Egon Zehnder: Herr Laloux, folgt man Ihnen, dann ist die Art und Weise, wie wir Unternehmen heute führen, längst nicht mehr zeitgemäß. Warum?
Frédéric Laloux: Wenn ich mich unter vier Augen mit Unternehmensführern unterhalte, kommen sie früher oder später darauf zu sprechen, dass etwas zerbrochen und die Art und Weise, wie wir Unternehmen führen, in eine tiefe Krise geraten ist. Als ich vor gut 15 Jahren in der Wirtschaftswelt begann, herrschte noch der allgemeine Glaube, wir meisterten die Kunst des Managements. Man blickte auf zu Firmen wie General Electric unter Jack Welch, bei denen man das Gefühl hatte: So geht Management.
Heute treffe ich bei fast allen Führungskräften auf die Einsicht, dass alles zu langsam, zu bürokratisch und zu wenig innovativ sei und man nicht mehr wisse, wie man Mitarbeiter motivieren könne. Und weil man nicht mehr weiß, was man tun soll, probiert man es notgedrungen mit dem nächsten Managementtrend. Aber es gibt noch eine Erkenntnis, über die niemand spricht: Es macht heute keinen Spaß mehr, Top-Führungskraft zu sein. Die Arbeit an der Unternehmensspitze ist zu einem »Rat Race« verkommen. Jeder ist unglaublichem Druck ausgesetzt, den alle irgendwie auszuhalten versuchen. Im Grunde bewegen sich fast alle am Rande des Burnouts. Interessanterweise will das keiner thematisieren. Führungskräfte verheimlichen die Probleme gegenüber ihren Teams, oft auch gegenüber Freunden oder Ehepartnern. Der Grund dafür ist ein sehr einfacher: Es hat sie so viel Arbeit gekostet, dorthin zu gelangen, wo sie jetzt sind. Zuzugeben, dass man sich in der Position nicht wohlfühlt, wäre, als gestünde man eine Niederlage ein.
Egon Zehnder: Was ist in der Unternehmenswelt geschehen, dass sich die Situation so verschlechtert hat?
Frédéric Laloux: Die Komplexität steigt unaufhörlich. Die schiere Größe von Organisationen nimmt zu, ebenso der Einfluss der Stakeholder und die Erwartungen der Mitarbeiter, die es zu managen gilt. Natürlich ließen sich noch mehr Programme aufsetzen, die beispielsweise darauf abzielen, Organisationen agiler zu machen und den Mitarbeitern mehr Mitgestaltung zu ermöglichen. Wir sind in der Lage, Initiativen zur Veränderung der Unternehmenskultur zu starten. Allerdings verlängern diese Programme bestenfalls die Halbwertszeit des aktuellen Managementsystems. Die meisten haben gar keinen Effekt mehr oder wirken sogar kontraproduktiv, weil sie die Komplexität noch einmal erhöhen.
In der Konsequenz kehren immer mehr Führungskräfte der Wirtschaftswelt den Rücken. Sie tun dies teils wegen eines Burnouts, einer Erkrankung oder Scheidung, die sie ihr Leben überdenken lässt. Einige aber realisieren auch schlicht: »Hey, ich weiß nicht, ob ich all das wirklich noch länger tun will. Da draußen muss es ein besseres Leben geben.« Und das sind nicht nur Führungskräfte. Es sind genauso Ärzte und Krankenschwestern, die in Scharen Krankenhäuser, die zu seelenlosen Maschinen verkommen sind, verlassen. In vielen Ländern finden sich keine Lehrer, die in Schulen arbeiten wollen, sie verlassen ihre eigentliche Profession in rekordverdächtig großer Zahl. Ich glaube, wir haben es mit einer grundlegenden Krise des Managements unserer Institutionen zu tun.
Egon Zehnder: Wie geht es für die »Aussteiger« weiter?
Frédéric Laloux: Nicht alle gehen der Wirtschaftswelt verloren. Manche starten neue Unternehmen oder beginnen, ihre existierenden auf ungewöhnliche Weise zu verändern. Bei meinen Recherchen stieß ich auf eine ganze Reihe erstaunlicher Unternehmen, gegründet von Führungskräften, deren persönlicher Weg sie befähigt hat, auf ihre Arbeit, ihr Management und ihre Organisationen in neuer Weise zu schauen. Als ich mir diese Organisationen genauer ansah, stieß ich auf zwei verblüffende Aspekte.
