Welche Leadership ist in Zeiten permanenter Veränderung vonnöten? Dieser Frage geht der Leiter der deutschen Leadership Services Praxisgruppe, Moritz von Campenhausen, in einem Beitrag für das Magazin return nach.
Die Vorstellung, was gute Führung bedeutet und wie das Ideal einer guten Führungskraft aussieht, ändert sich so schnell wie die Anforderungen der Umwelt an die Entscheider. War in den 80er Jahren eher der stringente, durchsetzungsstarke, auf Prozess und Effizienz getrimmte Manager gefordert, wünschte man sich in den 90ern und 2000ern den unternehmerischen Typ, der als Visionär neue Wege beschreiten sollte.
Frühere Führungskonzepte basierten auf relativ klaren und stabilen Rahmenbedingungen. Wenn Ziele festgelegt und die Situation analysiert waren, griffen bestimmte Maßnahmen aus einem definierten Methodenbaukasten. Das funktioniert heute nicht mehr. Angesichts der extremen Veränderungsgeschwindigkeit und der Tiefe der Umwälzungen der neuen VUCA-Welt (Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity) stoßen herkömmliche Führungsrezepte an ihre Grenzen.
Die Unsicherheit bleibt als einzige Konstante. Damit ändert sich der Blick auf die Führungskraft. Beurteilte man sie früher allein anhand ihrer Kompetenzen (also an gezeigten Fähigkeiten), tritt jetzt als entscheidende Größe das Potenzial in den Fokus (also das, was noch werden kann): Wie groß ist ihre Fähigkeit, sich auf Neues, bisher nicht Bekanntes einzulassen und mit unvorhergesehenen Situationen fertigzuwerden?
Dazu braucht es Neugier und Mobilisierungskraft, den Willen zur Selbstreflektion und Offenheit, eine hohe Frustrationstoleranz und die notwendige Entschlossenheit. Klar ist auch: Einer alleine kann es nicht schaffen. Die Vorstellung eines charismatischen Führers, der eine Organisation komplett hinter sich bringt und so alle Probleme bewältigen kann, ist überholt. Entscheidend ist vielmehr die Fähigkeit, Teams zusammenzustellen, zu orchestrieren und das Beste aus ihnen herauszuholen. Während 1980 nur ein Fünftel aller Arbeiten im Team erfolgte, waren es 2010 bereits vier Fünftel, Tendenz stark steigend. Die hochkomplexen und undurchsichtigen Situationen der Zukunft verlangen nach ungewöhnlichen Teams. Das kann so weit gehen, dass diese Teams keine Führungskräfte im traditionellen Sinne mehr haben, sondern diese zurücktreten, um denjenigen den Vortritt zu lassen, die für die jeweilige Aufgabe am geeignetsten sind.
Das Neue aufbauen, aber das Alte erhalten
Für das Unternehmen bedeutet die Gründung solcher Teams doppelten Stress. Denn diese thematisch motivierten Gruppen stehen in der Regel quer zu bestehenden organisatorischen Strukturen. Und egal, wie wichtig das Ausprobieren des neuen Terrains sein mag, die alte, effiziente Unternehmenswelt muss weiter funktionieren. Das Neue aufbauen, aber das Alte erhalten, wo es angemessen ist und es behutsam weiterentwickeln – diese Spannbreite auszuhalten, ist die vielleicht größte Herausforderung für Organisationen und ihre Führungskräfte. Ein Patentrezept für das richtige Maß gibt es nicht. Hier helfen nur individuelle Lösungen.
Ein radikaler Bruch über Nacht ist weder möglich noch wünschenswert, denn er bedingt einen Kulturwandel, den man nicht einfach verordnen kann und der auch nicht für jeden Bereich gleich angemessen erscheint. Wenn aber alle zusammen – und allen voran Führungspersönlichkeiten – verstanden haben, dass Hierarchien und organisierte Strukturen geringere Bedeutung haben als Fähigkeiten, Einsatzwille und eine gewisse Fehlertoleranz, dann spricht man von einem „agilen“ Unternehmen. Darin trägt jeder Einzelne auf jeder Ebene mehr Verantwortung als früher. Ein Unternehmen kann sich so flexibler und aktiver in einem stets unvorhersehbaren Umfeld bewegen.
Der Beitrag erschien zuerst in „return – Magazin für Unternehmensführung und Sanierung“ (Ausgabe 03/2016).