„Langfristige Herausforderungen meistern“
Euro, Demographie, Migration, Energiewende – Ein Gespräch zu Zukunftsthemen unserer Zeit zwischen Prof. Hans-Werner Sinn und Ulrich Deppendorf
Hans-Werner Sinn und Ulrich Deppendorf diskutieren wirtschaftspolitische Zukunftsfragen (München, 23. Januar 2017). Dauer: 1 Stunde und 11 Minuten.
Ulrich Deppendorf im Gespräch mit Hans-Werner Sinn
Ulrich Deppendorf: Herr Professor Sinn, Ihr Buch heißt Schwarzer Juni. Gäbe es nicht auch einen Titel Schwarzer November oder Schwarzer Januar, wenn wir an die Amtseinführung von Donald Trump denken? Hans-Werner Sinn: Das Buch habe ich im Sommer 2016 aus einer inneren Erregung Ende Juni geschrieben. Es ging um die Brexit-Abstimmung am 23. Juni und um die Entscheidung des deutschen Verfassungsgerichts, das sich dem EuGH in der OMT-Frage unterworfen hatte, zwei Tage vorher. Sie erinnern sich, Karlsruhe urteilte, die Europäische Zentralbank darf den Inhabern der Staatspapiere der Krisenländer versprechen, vor einem Konkurs dieser Länder die Papiere unbegrenzt abzukaufen, um die Verluste selbst zu übernehmen. Donald Trump hätte ich gerne noch eingebaut, aber ich musste das Buch schon im September abgeben.
Ulrich Deppendorf: Herr Trump hat am Tag seiner Amtsübernahme nicht nur eine bemerkenswerte Rede gehalten, er hat gleich darauf angekündigt, noch am selben Tag zwei Freihandelsabkommen zu kündigen. Es scheint, dass dieser Präsident vom Protektionismus überzeugt ist. Kann das auf Dauer gutgehen?
Hans-Werner Sinn: Es ist natürlich nicht gut. Aber ja, wir haben immer wieder Wellen der Globalisierung gehabt. Im 19. Jahrhundert ging die Globalisierung schon ziemlich weit. Zwischen den Weltkriegen wurde alles rückabgewickelt, und nach 1945 war dann wieder die Globalisierung angesagt. Insbesondere seit dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989/90 ging das richtig los. Jetzt gibt es eine Rückwärtsbewegung. Ich sehe das nüchtern. Die Welt wird nicht untergehen. Trump reagiert auf die Verteilungsprobleme durch die Globalisierung, denn das ist ja das Paradoxon: Handel schafft Wohlfahrtsgewinne für alle beteiligten Länder, aber nicht für alle Menschen in diesen Ländern, weil es den sogenannten Faktorpreisausgleich gibt. Das Kapital geht dahin, wo niedrige Löhne sind. Außerdem spezialisieren sich die Niedriglohngebiete auf arbeitsintensiv produzierte Güter, während die Hochlohngebiete sich auf kapital- und wissensintensiv produzierte Güter konzentrieren. Dann ziehen die Löhne in den Niedriglohnländern an, und in den Gebieten mit höheren Löhnen werden sie nach unten gedrückt. Es gibt also auch Verlierer.
„Man braucht einen Sozialstaat, um die Verlierer zu kompensieren, denn die Gewinne der Gewinner sind regelmäßig größer als die Verluste der Verlierer.“ - Hans-Werner Sinn
Ulrich Deppendorf: Sie haben Bezug genommen auf die Geschichte von protektionistischen Maßnahmen, die in den 20er und 30er Jahren zu kriegerischen Auseinandersetzungen geführt haben.
Ich will nicht die Zukunft ganz schwarz malen, aber ausschließen kann man das ja nicht, wenn man sich China anguckt, das genau das Gegenteil von dem will, was Trump propagiert.