Zum einen haben diese Führungskräfte eine Perspektive gewonnen, aus der sie es wagten, das Denkgebäude des Managements, das ihnen im Wirtschaftsstudium beigebracht wurde, zu hinterfragen. Es funktioniert für sie einfach nicht mehr. Zum anderen – und das ist bemerkenswert – erweist sich die Bandbreite an Organisationsstrukturen und Vorgehensweisen, die sie tagtäglich umsetzen, nachdem sie einiges ausprobiert haben, als sehr viel wirkmächtiger, zweckmäßiger und sinnvoller. Und ihre Praktiken sind einander überraschend ähnlich. Dabei hatten die meisten dieser Führungskräfte angenommen, die einzigen zu sein, die unsere gängigen Managementpraxen derart radikal hinterfragten. Und dennoch endeten sie mit sehr ähnlichen Prinzipien und Vorgehensweisen. Es war, als wären sie jeder für sich auf ein neues Paradigma gestoßen, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Wenn Sie komplexe Systeme untersuchen, stellen Sie fest, dass keines von ihnen auf Hierarchien basiert. Hierarchien können mit Komplexität nicht umgehen.
Egon Zehnder: Was genau zeichnet dieses neue Management-Paradigma aus?
Frédéric Laloux: Das in wenigen Minuten zu beantworten, ist die so ziemlich schwierigste Frage, die man mir stellen kann. Und zwar deshalb, weil sich nicht nur ein Aspekt im heutigen Verständnis von Management ändert, sondern sein ganzes Fundament, sein ganzes Denkgebäude. Wenn wir uns anschauen, wie sich Management im Laufe der Menschheitsgeschichte entwickelt hat, stellen wir fest, dass wir einige Sprünge hinter uns haben. Historisch gesehen arbeiteten die ersten Organisationen nach ähnlichen Prinzipien wie heute die Mafia oder kriminelle Gangs, sehr informell, mit einem mächtigen, gewaltbereiten Boss, der alles zusammenhält. Mit dem Übergang zu Agrargesellschaft und Zivilisation kam es zur ersten großen Veränderung, nämlich der Einführung des Organigramms mit formellen, stabilen Berichtslinien und routinierten Prozessen im Sinne von »Nächstes Jahr machen wir das Gleiche wie dieses Jahr.«
Mit der industriellen und wissenschaftlichen Revolution kam ein weiterer Durchbruch, der heute zu den Grundfesten unserer Managementkultur zählt: Management durch Zielvereinbarung. Dabei werden von den Führungskräften Ziele und Marschrichtungen definiert, aber es bleibt den Mitarbeitern überlassen, wie sie sie erreichen. Daraus hat sich die strategische Planung von Budgets und Zielvorgaben, von KPIs, Balanced Scorecards, Anreizsystemen und der Performance Evaluation entwickelt. Und gerade jetzt befinden wir uns an der Schwelle zu einem grundlegend anderen Managementsystem. Und gemessen an den Organisationen, die es in die Tat umgesetzt haben, zeichnen sich drei Veränderungen, besser gesagt Durchbrüche, ab.
Man braucht die Struktur, aber nicht den Chef. Kein komplexes System auf der Welt basiert auf Hierarchien.
Egon Zehnder: Welche drei Durchbrüche haben Sie da vor Augen?
Frédéric Laloux: Ein ganz wesentlicher besteht in der Selbstführung. Es gibt heute Organisationen mit Tausenden von Mitarbeitern, die komplett ohne eine hierarchische Bindung an einen Vorgesetzten oder CEO arbeiten. Das mag verrückt klingen, ist aber genau die Art und Weise, wie komplexe Systeme – denken Sie an unser Gehirn oder natürliche Ökosysteme – funktionieren. Eine Reihe von Persönlichkeiten hat es fertiggebracht, dass Organisationen nach denselben Prinzipien gedeihen können. Es gibt genügend Beispiele von Unternehmen, die Selbstführung praktizieren, einige von ihnen bereits seit 20, 30 oder 40 Jahren, sodass wir heute verstehen können, wie es funktioniert, wie extrem widerstandsfähig und produktiv das sein kann.
