Standpunkten sowie ein hohes Maß an Offenheit und Authentizität einhergeht. Es geht darum, sich – gerade als CEO – auch als Mensch zu zeigen und sich nicht hinter einer organisatorischen Autorität zu verstecken. Das scheint nicht immer leicht zu sein. Nicht selten werden Mitarbeitende auf eine Anweisungen ausführende „Maschine“ reduziert. Oder es mangelt aus Sicht des oder der CEO an Motivation und Verständnis. Die Uneinsichtigkeit des Gegenübers kann im schlimmsten Fall zu emotionalen Überreaktionen mit Wutausbrüchen, verbalen Abwertungen und Beleidigungen, persönlichen Angriffen oder sprachlichen Entgleisungen führen. Nicht selten wird das Gegenüber dann hinterrücks ignoriert, diffamiert oder herabgewürdigt. (Notwendige) Konflikte werden vermieden, heruntergespielt oder ausgesessen. Misstrauen, Mikromanagement und Kontrollsucht machen sich breit. Unter solchen Bedingungen bleibt die Beziehung auf einer oberflächlichen, fachlich-sachlichen Beziehungsebene, ggf. hinterlassen die Begegnungen sogar Wut, Rachegelüste, Demotivation, Resignation und vieles mehr.
Was wirkt hier? Was hindert Führungskräfte daran, auf ihr Gegenüber zuzugehen und eine ganzheitlichere Beziehung aufzubauen? Und was treibt diese unangemessene Emotionalität an?
Die Antwort liegt meist tief in uns selbst. Nicht selten erliegen Führungskräfte mächtigen inneren Programmen, die sich als Überzeugungen, Erfahrungen, „Wissen“ oder Glaubenssätze tarnen. Beispiele hierfür sind
- ein sehr hoher, für viele Mitarbeitende unerreichbarer innerer Qualitätsanspruch mit geringer Fehlertoleranz
- ein inneres Getriebensein im Sinne von „Es reicht nie“, oft gepaart mit einer inneren Gnadenlosigkeit sich selbst gegenüber
- ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber anderen und deren Fähigkeiten bzw. Motivation und das Gefühl, es alleine schaffen zu müssen
- eine übermäßige Abhängigkeit von der eigenen Außenwirkung und der Meinung anderer
- die Überzeugung, es allen recht machen zu müssen
- das Gefühl, ständig und immer bedroht und im Kampfmodus sein zu müssen
- die Überzeugung, immer Recht haben und sich unter allen Umständen durchsetzen zu müssen
- ein übertriebenes Pflichtbewusstsein, das notfalls „über Leichen“ geht
- mangelnde Begeisterung für das Erreichte mit ständigem Blick auf das, was noch zu tun ist
- das Auftreten von situativ unangemessenen Ängsten, z. B. bezüglich der eigenen finanziellen Überlebensfähigkeit
- und vieles mehr.
Viele dieser mächtigen inneren Programme waren zu Beginn der Laufbahn sogar karriereförderlich. Heute schränken sie jedoch oft die Führungsexzellenz ein und erweisen sich als Innere Fesseln, die stärker wirken als Verstand und Wille. Sie sind unabhängig und autonom, widersetzen sich hartnäckig jeder Veränderung und erzeugen ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Eine bewusste Steuerung und situative Dosierung sind nicht möglich. So dominieren (und begrenzen) die Inneren Fesseln auch die Beziehungsgestaltung. Die in ihnen verborgenen Kompetenzen wie Leistungsorientierung, Willensstärke, Durchsetzungsvermögen, Ausdauer, Analysekompetenz etc. werden dann zu dominanten „Ich muss“-Programmen, die alle anderen Aspekte des Miteinanders in den Hintergrund drängen und damit die Führungswirksamkeit mindern.
Wie kann nun Veränderung gelingen? Wie können die in den Inneren Fesseln gebundenen Kompetenzen wieder steuerbar und damit situativ ausbalanciert eingesetzt werden? Und wie kann dadurch der Weg zu einer tieferen und ganzheitlicheren Beziehungsgestaltung geebnet werden?
Antworten auf diese Fragen scheinen aus einer zunächst ungewohnten Richtung zu kommen: der modernen Traumaforschung. Dieser Perspektivenwechsel mag zunächst irritieren und Skepsis, Ablehnung oder zumindest Stirnrunzeln hervorrufen. Denn Trauma steht im Allgemeinverständnis für schwere Krankheiten und hat scheinbar wenig mit Führung zu tun. Das ist keineswegs der Fall. Zwar ist die Psychotraumatologie zunächst aus der Erforschung schwerer und schwerster Krankheitsbilder entstanden. Heute geht sie aber weit über den medizinisch-therapeutischen Bereich hinaus und liefert Modelle, die auch für viele CEOs – und alle, die führen – eine hilfreiche Perspektive eröffnen.
Was also bedeutet Trauma und was hat es mit Leadership-Exzellenz zu tun? Trauma ist eine natürliche und sinnvolle Notfallreaktion der Psyche auf Situationen, in denen Menschen einer überwältigenden, potenziell lebensgefährdenden Bedrohung hilflos ausgeliefert sind. Besonders folgenreich sind solche Erfahrungen, wenn sie in den ersten Lebensjahren gemacht werden. In einer Zeit also, in der Menschenkinder so abhängig, beeinflussbar und prägbar – und so hilflos und ausgeliefert – sind wie danach nie wieder. Und in einer Zeit, in der eine relativierende Einordnung des Erlebten noch schwer möglich ist. Vieles, was aus der Sicht des Erwachsenen weniger dramatisch ist, kann in dieser Zeit schnell als gefährlich, ja lebensbedrohlich erlebt werden.