Hans-Werner Sinn: China ist der große Globalisierungsgewinner, mit den niedrigen Löhnen kam es prima ins Geschäft, seine Massenkaufkraft hat sich gesteigert. Das ist der gegenteilige Effekt zu dem, was wir im Mittleren Westen der USA sehen, wo die Menschen in den Industriebrachen sehr unzufrieden sind. Ähnlich in Großbritannien. Der Brexit hat viel mit den Verlierern der Globalisierung zu tun. Man braucht einen Sozialstaat, um die Verlierer zu kompensieren, denn die Gewinne der Gewinner sind regelmäßig größer als die Verluste der Verlierer.
Ulrich Deppendorf: Aber Trump will Zölle erheben auf möglichst viele Waren, die nicht in den USA hergestellt werden. Es gibt Institute, auch das Ifo gehört dazu, die gesagt haben, das werde die US-Wirtschaft schwächen.
Hans-Werner Sinn: Zölle für sich genommen schwächen die Wirtschaft in der Tat. Aber die 35 Prozent, die Trump erwähnte, sind kein Zoll. Sie sind der Körperschaftsteuersatz, die USA wollen ein System der Cash-Flow-Besteuerung mit Sofortabschreibung einführen. Eine Cash-Flow-Steuer zusammen mit einer Lohnsteuer ist in der Summe so ähnlich wie eine Konsumsteuer. Dazu gehört zwingend der Grenzausgleich, das heißt, man muss die Importe nachbesteuern, und diese besteuerten Importe gehen dann an die Konsumenten. Das ist aber keine Diskriminierung, wie es häufig kolportiert wird, denn amerikanische Konsumgüter unterliegen exakt der gleichen Besteuerung. Das neue Steuersystem wäre besser als das alte, und es würde der US-Wirtschaft einen Schub bringen.
Ulrich Deppendorf: Was raten Sie deutschen Unternehmen?
Hans-Werner Sinn: Ich würde ruhig bleiben. Natürlich hat dies einen handelsumlenkenden Effekt, nur, Amerika hat ja flexible Wechselkurse. Als Ökonom kann ich mir nicht vorstellen, dass eine sogenannte fiskalische Abwertung, wie sie Trump vorhat, nicht wenigstens teilweise durch eine Aufwertung des Dollar konterkariert wird.
Im Übrigen würde Einfuhrsteuer nur für Konsumgüter gelten und nicht für Investitionsgüter, die ja der Sofortabschreibung unterliegen und insofern beim Käufer sofort wieder zurückerstattet werden. Damit ist der deutsche Maschinenbau fein raus. Er wird von der Steuer vollständig verschont und profitiert von der Dollar-Aufwertung, die durch den Grenzausgleich bei den Konsumgütern hervorgerufen wird.
Ich kenne zufällig die Historie: Die Vorschläge gehen zurück auf die Blueprint for Economic Tax Reform aus dem Jahre 1977. Das ist im Grunde dasselbe wie eine Mehrwertsteuer. Die hat auch einen Grenzausgleich. Wir Europäer können den Amerikanern nicht sagen, sie dürften so etwas nicht einführen. Das ist genau derselbe Vorgang: Die Investitionen sind steuerfrei, die Importe werden belastet, die Exporte werden freigestellt.
Die beste Reaktion unsererseits ist, entweder auch eine Cash-Flow-Steuer einzuführen oder die Einkommensteuer zurückzufahren und die Mehrwertsteuer auszudehnen.
Ulrich Deppendorf: Sie sagen, wir sollen hier in Europa praktisch das Pendant einführen?
Hans-Werner Sinn: Ja, das habe ich schon in den 1980er Jahren propagiert. Das ist kein Protektionismus, das geht auch nach dem GATT, dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen der WTO. Die Amerikaner haben derzeit Zölle im Schnitt von 2,5 Prozent. Im Rahmen der GATT-Regeln gibt es keine Möglichkeit, höher zu gehen. Aber das GATT sieht ausdrücklich den Grenzausgleich bei konsumorientierten Steuern vor, sodass diese Cash-Flow-Steuer sehr wohl mit dem GATT kompatibel ist.
Ulrich Deppendorf: Also jetzt noch stärker gegen Amazon, Apple und andere amerikanische Unternehmen steuerlich vorgehen, die in Europa Geschäfte machen?
Hans-Werner Sinn: Ihre Verkäufe unterliegen ja bereits der deutschen Mehrwertsteuer.
