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Die Wiege von Hermès International stand nicht in Paris, wo das Unternehmen seinen Sitz hat. Sie stand in der Samt- und Seidenstadt Krefeld. Denn hier kam Thierry Hermès 1801 als Sohn französischer Protestanten zur Welt. In den Koalitionskriegen zum Waisen geworden, ging er nach Frankreich, wurde ein Meister des Sattlerhandwerks und eröffnete 1837 sein Geschäft. Erst sein Enkel verlegte sich auf die Herstellung von Reisetaschen und Koffern. Das war zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als Automobile mehr und mehr die Pferdekutschen von den Straßen verdrängten. Mit Blick auf die Biografie des Gründers wie auch auf die Unternehmensgeschichte war Hermès also schon in seinen Anfängen ein Beispiel für Resilienz – und ist es bis heute. Das Jahr 2009 hat der Luxusgüterkonzern besser als viele andere gemeistert. Anfang 2006 übernahm Patrick Thomas die Leitung. Im Gespräch mit dem FOCUS erklärt er, was das Unternehmen so krisenfest macht.
GEWISS, Understatement wird bei Hermès International groß geschrieben. Die Antwort von Patrick Thomas, 61, überrascht trotzdem. Der erste familienfremde Geschäftsführer des Luxusaccessoires-Herstellers sitzt in seinem Büro im obersten Stockwerk des Firmensitzes, von dem aus man einen herrlichen Blick über Paris hat. Und auf die Frage, warum Hermès der Wirtschaftskrise bislang besser widerstanden hat als viele andere Unternehmen, antwortet er schlicht: „Dazu gehört immer auch etwas Zufall und Glück.“ Andere hätten die Resilienz ihres Hauses auf ihr brillantes Krisenmanagement zurückgeführt. Nicht so Thomas. „Unser Glück ist es“, präzisiert er, „ein Geschäftsmodell zu haben, dass auf Werten basiert, deren wichtigster Bestandteil es ist, eine immer bessere Qualität anzustreben.“ Das sei seit sechs Generationen so, genauer: seit der Unternehmensgründung vor 173 Jahren, als Thierry Hermès, der Sohn hugenottischer Flüchtlinge, die sich in dem inzwischen von Frankreich annektierten Krefeld niedergelassen hatten, in Paris einen Neuanfang suchte. Er wollte immer nur eines: Perfektion.
Seitdem fühlen sich ihr mit großer Kontinuität auch alle nachfolgenden Geschäftsführer und Manager verpflichtet. „Unsere Werte sind sehr tief verwurzelt, dauerhaft und universell. Sie werden in China, in den Vereinigten Staaten, in Japan und in Europa mit uns geteilt.“ „Man ändert solche Werte nicht von heute auf morgen. Manchmal darf man sie auch nicht ändern. Um einen simplen Vergleich zu bemühen: Eine Delikatesse wie eine von Hand geschlagene Mayonnaise ist ohne Eigelb und Öl bestensfalls noch ein Diätprodukt“, resümiert er.
Thomas erinnert sich, wie sein am 1. Mai diesen Jahres verstorbener Vorgänger Jean-Louis Dumas ihm bei der Amtsübergabe einen Rat mit auf den Weg gab: „Bitte werden Sie in den kommenden sechs Monaten nicht aktiv.“ Thomas beherzigte das, reiste und redete mit Mitarbeitern, ein halbes Jahr lang. So verinnerlichte er die Kultur des Hauses. Er fasst das in einem vermeintlich simplen Satz zusammen: „Das hat mir sehr geholfen, das Unternehmen verstehen zu lernen.“ Doch dann fügt er noch einen entscheidenden Nachsatz an: „Ohne ein Unternehmen zu verstehen, kann man es nicht leiten.“ Darin unterscheidet er sich von anderen Geschäftsführern. Thomas versteht sich als Bewahrer, nicht als einer, der kommt, um alles umzukrempeln.
Als beschützenswert bezeichnet er an erster Stelle die Gesellschafterstruktur von Hermès. Sie habe sich in der Krise als eine große Stärke erwiesen. „Unternehmen mit einem Referenzaktionär haben einen beträchtlichen Vorteil.“ Bei Hermès komme hinzu, dass dieser Referenzaktionär die Eigentümerfamilie sei und als Einziger im Verwaltungsrat sitze. Der Verwaltungsrat umfasst in Frankreich Aufsichtsrat und Vorstand. Im Gegensatz zum Aufsichtsrat, der den Vorstand kontrolliert, entscheidet der Verwaltungsrat aktiv über die Strategie des Hauses mit.
