Aus welchem Holz sind eigentlich echte Führungspersönlichkeiten geschnitzt? Kann jede und jeder erfolgreich führen, die oder der in den Techniken und dem Handwerk guter Führung trainiert wird? Beide Fragen für sich genommen führen in die Irre. Es gilt, eine neue Art der Führungskräfteentwicklung zu etablieren – die Persönlichkeitsentwicklung ebenso ernst nimmt wie das Erlernen von Führungstechniken.
Seit Menschen führen oder geführt werden, gibt es das Bedürfnis zu beschreiben, was gute Führung ist – und was man von guten Führungspersönlichkeiten erwarten kann.
Lange Zeit wurde die Fähigkeit zu führen hauptsächlich als Charaktereigenschaft angesehen. Entweder war man aus dem Holz geschnitzt, das eine gute Führungspersönlichkeit ausmachte, oder man war es eben nicht. Die Idee, dass eine Führungspersönlichkeit auch entwickelt werden kann, traf man nur sehr selten an. In der Managementliteratur drehte sich vielmehr alles um eine Beschreibung von Fähigkeiten und Techniken, die angewandt werden sollten. Die Grundlage, nämlich der zur Führung geeignete Charakter und die Persönlichkeit, wurde als gegeben vorausgesetzt.
Am deutlichsten wird diese Perspektive auf das Thema Führung vielleicht in einem Werk des bekannten italienischen Polit-Philosophen Niccolò Machiavelli: „Il Principe“ beschreibt in einer Art Leitfaden den Aufstieg zum Fürsten, also zur Top-Führungspersönlichkeit seiner Zeit. Ein erfolgreicher Fürst – und für uns verallgemeinert: eine erfolgreiche Führungspersönlichkeit – ist nach Machiavelli, wer sich ganz auf das Ergebnis konzentriert, in seinem Fall die eigene Machtgewinnung. Dabei spielen moralische Grundsätze auf dem Weg dorthin keine wirkliche Rolle. Entscheidend ist allein der Wille, das eigene Machtstreben in den Kern des Handelns zu stellen und persönliche Ziele mit allen Mitteln zu verfolgen. Interessanterweise wird heute gerade die Art der Führung und die Art von Führungspersönlichkeit, die Machiavelli als beispielhaft aufzeigte, als besonders problematisch angesehen.
Kann jede und jeder führen?
Die meisten aktuellen Publikationen zum Thema Führung drehen sich um die Frage, wie man eine gute Führungsperson wird. Es gibt sogar so viele Anleitungen und Ratschläge für den Weg zur Führungsperson, dass man den Eindruck gewinnen kann: Jede und jeder kann eine gute Führungsperson werden, wenn sie oder er nur richtig trainiert wird.
In gewisser Weise hat sich der Blick auf Führung von einem Extrem zum anderen verschoben. Dachte man zunächst, eine Führungspersönlichkeit sei gewissermaßen angeboren, ist die Einstellung heute: Jeder Mensch kann lernen zu führen, und das unabhängig von der Persönlichkeit, die er als Grundlage mitbringt.
Nun haben wir alle gelernt, dass Extreme selten der Realität entsprechen. In jedem Fall sind sie wenig hilfreich, wenn es darum geht, sich auf dem Weg zu einem Ziel in der realen Welt zurechtzufinden.
Auch auf dem Weg zu wirklich guter Führung helfen uns die Extrempositionen nicht weiter. Es gilt vielmehr, eine Balance zu finden zwischen der Entwicklung der Persönlichkeit und der Entwicklung der Fähigkeiten und Werkzeuge, die es für erfolgreiches Leadership braucht – und beide Faktoren in den Blick zu nehmen.
Balance statt Extrempositionen
Interessanterweise findet sich ein solches Zusammenspiel der Entwicklung von Persönlichkeit und Fähigkeiten nur sehr selten in der realen Führungskräfteentwicklung von Unternehmen.
Wenn man sich die meisten großen Organisationen anschaut, dann gibt es dort oft beeindruckende, umfangreiche und klar strukturierte Programme zur Führungskräfteentwicklung. Inhaltlich konzentrieren sich die angebotenen Instrumente aber meist auf Fähigkeiten, Werkzeuge und Techniken der Führung und deren Anwendung. Nur selten wird auch die Person berücksichtigt, die diese Fähigkeiten, Werkzeuge und Techniken anwenden soll. Und noch seltener wird beides miteinander in Einklang gebracht.
In vielen Organisationen ist die alte Vorstellung von Führung immer noch lebendig: nämlich der Glaubenssatz, dass man aus dem Holz geschnitzt sein muss, das eine gute Führungspersönlichkeit ausmacht. Es gilt quasi als Grundvoraussetzung, um sich überhaupt für eine weitere Entwicklung zu qualifizieren.