Als Folge einer traumatischen Erfahrung entstehen mächtige Überlebensstrategien, die bis heute wirken und die Form von Inneren Fesseln annehmen. In diesen existenziellen „Wurzeln“ liegt die Hartnäckigkeit und Veränderungsresistenz der Inneren Fesseln begründet. Sie sind eben mehr als bloße Gewohnheiten, die man (theoretisch) leicht ablegen kann.
Welche frühen existenziellen Erfahrungen können hier gemeint sein? Hier hilft es zunächst, sich noch einmal die Hilflosigkeit und Abhängigkeit von Kindern und ihre existenziellen Bedürfnisse nach Sicherheit, Zugehörigkeit und Liebe vor Augen zu führen. Die Verletzung dieser Grundbedürfnisse ist in den ersten Lebensjahren leicht möglich und kann dann – im Empfinden des Kindes – zu einer existenziellen Bedrohung werden, der es sich hilflos ausgeliefert fühlt. So können Vernachlässigung und emotionale Kälte, psychische Überforderung und Leistungsstress, im Extremfall auch Erfahrungen von körperlicher und psychischer Gewalt und von Übergriffen, traumatisierend wirken. Das Gleiche gilt für das – meist nur indirekt vermittelte – Gefühl, auf dieser Welt nicht willkommen, nicht „gewollt“ gewesen zu sein, beispielsweise weil die Schwangerschaft nicht in den damaligen Lebensentwurf der Eltern gepasst oder diese überfordert hat. Viele Menschen – auch sehr erfolgreiche CEOs – haben solche potenziell traumatisierenden Kontexte erleben müssen. Denn hier wirken die Kollateralschäden der Erziehung des letzten Jahrhunderts. Die bis in 1990er-Jahre legale Prügelstrafe, beispielsweise Schläge auf den Po oder Ohrfeigen, häufige berufs- oder krankheitsbedingte Abwesenheit von Bezugspersonen und Vernachlässigung, emotionale Verschlossenheit und Lieblosigkeit der selbst traumatisierten Kriegs- und Nachkriegseltern, frühe überambitionierte „Förderung“ der Kinder, familiäre Alkohol- und andere Süchte und vieles mehr waren oft der übliche prägende Kontext des Aufwachsens. Vor allem aber wirkt ein aus dem Nationalsozialismus stammendes und teilweise bis in die Neuzeit praktiziertes Erziehungsideal nach, das auf emotionaler Distanzierung, „Abhärtung“ und Brechen des kindlichen Willens beruhte.
Wie lassen sich die Zusammenhänge zwischen Traumatisierung und Inneren Fesseln veranschaulichen? Hier einige Beispiele: Innere Fesseln vom Typ „Es reicht nie“ und Getriebensein können z. B. aus der existenziellen Angst des Kindes bei Krankheit oder Scheidung der Eltern und den entsprechend verzweifelten, aber erfolglosen Versuchen, die Eltern oder die Ehe zu „retten“, entstehen. Die gleiche Innere Fessel kann das Produkt eines überfordernden, an Liebe gekoppelten Leistungsdrucks der Eltern sein, der letztendlich nicht erfüllbar ist. Umgekehrt können Kinder, bei denen die Liebe der Eltern davon abhängig gemacht wurde, dass sie höchsten Ansprüchen genügen (in der Schule, im Verhalten und Auftreten, in den Umgangsformen usw.), einen überhöhten Qualitätsanspruch als Innere Fessel entwickeln. Frühe Übergriffe und Grenzverletzungen können die Ursache für überbordende Emotionalität und „Ausrasten“ oder Konfliktvermeidung sein. Die Erfahrung von Vernachlässigung kann zu einem „Ich muss alles alleine machen“ oder zu einem grundsätzlichen Misstrauen gegenüber anderen führen. Oft ist der emotionale Stress für Kinder in solchen Situationen nur auszuhalten, wenn alle eigenen Gefühle abgeschaltet werden, dann entstehen Innere Fesseln vom Typ Empathiemangel oder Übersachlichkeit. Das kindliche Erleben des Nichtgewolltseins und der damit einhergehenden grundlegenden Wertlosigkeit kann zu der Inneren Fessel von unbedingter Dominanz, einem Drang, sich immer durchsetzen zu müßen, oder einem dauerhaften Angriffsmodus gegen alle und jeden führen.
Was also tun? Die gute Nachricht ist: Eine „Ent-Fesselung“, sozusagen eine Entmachtung der Überlebensstrategien, ist möglich. Dazu bedarf es allerdings einer tieferen Aufarbeitung der Erfahrungen, die den Inneren Fesseln zugrunde liegen. Ein solcher Prozess braucht – neben Mut und dem festen Willen zur Veränderung – vor allem Zeit und kompetente Begleitung. In jedem Fall eine lohnende Investition, nicht nur für die Führungswirksamkeit in einer immer anspruchsvolleren Welt, sondern auch für ein „gutes Leben“ mit und neben der Arbeit.
Mehr zum Thema finden Sie in der neusten Publikation des Autors: „Innere Fesseln lösen – befreit führen. Führungspotenziale entwickeln“ (Schäffer-Poeschel 2022)