Wenn Sie komplexe Systeme untersuchen, stellen Sie fest, dass keines von ihnen auf Hierarchien basiert. Hierarchien können mit Komplexität nicht umgehen. Das menschliche Gehirn beispielsweise besteht aus etwa 85 Milliarden Zellen. Keine davon ist ein CEO, der anderen Zellen sagt, die glauben, ein Vorstand zu sein: »Hey Leute, wenn Ihr eine gute Idee habt, schickt sie zuerst zu mir«. Wenn Sie versuchen würden, das Gehirn in dieser Weisezu trainieren, würde es nicht mehr funktionieren. So kann man Komplexität nicht bewältigen. Deshalb basieren alle komplexen Systeme, denken Sie nur an Wälder, den menschlichen Körper oder auch jedes Organ, auf Selbstführung.
Egon Zehnder: Wie sieht Selbstführung in der Praxis aus?
Frédéric Laloux: Lassen Sie mich diese Frage am Beispiel eines Unternehmens beantworten, das in den Niederlanden häusliche Pflege und Betreuung in der Nachbarschaft organisiert. Es wurde von Jos de Blok gegründet, der lange in einem klassischen Pflegeunternehmen gearbeitet hatte. An einem bestimmten Punkt hielt er die bürokratischen, oftmals absurden und auch erniedrigenden Dinge, die das Management von seinem Pflegepersonal verlangte, nicht mehr aus. Er sagte einfach »Es reicht!« und gründete 2006 Buurtzorg. Jos de Blok startete mit drei Kollegen. Heute sind es gut 10.000. Es ist eine Organisation, die ganz und gar auf Selbstführung basiert. 10.000, darunter kein einziger Manager, kein CFO und kein Personalchef. Buurtzorg ist eine riesige Erfolgsgeschichte mit einer winzigen Unternehmenszentrale und einer Organisation, die sich komplett selbst führt. Sie werden zu Recht fragen, wie kann das funktionieren? Ich habe einige Zeit gebraucht, um die Mechanismen von Organisationen wie Buurtzorg zu verstehen, weil sie so ganz anders sind als alles, was mir je zuvor begegnet war. Sie gehen mit Komplexität auf eine Weise um, die die Dinge so einfach macht, dass es fast magisch erscheint.
Frédéric Laloux lebt im Ecovillage Ithaca im Bundesstaat New York.
Egon Zehnder: Geben Sie uns ein Beispiel, wie Selbstführung Komplexität reduziert?
Frédéric Laloux: Ein Aspekt des Selbstmanagements besteht darin, dass niemand nur deshalb, weil er einen bestimmten Titel hat, eine Entscheidung durchsetzen kann. Vielmehr muss er vorher den Rat von Experten und all denjenigen einholen, die von der Entscheidung betroffen wären – eine Praxis, die mitunter als »Advice Process« bezeichnet wird. Nun, ist das nicht langsam und kompliziert? Keinesfalls! Jos de Blok ist immer noch jemand, der viele Ideen hat und Initiativen anstößt, aber er muss sie zunächst mit seinen Kollegen abstimmen. Also veröffentlicht er einen Blogpost im Intranet, so etwa in dieser Art: »Ich habe über unsere Methode, Überstunden auszurechnen, nachgedacht. Hier ist mein Vorschlag für ein neues System. Was denkt Ihr darüber?« Da Jos hoch respektiert wird, lesen und kommentieren die meisten Pflegekräfte seinen Vorschlag binnen 24 Stunden. Oft gibt es einen breiten Konsens, und dann, einen Tag später, kommuniziert er die Entscheidung über einen weiteren Blogpost. Mitunter wird ein Vorschlag abgelehnt. In solchen Fällen überarbeitet de Blok ihn oder bittet eine Gruppe von Freiwilligen, sich die Sache gemeinsam mit ihm anzuschauen.