Ulrich Deppendorf: Glauben Sie, dass Europa die Kraft hat, gemeinsam dem Angriff von Herrn Trump zu widerstehen? Wenn Sie Frau Merkel wären, was würden Sie jetzt empfehlen?
Hans-Werner Sinn: Erst mal abwarten, was die Amerikaner wirklich machen. Es könnte ja sein, dass die Reagan’sche Tax Reform von 1981 wiederholt wird. Er hat es nicht gewagt, den vollen Schritt zur Cash- Flow-Steuer einzuführen, sondern sich darauf beschränkt, im Rahmen der Körperschaftsteuer die Abschreibungen zu beschleunigen, fast bis hin zur Sofortabschreibung. Damit hat er einen Investitionsboom ausgelöst und die Zinsen nachfrageseitig erhöht. Man muss dann vielleicht mit ähnlichen Maßnahmen in Europa reagieren. Wir haben im deutschen Steuersystem einen gewissen Instrumentenkasten zur Verfügung, und wenn man das symmetrisch macht, kann man die Effekte weitgehend neutralisieren.
Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, hat Finanzminister Wolfgang Schäuble gesagt. Er hat absolut recht.
Ulrich Deppendorf: Viele sagen, Europa ist der kranke Mann der Weltwirtschaft. Sagen Sie das auch?
Hans-Werner Sinn: Ja, Südeuropa und Frankreich.
Ulrich Deppendorf: Das ist interessant!
Hans-Werner Sinn: Ja, Südeuropa steckt in einer tiefen Wettbewerbskrise. Italiens Industrieproduktion liegt um 21 Prozent unter dem Vorkrisen-Niveau des Jahres 2007. Spanien um 24 Prozent, ebenso Griechenland. Frankreich liegt um 17 Prozent darunter.
Ich glaube nicht, dass sie in absehbarer Zeit wieder auf das Niveau von 2007 kommen. Und der Trend zur Deindustrialisierung in Frankreich geht seit Jahrzehnten. Die Kinder der Industriearbeiter wurden beim Staat beschäftigt, da sind 25 Prozent der Erwerbsbevölkerung beschäftigt. Bei uns arbeiten 12 Prozent beim Staat. Der Staat gibt den Leuten einen Schreibtisch und irgendeine Aufgabe, und der Lohn, der ihnen ausgezahlt wird, ist Sozialprodukt. Essen können Sie nicht, was diese Leute produzieren.
Ulrich Deppendorf: Nur, was machen wir jetzt? Wolfgang Schäuble und andere sagen, wir müssten zurück zu einem Kern-Europa. Der Historiker Herfried Münkler hat vorgeschlagen, wir müssten Europa aufteilen in Nord-, Süd- und Mitteleuropa, und diese Zonen müssten versuchen, eine Art Wirtschaftsunion zu bilden.
Hans-Werner Sinn: Es ist der alte Vorschlag von Olaf Henkel, dass man einen Nord- und einen Süd-Euro macht. Dafür spricht ja schon was, ökonomisch. Nur, politisch spricht dagegen die Achse Deutschland-Frankreich. Das ist das Problem. Die ganze Nachkriegsordnung basiert darauf. Deswegen können wir Frankreich nicht fallen lassen.
„Es wird nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wird, hat Finanzminister Wolfgang Schäuble gesagt. Er hat absolut recht.“ - Hans-Werner Sinn
Das ist auch der Grund für die Rettung Südeuropas: Da sitzen die Kunden der französischen Banken und Firmen. Mit all diesen Rettungsschirmen und den Aktivitäten der EZB retten wir Frankreich. Das steckt dahinter. Aber retten wir die Südeuropäer? Ich glaube nicht, denn wir halten sie dauerhaft abhängig in einer Situation, wo sie total überteuert sind. Die Eurokrise ist ja dadurch entstanden, dass der Euro ihnen die Möglichkeit gab, sich billig zu verschulden. Und dann haben sie sich verschuldet, um die Gehälter der Staatsbediensteten zu erhöhen in Griechenland, oder um Häuser zu bauen in Spanien, was die Löhne im Bausektor angehoben hat.