Wohlbefinden als Unternehmensstrategie
Thomas misst dem Verwaltungsrat nicht nur größte Bedeutung zu. Er ordnet sich ihm auch willentlich unter. „Mein Vorgesetzter ist der Verwaltungsrat beziehungsweise dessen Vorsitzender“, sagt er und gibt damit Aufschluss über sein Selbstverständnis als Geschäftsführer. Ganz ohne Starallüren. Zugleich betont er, ausgesprochen zufrieden mit seiner Rolle als Primus inter Pares zu sein: „Bei Hermès heißt es häufig: ,Hört zu, was Ende dieses Jahres ist, ist uns egal. Wichtig ist, was in zehn Jahren ist.‘ Für einen Geschäftsführer ist das unendlich beruhigend.“ Denn so wird zweierlei gewährleistet: Erstens tragen viele die Verantwortung für Entscheidungen, und zweitens nimmt das langfristige Denken den Druck von ihm, in kurzen Abständen Ergebnisse vorzulegen. So etwas könne man sich natürlich nur leisten, wenn man finanziell unabhängig sei wie Hermès. Auch das trage zur Krisenresistenz entscheidend bei.
Für mindestens ebenso wichtig wie das finanzielle Polster hält er es, die Mitarbeiter zu motivieren und sie an das Unternehmen zu binden. „Die Wertschätzung der Beschäftigten ist bei einem Familienunternehmen wie Hermès größer als anderswo“, sagt er. Er selbst habe sich ein Beispiel an seinem Vorgänger Jean-Louis Dumas genommen, um die Mitarbeiter zu motivieren. „Als der Hauptsitz noch in der Rue du Faubourg Saint-Honoré war, kam Jean-Louis Dumas jeden Morgen um neun Uhr zur Tür herein und schüttelte jedem der dort arbeitenden 300 Handwerker die Hand. Wenn er in seinem Büro in der oberen Etage ankam, war es fast viertel vor zehn. Aber dafür kannte er seine Leute in- und auswendig. Das schuf eine unglaubliche Nähe.“ Auch Thomas setzt auf diese Nähe.
Das Schaffen luxuriöser Gebrauchsgegenstände sei ein besonderes Metier. „Wir leben von der Kreativität“, sagt Thomas. „Da ist es besonders wichtig, dass die Kreativen motiviert sind. Ein Kunsthandwerker, der verstimmt ist, fertigt nicht so schöne Objekte wie jemand, der in seiner Arbeit aufgeht. Das Wohlbefinden ist daher Teil unserer Unternehmensstrategie.“ Er erinnere die Mitglieder des Exekutivausschuss daher regelmäßig daran, dass es eine ihrer Aufgaben sei, für die Zufriedenheit der Mitarbeiter zu sorgen. „Ich glaube, die Investition in Menschen verspricht den besten Return on Investment, den man erzielen kann.“
Hermès verbringe „gigantisch“ viel Zeit damit, die Mitarbeiter dazu zu motivieren, die Vision des Unternehmens zu teilen und dessen Werte zu leben. Vor kurzem habe man einen Workshop organisiert, auf dem jeder einen noch unerfüllten Lebenstraum benennen konnte. Hinterher habe Hermès den Mitarbeitern geholfen, ihren Träumen ein Stück näherzukommen. Eine Gruppe flog beispielsweise in ein Observatorium nach Chile, um von dort die Sterne zu beobachten. Eine andere Gruppe ritt im Schnee von Moskau nach Sankt Petersburg. Wieder eine andere flog nach Kambodscha. Die Gruppen von je 15 Personen seien so zusammengestellt worden, dass sich einander bis dahin Fremde begegneten. Auf diese Weise wollte Hermès den sozialen Zusammenhalt stärken. Solche Programme hätten im Unternehmen Tradition. Jean-Louis Dumas habe für Hermès-Mitarbeiter eine Weltreise in Etappen veranstaltet. Und derzeit laufe ein Austauschprogramm, das es den Kunsthandwerkern ermöglicht, eine Woche an einem Ort zu verbringen, an dem ihre Objekte verkauft werden. Im Gegenzug dürfen die Verkäufer eine Woche in der entsprechenden Werkstatt verbringen. Die Aktion dient dazu, Wissen auszutauschen, die emotionale Bindung an die Gegenstände zu stärken und die Kreativität zu fördern, auch die der Verkäufer.
