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Selbstreflexion

Beziehungsorientierung, Selbstreflexion und Anpassungsfähigkeit kristallisieren sich als die drei wesentliche Zukunftskompetenzen für den/die CEO von morgen heraus, so Egon Zehnder. Dies wird auch durch eine weltweite Umfrage unter knapp 1000 CEOs bestätigt. Was ist damit gemeint? Und wie können CEOs und Führungskräfte diese Zukunftskompetenzen entwickeln? Im zweiten Teil seines Artikels widmet sich Dr. Steffen Elbert, Autor des Buches „Innere Fesseln lösen – befreit führen“ und Egon Zehnder Alumnus, dem Thema Selbstreflexion.

Es mag zunächst erstaunen, dass in einer weltweiten Egon Zehnder Studie unter rund 1.000 CEOs das Thema Selbstreflexion und Selbsterkenntnis von mehr als drei Viertel (78 %) der Teilnehmenden als erfolgskritisch für die Zukunft angesehen wird. Die Reflexion der eigenen Person und des eigenen Führungsverhaltens soll der kontinuierlichen Überprüfung und Steigerung der Führungswirksamkeit dienen, so sagt Egon Zehnder.
Tatsächlich spielt Selbstreflexion eine entscheidende Rolle, wenn es darum geht, Schwachstellen und Verbesserungsmöglichkeiten im eigenen Führungsverhalten zu identifizieren. Ohne Selbstreflexion besteht z. B. die Gefahr der ständigen, ja verzweifelten Wiederholung nicht hilfreicher Verhaltensmuster, ggf. mit immer größerem persönlichen Einsatz und verletzenden Grenzüberschreitungen. Demotivation und Resignation beim Gegenüber, aber auch Konflikteskalation und -verhärtung oder Täter-Opfer-Spiralen können die Folge sein. Selbstreflexion verhindert aber auch die innere sklavische Abhängigkeit von eigenen Glaubenssätzen oder die Enge scheinbarer oder überholter Wahrheiten und Erfahrungen. Lernen, d. h. die kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Führungskompetenz, scheint nur durch Selbstreflexion wirklich möglich zu sein.

Doch was genau bedeutet Selbstreflexion? Wikipedia versteht hierunter, „über sich selbst nachzudenken“ – aber was genau ist damit gemeint? Und wie funktioniert es?

Für die Beantwortung dieser Frage ist es sinnvoll, Selbstreflexion als das Zusammenspiel von zwei Elementen zu verstehen: dem Beobachten und dem Bewerten bzw. Interpretieren.

Eine wesentliche Grundvoraussetzung für Selbstreflexion scheint zunächst die Etablierung eines inneren Beobachters zu sein. Damit ist eine innere Instanz gemeint, die – quasi aus der Vogelperspektive – auf das innere Geschehen blickt. In einer bilateralen Führungssituation ergänzt der innere Beobachter damit die in der Regel gut ausgeprägte äußere Wahrnehmung, die auf das Gegenüber, sein Verhalten und seine Kommunikation sowie die stattfindenden Interaktionsmuster fokussiert ist. Der innere Beobachter ist im Idealfall eine neutrale Instanz, die möglichst „objektiv“ wahrnimmt, aufzeichnet, dokumentiert, was in uns vorgeht. Diese innere Beobachtung umfasst nicht nur die eigenen Handlungen und die eigene Kommunikation, sondern auch die inneren emotionalen und kognitiven Prozesse einschließlich der Bewertungs- und Entscheidungsprozesse: „Was tue ich?“, „Was sage ich?“, „Wie verhalte ich mich mit welcher Mimik und Gestik?“, „Wie interpretiere ich die Reaktionen meines Gegenübers?“, „Wie fühle ich mich und was empfinde ich – Wut, Verärgerung, Ungeduld, Langeweile, Überlegenheit, Abscheu, Unverständnis, Ambivalenz?“, „Welche Überzeugungen, Glaubenssätze, Erfahrungen wirken hinter meinen Entscheidungen?“ etc.