Das mutet zunächst einmal nicht sonderlich revolutionär an, bis man sich vorstellt, wie eine ähnliche Initiative in einer traditionellen Organisation gehandhabt wird. Dort geht Jos de Blok mit seiner Idee einer neuen Überstundenregelung vermutlich zu seinem Personalchef. Der Personalchef spricht mit einem Mitarbeiter seiner Abteilung, der ein entsprechendes Konzept verfasst und mit einer Reihe von Kollegen bespricht, bevor er es dem Personalchef vorträgt. Der HR-Chef ändert ein paar Dinge, also dreht der Mitarbeiter eine weitere Runde, bevor er ein neues Meeting aufsetzt und das Konzept erneut vorstellt. Mit etwas Glück wird es jetzt vom Personalchef akzeptiert und im Vorstand präsentiert. Dort gibt es sehr wahrscheinlich jemanden, der nicht viel vom Personalchef hält, ihm seinen Erfolg nicht gönnt und ihn daher mit kritischen Fragen quält. Also stimmt der Personalchef zu, sich die Sache noch einmal anzuschauen, kehrt zurück an den Schreibtisch und zu seinem Mitarbeiter. Es folgen weitere Meetings, bevor die Angelegenheit endlich erneut dem Vorstand vorgelegt wird. Nachdem es schließlich beschlossen ist, geht es zur Überarbeitung an die Abteilung Interne Kommunikation, bevor es endlich die Regionalmanager, die Gebietsmanager und das Pflegepersonal erreicht. Können Sie sich vorstellen, wie viele Meetings und Wochen dieses Projekt verschlingt? Jos de Bloks Blogpost hingegen kommt binnen 24 Stunden zu demselben Ergebnis, wobei er die Vorschläge der Pflegekräfte und ihre Zustimmung gleich berücksichtigen kann.
Egon Zehnder: Können Sie ein weiteres Beispiel schildern?
Frédéric Laloux: Nehmen Sie den nordfranzösischen Automobilzulieferer FAVI. Während des ersten Golfkrieges brach der Automobilmarkt zusammen, und bei FAVI war ein Viertel der Produktionskapazitäten nicht ausgelastet. Eigentlich hätte jeder vierte Mitarbeiter entlassen werden müssen. Doch Unternehmenschef Jean-François Zobrist tat etwas wirklich Ungewöhnliches: Erließ alle Maschinen stoppen, rief die paar Hundert Mitarbeiter, die sie damals waren, zusammen und stellte sich vor ihnen auf ein paar Paletten. »Eigentlich müsste ich 25 Prozent von Euch feuern«, sagte er sinngemäß. »Das wären alle Zeitarbeiter unter Euch. Ich will das nicht, aber ich bin mir nicht sicher, was ich sonst tun könnte.«
Zobrist bewies wirklich Mut, indem er das Problem offen ansprach. Man kann sich vorstellen, wie nervös die Leute wurden und welche Fragen sie stellten. Einer sagte: »Wir wissen nicht, wie lange die Krise dauert. Vielleicht geht sie ja vorüber. Warum reduzieren wir nicht alle unser Gehalt um 25 Prozent und feuern erst einmal niemanden? Und nächsten Monat schauen wir uns die Situation noch mal an.« Als Zobrist in die Runde fragte: »Wer ist dafür?«, gingen alle Hände nach oben. Eine Stunde später waren alle wieder an ihren Maschinen. In einer Stunde wurde eine wirkliche Krise bewältigt. Stellen Sie sich vor, wie viele Meetings und wie viel Arbeit es im Zuge eines solchen Einschnitts normalerweise gäbe und wie sehr es den Mitarbeitern und der Zukunft des Unternehmens geschadet hätte, zumal ein paar Monate später ein deutlicher Aufwärtstrend zu verzeichnen war. Das war natürlich nur möglich, weil sich dort alle seit ein paar Jahren selbst führten, wodurch sich enormes Vertrauen und Verantwortungsbewusstsein entwickelt hatte. Versuchen Sie etwas Ähnliches einmal in einer traditionellen Organisation!
In konventionellen Organisationen fühlen wir uns häufig gezwungen, eine professionelle Maske zu tragen. Hinter dieser Maske verstecken wir viel von dem, was uns ausmacht: unsere Freude, unsere Hoffnungen, unsere Zweifel, unsere Sehnsüchte, auch unsere Schrulligkeit.
Egon Zehnder: Wie gelingt es einer Organisation – und vor allem Managern – etwas umzusetzen, das das genaue Gegenteil dessen ist, was sie gewohnt sind? Wie sollen große Unternehmen ohne feste Strukturen funktionieren?
Frédéric Laloux: Genau in dieser Annahme – dass Selbstmanagement keine Strukturen benötige – liegt das Missverständnis. Viele Leute meinen, vier oder fünf Leute können sich vielleicht selbst führen, aber jenseits dieser Größe braucht es Strukturen und einen Chef. Richtig, es braucht Strukturen, unbedingt. Aber es braucht keinen Chef.