Denn Kreativität sei der Dreh- und Angelpunkt für den anhaltenden Erfolg von Hermès. Sie sei beim Entwerfen und bei der Fertigung der Objekte gefragt, aber auch bei ihrer Präsentation. „Jedes unserer 300 Geschäfte in der Welt hat ein anderes Schaufenster“, erklärt Thomas. Jeder Geschäftsleiter könne frei darüber entscheiden, welche Objekte er in der Zentrale bestellt und seinen Kunden anbietet. „Das macht uns zu einem lebendigen und unberechenbaren Unternehmen. Und je unberechenbarer Sie sind, desto schwieriger ist es, Sie zu kopieren.“
Eine Kultur der Perfektion
Kreativität lasse Hermès sich viel Geld kosten. Sie sei das Herzstück des Unternehmens. Der Rest funktioniere nach dem Rhythmus des Kreativ-Teams, an dessen Spitze der künstlerische Leiter Pierre-Alexis Dumas stehe, der Sohn von Jean-Louis Dumas. Ihm untergeordnet seien die künstlerischen Leiter der etwa zehn Abteilungen. Hermès leiste sich damit ganz bewusst eine Doppelstruktur. Neben jedem künstlerischen Leiter gebe es natürlich noch einen geschäftsführenden Abteilungsleiter. Beide seien gleichberechtigt.
Die Struktur spiegele das Streben des Hauses nach Exzellenz wieder. Diese „Kultur der Perfektion“ sei strukturell im Haus verankert und „das beste Gegengift gegen Selbstgefälligkeit“. Alle wüssten: Nur das Beste ist gut genug. „Hier hat es in den letzten 20 Jahren nie eine Diskussion darüber gegeben, ob irgendetwas günstiger hergestellt werden könnte“, sagt Thomas. Wenn er das anderen Geschäftsführern erzähle, würden sie ihm das nicht glauben. Aber es sei bei Hermès tatsächlich so: Kostensenkungen seien kein Thema. Wenn es hingegen ein besseres Leder für ein Produkt gebe, zögere das Unternehmen keine Sekunde, es zu besorgen. „Diese Kultur haben die Mitarbeiter verinnerlicht und auch ich.“ Thomas geht sogar noch weiter und sagt: „Nicht ich dirigiere das Haus, sondern der Geist des Hauses mich.“
Aus dem Streben nach Perfektion entwickele sich eine ganz eigene Dynamik. Man handele nach der Maxime, dass sich alles ändern muss, damit sich nichts ändert. Das wirke sich auch auf die Produkte aus. Als Beispiel nennt Thomas den Bestseller des Hauses, die Kelly Bag. „Die Tasche wurde 1927 kreiert“, sagt er, „sie sieht aber heute schon nicht mehr so aus wie vor sechs Monaten, und doch ist sie dieselbe geblieben. Das hört sich geheimnisvoll an. Tatsächlich ist es aber so, dass wir unsere Objekte ständig ihrer Zeit anpassen.“
Pierre-Alexis Dumas komme dabei eine überragende Rolle zu. Er sei für Hermès das, was Karl Lagerfeld für Chanel sei. „Er ist der große Organisator und Dirigent. Er spielt zwar nicht die Musik, aber er dirigiert die Musiker. Das ist schwieriger.“
„Wenn du Leute führen willst, gehe hinter ihnen“
Thomas bezeichnet seine eigene Rolle als die eines „Lautsprechers“, der ständig an die Werte des Hauses erinnere. Diese Rolle harmoniere perfekt mit der Vorstellung, die er von Unternehmensführung habe. Da halte er es mit dem chinesischen Philosophen Laotse. Der habe gesagt: „Wer Menschen führen will, muss hinter ihnen gehen.“ Für ihn folge daraus, dass Leadership nicht die Qualität eines Einzelnen, sondern die des Teams sei. Wenn er bei seiner Pensionierung seinem Nachfolger ein Team mit allen nötigen Fähigkeiten hinterlasse, dann wisse er, dass er einen guten Job gemacht habe.
Dabei sei es unerheblich, ob er aus der Familie stamme oder nicht. „Dass ich der erste familienfremde Geschäftsführer bin, habe ich erst aus der Presse erfahren“, sagt er. Das Unternehmen mache keinen Unterschied zwischen Familienmitgliedern und Familienfremden. „Ich habe zwar keine Tochter der Familie geheiratet“, sagt Thomas, „bin aber mit den Werten des Hauses vermählt.“ Das ist zweifellos eine der Grundvoraussetzungen, um Geschäftsführer von Hermès zu werden. Thomas nennt noch eine weitere: „Man kann bei uns nicht nur rational an die Sache herangehen, sondern muss auch Gefallen an den Objekten finden.“
Ihm selber ist die Begeisterung an den Produkten des Hauses durchaus anzumerken. Während des Gesprächs steht er mehrere Male auf, um eine Kreation vom Regal zu holen und sie dem Besucher zu reichen, damit er das Besondere des Materials oder der Verarbeitung selbst erfühlen und begutachten kann. „Man braucht beide Gehirnhälften zu gleichen Teilen, um CEO bei Hermès zu sein“, resümiert Thomas. In allen Abteilungen würden der Manager und der künstlerische Leiter Hand in Hand arbeiten. „Alle Manager mit einem zu großem Ego haben wir ersetzt.“ Ganz ohne Konflikte geht es also auch bei Hermès nicht zu.