Das zweite Element der Selbstreflexion ist die Bewertung des Beobachteten. Hauptkriterium sollte hier natürlich die Zweckdienlichkeit im Hinblick auf die Führungsaufgabe sein. Aber auch die Vereinbarkeit mit den Unternehmenswerten und der Unternehmenskultur, mit den eigenen Werten und Lebenszielen, können Kriterien sein. Erkenntnisse aus Best-Practice-Vergleichen oder aus Management- und Kommunikationstheorien können diese Einschätzung ebenso beeinflussen wie das Feedback und die Rückmeldung anderer über die Wirkung des eigenen Verhaltens und Auftretens. „Wie wirkt das, was ich tue und sage, auf andere?“, „Was trage ich dazu bei, dass Gespräche so verlaufen?“, „Ist mein Verhalten wirksam oder wie kann ich andere wirksamer führen?“ und „Was hindert mich innerlich daran?“ sind wichtige Schlüsselfragen.

Eine so verstandene Selbstreflexionskompetenz scheint in der Tat für die Zukunftsfähigkeit von CEOs unabdingbar zu sein, so stellt auch Egon Zehnder fest.

Was aber hindert CEOs daran, sich auf einer solchen, tieferen und grundlegenderen Ebene selbst zu reflektieren? Was verhindert den Blick nach innen, den Blick auf die eigenen Anteile und inneren Dynamiken in der Führungssituation?

Auch hier wirken häufig Innere Fesseln, die bereits in dem ersten Beitrag dieser Reihe vorgestellt wurden. Doch wie sehen diese mächtigen Programme aus, die eine Selbstreflexion erschweren oder gar unmöglich machen können?

Zunächst kann es sich um die Innere Fessel der Fehlerintoleranz handeln, bei der der CEO keine eigenen Fehler zugeben kann – oder glaubt, dies nicht tun zu dürfen. Wenn man sich auf diese Weise für fehlerfrei hält, kann das Problem nur beim Gegenüber liegen. Dieser ist dann zu faul, zu dumm, zu sensibel oder empfindlich, zu wenig „business-minded“, zu veränderungsresistent usw., um die Aufgaben zu erledigen. Bei einem Selbstbild, das von einer solchen eigenen Unfehlbarkeit und Großartigkeit geprägt ist, wäre jede Selbstreflexion ein zu großes Risiko, dieses Selbstbild ad absurdum zu führen. Zweifel an der eigenen Größe und Unfehlbarkeit müssen dann unbedingt vermieden werden. Als Kollateraleffekt dieser Inneren Fessel entsteht regelmäßig ein „Oben-Unten“-Gefälle, eine Überhöhung des eigenen Selbst durch Abwertung des Anderen. Eine Beziehungsgestaltung auf Augenhöhe, von Mensch zu Mensch jenseits der Hierarchie, wird dann unmöglich.

Wie alle Inneren Fesseln hat auch diese ihre Wurzeln in frühen traumatischen Erfahrungen. Trauma steht doch, so mögen viele denken, für schwere Krankheiten und hat scheinbar wenig mit Führung zu tun. Dem ist keineswegs so. Zwar ist die Psychotraumatologie zunächst aus der Erforschung schwerer und schwerster Krankheitsbilder entstanden. Heute geht sie aber weit über den medizinisch-therapeutischen Bereich hinaus und liefert Modelle, die auch für viele CEOs – und alle, die führen – eine hilfreiche Perspektive eröffnen. Erneut ist es hilfreich, sich die existenzielle Abhängigkeit des Kindes von einer sich sicher anfühlenden Umgebung, einer feinfühligen Zuwendung und Liebe der Bezugspersonen sowie von einem Gefühl der unbedingten Zugehörigkeit vor Augen zu führen. Fehlen diese, gerät das Kind in existenzielle Nöte und kann in Kontakt mit einem Gefühl von Lebensbedrohung und Ausgeliefertsein kommen – die Voraussetzung für eine Traumatisierung. Parallel bilden sich Überlebensstrategien, die das „Weiterleben" in diesen Kontexten erlauben. So können z. B. ausgeprägte Vernachlässigung oder Lieblosigkeit und emotionale Kälte in der Kindheit dazu führen, dass sich eine – ggf. sogar narzisstische – Selbstüberhöhung als Überlebensstrategie herausbildet: „Wenn mich schon kein anderer wertschätzt (liebt), dann muss ich unbedingt alle Liebe für mich aus mir selbst generieren“. Das Erkennen eigener Fehler wird dann zur existenziellen Bedrohung, das Kartenhaus der Selbsttäuschung (als Überlebensstrategie) kann zusammenbrechen. Eine andere mögliche Wurzel der gleichen Inneren Fessel könnte das Aufwachsen in einem Umfeld sein, in dem die Liebe der Eltern an die perfektionistische Erfüllung anspruchsvoller Leistungs- oder Verhaltensanforderungen geknüpft war.