Es gibt eine ganze Reihe von Maßnahmen, die Führungskräfte ergreifen können, wenn sie sich auf diesen Weg begeben. Eine besteht darin – das habe ich immer wieder beobachtet –, ein Team von Enthusiasten zusammenzustellen und ihnen ein Mandat zu geben, Neues anzufangen, auszuprobieren und zu experimentieren. Aufgabe des CEOs ist es nicht, Selbstmanagement von oben zu implementieren, sondern dieses Team zu fördern und zu schützen, denn die Organisation wird ganz sicher zurückschlagen. Aber diese Inseln der Vernunft wecken oftmals eine Begeisterung in der Organisation, die dazu führt, dass andere ebenfalls einsteigen wollen. Auch Unterstützung durch Externe kann hilfreich sein. Denn diese Art der Veränderung verstößt gegen die Grundlagen all dessen, was wir alle über Management gelernt haben. Sie berührt Themen wie Macht, Kontrolle und die Rolle, die Manager künftig ausfüllen werden. Ein Vermittler, der vor diesen kontroversen, aber wichtigen Themen nicht zurückschreckt, kann als Begleiter auf dem Weg in diese neue Welt sehr hilfreich sein.
Egon Zehnder: Also braucht es auf dieser Reise zu einer neuen Form des Managements Beratung …
Frédéric Laloux: Sicher. Aber nur, um den Prozess zu erleichtern und nicht, um ihn zu steuern. Bei einer derart grundlegenden Transformation, die sich kaum planen lässt, hilft ein traditioneller Beratungsansatz nach meiner Auffassung kaum weiter. Gute Moderatoren schaffen vielmehr einen Raum für profunde, aufrichtige Gespräche. Sie ermöglichen es, Widerstände zu überwinden und die Attraktivität des Selbstmanagements zuerkennen.
Egon Zehnder: Wenn ein Unternehmen neue Wege einschlägt, was geschieht dann mit jenen, die sich dem Konzept des Selbstmanagements verschließen?
Frédéric Laloux: Die Frage habe ich mir häufig gestellt, denn natürlich höre ich von Managern Einwände wie »Ich glaube nicht, dass meine Leute für so etwas reif genug sind. Entscheidungen von dieser Reichweite kann ich ihnen nicht anvertrauen.« Und wenn ich diese Frage den Führungskräften in den oben erwähnten Unternehmen gestellt habe, war die Antwort bei allen ziemlich ähnlich. Sie sagten: »In ihrem Privatleben treffen Mitarbeiter sehr weitreichende Entscheidungen – etwa die, wen sie heiraten, ob sie sich für einen Hauskauf verschulden sollten oder in welche Schule sie ihre Kinder schicken. Wie kommen wir dann auf die Idee, dass man ihren Entscheidungen nicht trauen kann, sobald sie sich in einer Organisation bewegen?«
Unternehmen, die mit Selbstführung arbeiten, berichten, dass die meisten ihrer Mitarbeiter die neue Freiheit nutzen wollen und ihre neue Verantwortung als fantastisch empfinden. Es geht weniger darum, das Konzept zu verstehen und zu übernehmen, als vielmehr darum, mit ihm zu experimentieren und zu erfahren, dass es funktioniert.
Egon Zehnder: Dennoch muss der Impuls zum Wandel in Richtung Selbstmanagement von der Person an der Spitze ausgehen. Ist das nicht paradox?
Frédéric Laloux: Sie haben Recht, das ist paradox. Heute gibt es ein paar Hundert, vielleicht ein paar Tausend Organisationen, die sich auf diesen Weg gemacht haben. Und wir wissen um die Machtfülle, mit der CEOs in traditionellen, pyramidal organisierten Unternehmen ausgestattet sind – und wie entscheidend ihre Rolle ist. Aber wenn sie die Veränderung zutiefst wollen und einen Aufsichtsrat haben, der sie unterstützt, können sie sehr schnell zu Erfolgen kommen. In der Folge verliert die Rolle des CEOs als Entscheider auch sehr schnell an Bedeutung, weil vermehrt andere auf die Bühne treten und Entscheidungen treffen. Und gleichzeitig wird seine Rolle immer wichtiger – weil nur er den Freiraum verteidigen und allen klarmachen kann: »So wollen wir arbeiten. Und wir werden nicht in die alten Muster zurückfallen.«
Egon Zehnder: Wie gehen Organisationen, die Selbstmanagement leben, mit Krisen um?