Vielleicht kennen Sie selbst aus Ihrer Karriere typische Sätze in Gesprächen zwischen Führungspersonen, die diese Einstellung zum Ausdruck bringen. Sätze wie: „Wir sind hier doch alle Profis", oder „Wir müssen keine Freunde sein, wir sind nur Kolleginnen". Gerne heißt es auch: „Wir werden alle gut für diesen Job bezahlt, also komm darüber hinweg", wenn jemand mit einer besonders schwierigen oder herausfordernden Situation konfrontiert ist.
In diesen Sätzen steckt die Botschaft, dass die Person, die nicht in der Lage ist, eine schwierige Situation auf Anhieb zu meistern, sich als Führungspersönlichkeit grundsätzlich disqualifiziert. Wer nicht von Anfang an persönliche Führungsqualitäten beweist und in der Lage ist, Führungsinstrumente erfolgreich einzusetzen, hat demnach keine besondere Unterstützung verdient.
Dabei wäre die eigentliche Frage, die sich hier stellt, eine andere: Warum wird eine Situation als schwierig oder herausfordernd empfunden? Ist sie objektiv betrachtet schwierig? Oder liegt das Problem nur im Auge der oder des Betrachtenden? Was für den einen eine große Herausforderung oder gar Bedrohung darstellt, kann für eine andere einfach lösbar sein.
Call-to-Action: Wir brauchen eine neue, integrierte Art der Führungsentwicklung
Obwohl es Tausende von Büchern über gute Führung gibt, nimmt man solche Unterschiede in der Haltung und Herangehensweise an Führungsherausforderungen auch heute oft noch als gegeben hin. Die eine kann‘s, der andere nicht. Die eine ist der Herausforderung gewachsen, der andere nicht. Unabhängig von der Persönlichkeit bekommen alle das gleiche Werkzeug an die Hand gegeben.
Die meisten Unternehmen – selbst diejenigen mit ausgefeilten Programmen zur Entwicklung von Führungspersonen – haben noch keinen Weg gefunden, beide Seiten der Führungskräfteentwicklung systematisch zu integrieren und sie gezielt zusammenzuführen.
Wenn überhaupt, dann sind Konzepte zur Persönlichkeitsentwicklung heute meist den höchsten Führungsebenen vorbehalten. Derweil sollen Nachwuchs-Führungspersonen und Führungspersonen im mittleren und höheren Management vor allem praktische Führungstechniken und Handwerkliches lernen. Wir glauben, dass diese Reihenfolge umgekehrt werden sollte.
Persönlichkeitsentwicklung an die erste Stelle setzen: Warum wir Selbstwahrnehmung schulen und reflektieren müssen
Ein Beispiel: Wir gehen davon aus, dass es keine Führungsperson gibt, die nicht mindestens eine Schulung darüber absolviert hat, wie man Feedback gibt (oder erhält). Die meisten Führungspersonen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, haben solche Schulungen sogar mehrfach absolviert.
Woran liegt es dann, dass viele immer noch nicht gut darin sind, offenes, ehrliches, rechtzeitiges und konstruktives Feedback zu geben (oder zu erhalten)? Das liegt nicht daran, dass Führungspersonen nicht geschult wurden, dass ihnen die nötigen Techniken nicht bekannt wären. Es liegt vielmehr daran, dass diese Personen trotz ihrer Ausbildung oft immer noch nicht das Gefühl haben, dass sie ein solches Feedback geben sollten, könnten oder dürfen – oder dass sie ein Feedback annehmen können, ohne sich persönlich herausgefordert zu fühlen.
Fragen Sie sich einmal selbst: Wie oft sind Sie bereits einem offenen Feedbackgespräch aus dem Weg gegangen? Und warum? Weil wir uns vor der Reaktion des oder der anderen gefürchtet haben. Das Gefühl, das uns davon abgehalten hat, das Wort zu ergreifen, hatte nichts mit der Situation zu tun oder mit einer mangelnden Kenntnis von Feedbacktechniken. Es hing mit unserer Wahrnehmung der Situation, der Rolle darin und der Beziehung zu den Menschen um uns herum zusammen.
Wir alle entwickeln Geschichten, um unserer Welt einen Sinn zu geben. Und diese Geschichten drehen sich alle um die Fragen: „Wer bin ich? Wer sind die anderen? Was ist meine Aufgabe in der Welt? Wie interagiere ich mit meiner Umwelt?". Damit stellt sich die Frage, was uns befähigt oder hindert, mit den Menschen um uns herum konstruktiv zu interagieren. Und um diese Fragen beantworten zu können, müssen wir uns unserer selbst bewusst sein. Und das ist gar nicht so einfach.