Dann zeigt sich Thomas noch einmal bescheiden: Es sei gar nicht so entscheidend, wer Geschäftsführer ist. „Mehrere Exekutivausschuss-Mitglieder könnten morgen meinen Job übernehmen“, sagt er. „Auch das ist angenehm. Sie können gelassen in den Urlaub fahren.“ Thomas meint das durchaus ernst und benennt damit zugleich einen weiteren wichtigen Punkt für die Resilienz von Hermès. Er ist stolz darauf, ein Team mit einem starken Zusammengehörigkeitsgefühl geschaffen zu haben. „Für mich ist das echtes Glück“, sagt er.
Thomas hat konkrete Vorstellungen darüber, was sich ändern muss, damit sich auch künftig bei Hermès nichts ändert und das Haus krisenresistent bleibt. Im Mittelpunkt steht dabei die Internationalisierung von Hermès, die er vorantreibt, nach innen und nach außen. Zum einen soll der Exekutivausschuss bunter werden. Eine Spanierin und einen Japaner hat er schon in das Gremium geholt. Und zum anderen will er den Auftritt von Hermès einzelnen Ländern anpassen. „Hermès soll nicht globaler, aber multilokaler werden“, sagt er, japanisch in Japan, chinesisch in China und amerikanisch in Amerika. Und wenn das Unternehmen dabei noch etwas innovativer würde, störte ihn das auch nicht.
Sein Nachfolger soll dann die Firma möglichst geräuschlos übernehmen. Wer das sein wird, wisse er nicht, sagt er. Nur eines sei gewiss. Er werde jung sein. Denn in dem Metier müsse man Trends frühzeitig erkennen, und das könnte man am besten in jüngeren Jahren. „Mit 61 kann ich zuhören, aber ich verstehe nicht immer alles“, gesteht er und lacht. Schon bei seinem vorherigen Arbeitgeber hätten ihm die Designer der unterschiedlichen Marken manchmal gesagt: „Vertrau uns einfach und schweig.“ In so einem Satz scheint einmal mehr Laotse auf: Wenn der Einzelne seine Grenzen kennt, kann das ein Team oder ein ganzes Unternehmen stark machen.
Das Gespräch mit Patrick Thomas in Paris führten Daniel Tournier (links) und Jean-Louis Petibon, beide Egon Zehnder, Paris.
Patrick Thomas
Patrick Thomas ist seit Anfang 2006 der erste familienfremde Geschäftsführer von Hermès. Zuvor war er zweimal Generaldirektor des Luxuswarenkonzerns. Unterbrochen wurde diese Tätigkeit 1997, als er zunächst zur Kosmetikgruppe Lancaster und drei Jahre später zum Getränkehersteller William Grant & Sons wechselte. Seine Karriere begann er nach einem Studium an der Wirtschaftshochschule ESCP als Finanzanalyst. Anschließend arbeitete er beim Getränkeunternehmen Pampryl, das von seiner Familie gegründet worden war und später an Pernod Ricard verkauft wurde. Bei Pernod Ricard avancierte er zum Finanzdirektor und dann zum Generaldirektor der britischen Tochter.
DAS UNTERNEHMEN Hermès International
Hermès International ist ein familiengeführter, seit 1993 börsennotierter französischer Luxuskonzern mit Sitz in Paris. Er beschäftigt insgesamt 8 000 Mitarbeiter. Gemessen am Marktwert zählt Hermes zu den vier größten Luxuswarenanbietern in der Welt. In der jüngsten Weltwirtschaftsrezession erwies sich das Unternehmen als besonders krisenresistent. Während der gesamte Luxusgütermarkt 2009 erstmals weltweit um acht Prozent schrumpfte, steigerte Hermès seinen Umsatz um 8,5 Prozent. Ein Grund dafür ist, dass das Unternehmen mehr als die Hälfte des Umsatzes mit weniger krisenanfälligen Lederwaren und Seidentextilien macht. Zudem ist Hermès auf den Weltmärkten jeweils etwa gleich stark vertreten. Am stärksten wächst der Umsatz derzeit in China, wo Hermès in diesem Jahr die Marke Shang Xia lanciert. Es ist das erste Mal, dass Hermès in einem Land mit einer lokalen Marke auftritt. Shang Xia soll mit den Qualitätsstandards von Hermès eine authentisch chinesische Marke werden, die mit chinesischen Materialien und Mitarbeitern einen nationalen Stil verkörpert.
FOTOS: RÜDIGER NEHMZOW, GILBERT NENCIOLI