Frédéric Laloux: Zunächst einmal habe ich im Rahmen meiner Forschung festgestellt, dass es in selbstgeführten Unternehmen zu weniger Krisen kommt als in konventionellen. Beispielsweise machen viele Fabriken selbst in Rezessionszeiten keinen Verlust, ja meistens noch einen Gewinn. Das erklärt sich unter anderem dadurch, wie schlank und schlagkräftig diese Organisationen aufgestellt sind: Sie gehen nicht durch die üblichen Zyklen des Fett-Ansetzens in guten Zeiten und der Entlassungen in schlechten. Solche plötzlichen, schmerzhaften Entscheidungen müssen sie gar nicht treffen, weil sie sehr viel besser darin sind, sich kontinuierlich anzupassen.
Egon Zehnder: Heute gewinnen die Millennials zunehmenden Einfluss auf die Arbeitswelt. Ihnen liegt auch Sinn und Sinngestaltung am Herzen. Wie sehen Sie diese neue Generation?
Frédéric Laloux: Viele Millennials verstehen das Konzept des Selbstmanagements intuitiv. Sie sind mit dem Internet und damit in einer Welt aufgewachsen, in der keine traditionellen Autoritäten darüber wachen, was veröffentlicht wird und was nicht. Jeder kann seine Meinung sagen, und wenn sie interessant ist, findet sie schnell Gehör, ganz unabhängig von Rang und Titel.
Hinzu kommt, dass die meisten von ihnen weniger autoritär erzogen worden sind als wir. Sie sind es gewohnt, Dinge zu hinterfragen und sie, wenn sie aus ihrer Sicht keinen Sinn machen, auch abzulehnen. Sie sind im Wissen aufgewachsen, dass wir vor einigen kritischen ökologischen Herausforderungen stehen. Geldverdienen allein erfüllt sie nicht und ist daher keine ausreichende Motivation mehr.
Viele traditionelle Personalabteilungen glauben deshalb, Millennials seien schwer zu führen. Meiner Meinung nach stellen sie die richtigen Fragen und zwingen uns geradezu, Türen zu öffnen, die auch für uns Ältere wichtig sind. Es wird spannend sein, zu sehen, was in zehn Jahren geschieht, wenn diese Leute, für die Selbstführung selbstverständlich ist, in den Hierarchien aufsteigen. Hoffentlich sind sie bis dahin nicht alle ausgestiegen!
Egon Zehnder: Gibt es auch Organisationsformen, für die Selbstführung nicht geeignet ist? Was ist beispielsweise mit dem Militär?
Frédéric Laloux: Zu der Frage sollten Sie das Buch »Team of Teams« des ehemaligen US-Generals Stanley McChrystal lesen. Spezialeinheiten, die in höchster Unsicherheit operieren – also beispielsweise jene Leute, die man ausgesandt hat, um Bin Laden zu töten –, haben sich immer selber geführt. Komplexe Missionen kann man nicht vollenden, wenn alle Entscheidungen erst einmal ihren Weg durch die Befehlskette finden müssen. Befehlsketten mögen noch für die gute alte Artillerie funktionieren. Hochkomplexe Spezialeinheiten aber operieren alle nach dem Prinzip der Selbstführung. McChrystals Buch ist ein echter Augenöffner, weil er zeigt, dass sich hohe Komplexität nur mit Selbstführung bewältigen lässt.
Egon Zehnder: Sie sagten, dass es drei Merkmale gibt, die für selbstführende Organisationen kennzeichnend sind. Wie lautet das zweite?
Frédéric Laloux: Das zweite hat etwas mit Ganzheitlichkeit zu tun. Es ist mindestens so wirkmächtig wie Selbstführung, aber deutlich subtiler und weniger schlagzeilenträchtig – viele unterschätzen seine Wichtigkeit. In konventionellen Organisationen fühlen wir uns häufig gezwungen, eine professionelle Maske zu tragen. Hinter dieser Maske verstecken wir viel von dem, was uns ausmacht: unsere Freude, unsere Hoffnungen, unsere Zweifel, unsere Sehnsüchte, auch unsere Schrulligkeit. Es gilt als völlig normal, mit seinem Ego am Arbeitsplatz zu erscheinen und für sein Team, sein Budget, seine Karriere oder schlicht ein Argument zu kämpfen. Aber sprechen Sie einmal über tiefgreifendere Dinge wie Ihre Hoffnungen oder Ihren Wunsch nach einem Sinn und Zweck Ihrer Organisation, und Sie befinden sich plötzlich auf gefährlichem Terrain.