Tasha Eurich hat darüber ein ganzes Buch geschrieben und legt dar, dass die meisten Menschen, die behaupten, sich ihrer selbst bewusst zu sein, es in Wirklichkeit nicht sind. Sie haben ein verzerrtes Bild von sich selbst und von anderen. Und stehen sich damit selbst im Weg.
Was hat das alles mit der Entwicklung von Führungspersonen zu tun?
Aus unserer Erfahrung und Perspektive eine ganze Menge. Wenn der Boden, in den wir die Samen der Führungsfähigkeiten, -werkzeuge und -techniken pflanzen wollen, nicht richtig vorbereitet ist, werden die Samen höchstwahrscheinlich nicht wachsen und Früchte tragen.
Den Weg zur Selbsterkenntnis kann man lernen, und er muss sich nicht so fremd und esoterisch anfühlen, wie es sich zunächst anhören mag.
Warum wir so sicher sind, dass dieser Weg erfolgreich ist? Weil wir es immer wieder in der Praxis beobachtet haben. Wir haben sowohl mit großen Organisationen als auch mit mittelständischen Unternehmen und Familienbetrieben an ihren Programmen zur Führungskräfteentwicklung gearbeitet. Wir haben sie dabei unterstützt, diese Programme zu überarbeiten und eine Sequenz zur Selbsterfahrung darin aufzunehmen, die sich durch alle Ebenen hindurchzieht und nicht erst im Top-Management einsetzt.
Das Feedback ist überwältigend positiv. Führungspersönlichkeiten, unabhängig von ihrem Dienstalter und ihrer Erfahrung, profitieren enorm davon, wenn man ihnen Zeit, Raum und ein sicheres Umfeld bietet, in dem sie darüber nachdenken können, wie sie zu dem geworden sind, was sie heute sind. Was ihren Fortschritt unterstützt hat. Wo und wie frühere Erfahrungen ihnen im Weg gestanden haben könnten. Wenn sie in der Lage sind, sich selbst voll und ganz anzunehmen, können sie die Fähigkeit entwickeln, selbst in den schwierigsten Situationen im Gleichgewicht zu bleiben. Das schließt auch die Aspekte von uns ein, die wir nicht mögen, und die wir vor uns selbst und unserer Umwelt zu verbergen versuchen.
Führungspersonen, die sich selbst gut kennen (und mit sich im Reinen sind), können die Fähigkeit entwickeln, mit anderen in Kontakt zu treten und auch mit persönlich schwierigen Situationen erfolgreich umzugehen. Persönlich herausfordernde Situationen sind solche, deren Ausgang ungewiss ist. Davon gibt es in unserer heutigen Zeit eine ganze Menge! Und das löst Stress aus.
Die Fähigkeit, eine Stressreaktion in herausfordernden und unsicheren Situationen zu steuern, ist vielleicht die sichtbarste und auffälligste Kompetenz, die eine gute Führungsperson heute braucht.
Programme zur Führungskräfteentwicklung sollten also immer zunächst bei der Persönlichkeit ansetzen. Es gilt, die Art und Weise, wie er oder sie die Welt betrachtet, zu reflektieren und zu schulen. Die Frage, auf welche Ressourcen sie oder er zurückgreifen kann, und wie er oder sie mit anderen Menschen umgeht – selbst unter extremem Druck –, sollte die Grundlage jedes Programms zur Entwicklung von Führungspersonen sein.
Und um es klar zu sagen: Wer in Situationen, in denen viel auf dem Spiel steht, sinnvoll handeln will, braucht immer noch Fähigkeiten, Werkzeuge und Techniken guter Führung. Diese zu trainieren und diesen Werkzeugkasten zu nutzen, bleibt für jede und jeden, die oder der eine Führungsrolle anstrebt, wichtig. Techniken und Werkzeuge allein reichen aber nicht aus, um nachhaltig erfolgreiche Führungspersonen zu entwickeln.
Das Wichtigste in Kürze:
- Unternehmen fokussieren ihr Leadership Development heute meist auf Techniken, Fähigkeiten und Werkzeuge für gute Führung.
- In unsicheren und volatilen Zeiten gewinnt aber die Persönlichkeitsentwicklung von Führungspersonen an Bedeutung.
- Zeitgemäße Programme zur Führungsentwicklung sollten daher der Persönlichkeitsentwicklung mindestens ebenso viel Gewicht geben wie der Schulung von Führungstechniken und -fähigkeiten.
- Ein integrierter Leadership-Development-Ansatz verzahnt die Entwicklung von Persönlichkeit und Fähigkeiten für gute Führung.