Dadurch kam eine gewaltige Wirtschaftsblase zustande, eine inflationäre Kreditblase mit ausländischem Kredit, durch die die Länder viel zu teuer wurden. Jetzt hängen sie mit ihren Preisen da oben im Himmel, und keiner will mehr ihre Produkte kaufen.
Wir können jetzt Transfers zahlen. Emmanuel Macron, der gute Aussichten hat, Frankreichs Präsident zu werden, der will das ja: einen europäischen Finanzminister mit einem fest etablierten Finanzausgleich von Nord nach Süd, um die fehlende Wettbewerbsfähigkeit auszugleichen. Oder wir bitten die Südländer, wieder billiger zu werden. Dazu braucht man eine Deflations-Austeritäts-Politik. Daran kann eine Gesellschaft zerbrechen. Oder wir inflationieren Deutschland. Das versucht die EZB mit Mühe. Oder es gibt Austritte mit Abwertungen. Mehr Möglichkeiten gibt es nicht.
„Aber retten wir die Südeuropäer? Ich glaube nicht, denn wir halten sie dauerhaft abhängig in einer Situation, wo sie total überteuert sind.“ - Hans-Werner Sinn
Ulrich Deppendorf: Macron sagt, wir brauchen mehr Europa und vielleicht sogar eine Transfergesellschaft. Die ist in Deutschland immer abgelehnt worden, aber ist das vielleicht der einzige Weg, um diesen Kontinent zusammenzuhalten?
Hans-Werner Sinn: Nein. Ich glaube, das wird ihn zerstören.
Ulrich Deppendorf: Weil Deutschland nicht mitmacht?
Hans-Werner Sinn: Es überfordert Deutschland. 40 Prozent der Bevölkerung der Eurozone wohnt in den Krisenländern, selbst wenn ich Frankreich nicht mitrechne. Da müssen also 60 Prozent die 40 Prozent finanzieren. Die Vorstellung, das sei machbar, ist absurd.
Zweitens: Selbst wenn es gemacht wird, hängen die anderen Länder dauerhaft am Tropf. Wir haben dann ein Mezzogiorno-Problem, das heißt, eine Region hat Löhne, die nicht der Produktivität entsprechen. Damit ist sie zu teuer und muss durch Transfers erhalten werden. Und weil diese Transfers kommen, tun die Länder auch nichts, sie bleiben zu teuer und kommen da nie wieder raus.
Ulrich Deppendorf: Sie fordern in Ihrem Buch neue EU-Verträge. Wie sollen die aussehen?
Hans-Werner Sinn: Ich würde erst mal einen flexiblen Euro haben wollen, eine atmende Währungsunion.
Ulrich Deppendorf: Was heißt das?
Hans-Werner Sinn: Das heißt, der Euro ist kein Gefängnis. Wenn man nicht zurechtkommt, kann man temporär auch wieder raus. Man kann abwerten, wettbewerbsfähig werden und nach 10 Jahren zum neuen Wechselkurs vielleicht wieder rein. Das hat Wolfgang Schäuble vor anderthalb Jahren für Griechenland vorgeschlagen. Das war genau richtig. Und dann müssen wir ein System härterer Budgetbeschränkungen machen. Im Moment sozialisieren wir alles. Wir stehen gemeinsam ein für die Staatsschulden der südlichen Länder, dadurch haben Investoren halbwegs Zutrauen in Papiere, die dort emittiert werden. Die Länder können sich dann aber zu niedrigen Zinsen neu verschulden und tun das auch.
Die Bundeskanzlerin setzt den Stabilitäts-, Wachstums- und Fiskalpakt dagegen. Aber Sie sehen ja, was passiert: Der wird nicht respektiert.
Der Fiskalpakt sagt, dass jedes Jahr die Schuldenquote um 1/20 des Abstandes zu 60 Prozent schrumpfen soll. Doch überall explodieren die Schuldenquoten, und der alte Stabilitäts- und Wachstumspakt von Theo Waigel wird auch nicht eingehalten.