Neben der Fehlerintoleranz können noch andere Innere Fesseln eine Selbstreflexion verhindern. Selbstreflexion bedeutet – neben der kritischen Beobachtung des eigenen Denkens und Handelns – insbesondere auch die Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen und Empfindungen. Wenn dies aufgrund Innerer Fesseln nicht möglich ist, wird Selbstreflexion unmöglich. Frühe traumatische Erfahrungen führen aber in der Regel dazu, dass genau dieser Kontakt zu den eigenen Gefühlen unterbunden werden musste. Nicht fühlen zu dürfen/können ist eine mächtige – und häufige – Innere Fessel. Nur mit dieser Überlebensstrategie konnten die damaligen Situationen bewältigt werden: Die emotionale Seite der Psyche wurde abgespalten. Die Folge ist eine ausschließliche oder überwiegende Konzentration auf die Sachebene und oft ein grundsätzlicher Mangel an Empathie – für andere und auch für sich selbst.

Es gibt eine Vielzahl weiterer Innerer Fesseln, die hier wirken können. So kann z. B. auch ein Mangel an Präsenz die Selbstreflexion erschweren. Man ist dann gedanklich immer planend mit der Zukunft oder analysierend mit der Vergangenheit beschäftigt und nimmt das Hier und Jetzt, in dem Führung stattfindet, wenig wahr. Auch ein Mangel an Präsenz kann eine Überlebensstrategie früher Traumatisierungen darstellen, mit der eine damals überwältigende Gegenwart von Lieblosigkeit, Gewalt, nicht willkommen sein usw. ausgeblendet werden konnte.

Innere Fesseln wie „Es reicht nie“ oder „Es ist nie genug“ können als Kollateraleffekt ebenfalls Selbstreflexion behindern, weil dafür dann scheinbar keine Zeit bleibt oder es ausschließlich darum geht, schnell Ergebnisse zu erzielen, koste es, was es wolle. „Ich muss mich immer, unter allen Umständen durchsetzen“ ist eine weitere Innere Fessel, die eine kritische Selbstreflexion zu verhindern sucht, da Selbstreflexion potenziell die Gefahr birgt, die Durchsetzungsfähigkeit zu schwächen. Allen diesen Inneren Fesseln liegen entsprechende traumatische Erfahrungen zugrunde, beispielsweise das kindliche Erleben der eigenen Wertlosigkeit oder einem Nichtgewolltsein, dass nur durch ein entsprechendes Auftreten etwas gelindert werden konnte.

Selbstreflexion stellt im Trio der zukünftigen Kernkompetenzen für CEOs so etwas wie die Basiskompetenz dar. Sie dient gewissermaßen als „Enabler“ der beiden anderen. Nur auf der Basis einer soliden Selbstreflexion und dem Erkennen der eigenen Anteile und der dahinter wirkenden inneren Überzeugungen ist es möglich, ganzheitliche, tiefe Beziehungen aufzubauen und eine adäquate Anpassungsfähigkeit und Flexibilität zu erreichen.

In der vorliegenden Artikeltrilogie werden die drei zukünftigen Kernkompetenzen für CEOs – Beziehungsorientierung, Anpassungsfähigkeit und Selbstreflexion – in ihren Ausprägungsformen skizziert. Gleichzeitig werden mächtige innere Programme, Innere Fesseln, beschrieben, die CEOs daran hindern können, sich diese neuen Kernkompetenzen in einer vertieften Handlungsform anzueignen. Die Wurzeln dieser Inneren Fesseln liegen in frühen traumatischen Erfahrungen, die bis heute nachwirken und eine Veränderung dieser einschränkenden Verhaltens- und Denkmuster nicht trivial erscheinen lassen. Und doch ist eine „Ent-Fesselung möglich: durch die Bearbeitung eben dieser frühen Erfahrungen. Der Weg ist nicht immer einfach, aber er lohnt sich mit dem Ziel, eine Persönlichkeit zu entwickeln, die die Rolle eines zukunftsfähigen CEO ausfüllen kann.
 

Mehr zum Thema finden Sie in der neusten Publikation des Autors: Innere Fesseln lösen – befreit führen. Führungspotenziale entwickeln (Schäffer-Poeschel 2022)

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