Wenn wir so viel von dem, was uns ausmacht, hinter einer Maske verstecken, trennen wir uns auch von einem Großteil unserer Energie, Kreativität und Leidenschaft. Einige der Organisationen, die ich untersucht habe, verstehen das und haben bewusste Maßnahmen ergriffen, damit ihre Mitarbeiter so sein können, wie sie tatsächlich sind. Wenn Menschen so auftreten können, werden Beziehungen tiefer und reicher. Das wiederum führt zu einer außerordentlichen Lebendigkeit der Organisation.
Egon Zehnder: Wie lautet das dritte Merkmal von selbstführenden Organisationen?
Frédéric Laloux: »Evolutionärer Zweck« ist ein Begriff, den eines der von mir untersuchten Unternehmen geformt hat. Er bedeutet zum einen, dass die Organisation jenseits des reinen Geldverdienens und der Steigerung ihrer Marktanteile einen sinnvollen Daseinszweck hat. Zum anderen impliziert er, dass die Organisation aufmerksam ist und ständig im Auge behält, wohin sie dieser Zweck führt. Das ist ein klares Gegenkonzept zum traditionellen Management-Paradigma der Wirtschaftshochschulen. Dieses basiert auf der Annahme, dass wir die Zukunft voraussagen und kontrollieren sollten. Führungskräfte sollten demnach eine klare Langzeitvision entwickeln, die dann in eine Strategie übersetzt und umgesetzt wird. Die Führungspersönlichkeiten der Unternehmen, die ich untersucht habe, haben da eine andere Vorstellung. Sie sagen: »Das traditionelle Konzept der Zielvorgaben macht nur dann Sinn, wenn man Organisationen als ein lebloses Etwas betrachtet, das gesteuert und auf einen Weg gebracht werden muss. Wir sind aber überzeugt, dass unsere Organisationen lebendige Organismen sind, die über einen eigenen Orientierungssinn verfügen. Und weil das so ist, hat sich unsere Rolle gewandelt: Sie liegt darin, den evolutionären Zweck unserer Organisationen zu verstehen.« Die Welt ist derart komplex geworden, dass das Beste, was wir tun können, nicht im Planen und Kontrollieren (»predict and control«) besteht, sondern im Wahrnehmen und Ermöglichen (»sense and respond«). Nehmen Sie die agile Softwareentwicklung: Sie hat uns gezeigt, wie viel wirkmächtiger Wahrnehmen und Ermöglichen im Vergleich zu Planen und Kontrollieren sind. Mit dem Konzept des evolutionären Zwecks ergreift dieser Ansatz die gesamte Organisation. Er ersetzt die strategische und die Budgetplanung sowie das Herunterbrechen von Unternehmenszielen durch sehr viel leichtere, anpassungsfähigere Praktiken.
Egon Zehnder: Herr Laloux, wir danken Ihnen für das Gespräch.
Frédéric Laloux ist ein unbequemer Vordenker mit einer unkonventionellen Vita.
Nach einem klassischen MBA-Studium an der INSEAD und einer Zeit als McKinsey-Berater begab er sich auf die Suche nach einer neuen Weltsicht. Seine revolutionären Management-Ansätze veröffentlichte er in seinem Bestseller »Reinventing Organizations«. Heute ist er ein international gefragter Gesprächspartner, der seinen Gegenentwurf auch persönlich vorlebt. Laloux lebt im Ecovillage Ithaca im US-Bundesstaat New York und verbringt viel Zeit mit seiner Familie. In seiner automatischen E-Mail-Antwort lesen wir: »Wenn Sie mich um einen Vortrag oder eine Beratung bitten und innerhalb einer Woche keine Antwort bekommen, betrachten Sie dies bitte als die höflichste Form, die ein Nein haben kann.«
Interview: Egon Zehnder ∙ Fotos: Freunde von Freunden / FvF Productions