Das heißt, wir versuchen etwas Unmögliches. Wir schaffen implizite Eurobonds durch diese Rettungsarchitektur. Wir drücken die Spreads und erwarten, dass die Länder, die in Not sind, das nicht ausnutzen. In Wahrheit kommen wir in eine Verschuldungslawine, durch die die Länder Europas in Gläubiger-Schuldner-Verhältnisse geraten. Das ist das Rezept für maximalen Streit.
Schauen wir doch mal in die USA, als Alexander Hamilton 1791 die Schulden der Einzelstaaten zu Bundesschulden gemacht hat. Er sagte zu Recht, die Schulden seien durch den Krieg gegen England entstanden. Da entstand die Haltung: „Schulden sind doch eine schöne Sache.“ Man kriegt das Geld, kann in Infrastruktur investieren, und der Bund zahlt zurück. Dann haben die Staaten sich verschuldet bis zum Gehtnichtmehr. Erst gab es eine keynesianische Wirtschaftsblase, dann platzte sie. Von 1837 bis 1842 sind neun von 29 amerikanischen Staaten und Territorien pleitegegangen. Nichts außer Streit und Hass ist aus der Schuldensozialisierung entstanden.
Es gibt sogar einen Historiker aus Princeton, Harold James, der sagt, dass dies zu den Spannungen beitrug, die 1861 den Bürgerkrieg ausbrechen ließen. Erst danach haben die Amerikaner ihr striktes Regime der Eigenhaftung gehabt: No Bailout! Das haben wir dann auch in den Maastrichter Vertrag eingetragen, haben es aber nicht respektiert. No Bailout ist das amerikanische Prinzip. Kalifornien, Minnesota, Illinois sind am Rande der Pleite, und es hilft keiner. Die FED kauft kein einziges Staatspapier dieser Staaten.
Ulrich Deppendorf: Wir erleben es zum Teil schon, dass Bayern nicht so gerne Hamburg hilft oder umgekehrt.
Hans-Werner Sinn: Genau, in Deutschland haben wir das auch, aber wir reden vor allem über Bremen und das Saarland. Zum Glück sind das kleine Gebiete, das können wir uns gerade noch leisten.
Ulrich Deppendorf: Würde ein europäisches Finanzministerium Abhilfe schaffen?
Hans-Werner Sinn: Nein. Das macht das Ganze noch schlimmer. Für mich wäre das der zweite große Fehler nach dem Euro. Die Vorstellung der Politik ist, dieses Finanzministerium könnte die Budgets kontrollieren und verhindern, dass Länder sich verschulden.
„Ich will nicht den Euro abschaffen, aber ich glaube, man muss schon ein Masochist sein, wenn man heute der Meinung ist, die Einführung des Euro wäre eine gute Sache für Europa gewesen.“ - Hans-Werner Sinn
Naiv, kann ich dazu nur sagen. Denn gleichzeitig fließt erst mal eine Menge Geld vom einen zum anderen Land. Die Beobachtung der EU während der letzten Jahre hat mir den letzten Funken Hoffnung genommen, dass es möglich sein wird, in Brüssel eine wirksame Budgetaufsicht zu etablieren. Das sind alles nur Beruhigungspillen für die Deutschen, damit sie ihr Portemonnaie lockermachen.
Ich will nicht den Euro abschaffen, aber ich glaube, man muss schon ein Masochist sein, wenn man heute der Meinung ist, die Einführung des Euro wäre eine gute Sache für Europa gewesen. (Applaus)
Ulrich Deppendorf: Und wie können wir ihn dann retten?
Hans-Werner Sinn: Durch eine flexible Mitgliedschaft statt flexibler Budgetschranken. Jeder muss mit dem Geld auskommen, das er selber verdient hat. Er kann sich nicht an die Gemeinschaft wenden. Und wenn er wettbewerbsmäßig nicht zurechtkommt, hat er die Wahl: entweder harte Austeritätspolitik im Euro oder, wenn das der Bevölkerung nicht zumutbar ist, dann Austritt und Abwertung.
Dann habe ich innerhalb von einem Jahr den Wirtschaftsaufschwung, denn die Leute kaufen nicht mehr die teuren Importprodukte, sondern heimische Ware, und die Investoren aus aller Welt kommen zurück ins Land, weil Land, Gebäude und Arbeitskräfte so billig geworden ist. Ulrich Deppendorf: Für Sie ist also der Brexit ein Hoffnungsschimmer? Hans-Werner Sinn: Der Brexit ist ja etwas anderes. Die waren ja gar nicht im Euro.
„Es ist deutscher Selbstschutz, die Briten großzügig zu behandeln.“ - Hans-Werner Sinn
Ulrich Deppendorf: Das ist klar. Aber insgesamt?
Hans-Werner Sinn: Nein, das ist kein Hoffnungsschimmer. Ich halte es für einen großen Fehler, dass die Briten austreten, aber wir müssen irgendwie damit leben.
Dieses Gerede vom Rosinenpicken in Brüssel und auch bei den Kandidaten um das deutsche Kanzleramt finde ich schrecklich, weil gesagt wird: Die Briten könnten alles haben oder nichts. Wenn sie keine Freizügigkeit für Menschen wollen, gibt es auch keinen Freihandel. Aber ökonomisch ist es genau umgekehrt. Eigentlich sind gerade dann, wenn keine Freizügigkeit für Menschen gewährt ist, die Wohlfahrtsgewinne aus dem Freihandel besonders groß. Das spricht dafür, dass man den Briten beim Freihandel großzügig gegenübertreten sollte.
Ein Zweites kommt hinzu: Es gibt zwei Versionen, wie man so eine Föderation aufbauen kann. Einmal ist es ein System, das auf Freiwilligkeit basiert: Entscheidungen werden nur getroffen, wenn es keine Verlierer gibt. Das heißt, jede Entscheidung in Brüssel macht den Kuchen größer, weil sie sonst nicht getroffen würde.
In der anderen Version wird von der einen zur anderen Ecke umverteilt, es gibt Gewinner und Verlierer. Und hier können Entscheidungen getroffen werden, wo eine politische Mehrheit gewinnt, obwohl sie weniger gewinnt, als die Verlierer verlieren. Ein solches System ist inhärent instabil, weil die Nettozahler gerne ausbüchsen würden – wie Großbritannien –, und irgendwann zerbricht dieses Gebilde. Das halte ich für den falschen Weg. Wir müssen eine EU schaffen, die sich auf sogenannte paretoverbessernde Maßnahmen reduziert, wo also wirklich klar ist, dass der Kuchen größer wird und keiner Nachteile hat. Das ist auch im deutschen Sinne notwendig, weil wir ja die Nettozahler sein werden. Es ist deutscher Selbstschutz, die Briten großzügig zu behandeln, denn dann müssen die anderen wie z. B. Herr Macron wissen: Wenn sie es mit ihrer Umverteilung übertreiben, laufen sie Gefahr, dass auch noch andere ausbüchsen. Es liegt im Interesse Deutschlands, diese Austrittsoption zu haben. Man muss sie nicht hart spielen. Es reicht, wenn die anderen wissen, dass sie existiert. Das hilft dann schon sehr.
Ulrich Deppendorf: Es gibt seit vielen Jahren die Behauptung, die einzigen, die vom Euro profitiert hätten, seien die Deutschen. Müssen die Deutschen dann nicht, wenn sie für dieses Europa sind, noch ein bisschen mehr dafür tun? Runter von der Schuldenbremse?
Hans-Werner Sinn: Richtig ist, dass die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist. Das liegt daran, dass Deutschland im Euro unterbewertet ist, während die anderen überbewertet sind – sie wurden zu teuer. Und dann ist auch der Euro noch unterbewertet. Die OECD Kaufkraftparität liegt bei 1,29, und der Euro ist jetzt bei etwa 1,04. Der Euro ist also um fast 20 Prozent unterbewertet. Außerdem sind wir im Euro zu billig. Ich glaube, Deutschland ist insgesamt etwa um ein Drittel unterbewertet. Dann laufen natürlich die Geschäfte.
Aber: Das Resultat ist ein riesiger Leistungsbilanzüberschuss. Und was kaufen wir uns dafür? Irgendwelche Finanzprodukte, die man uns eines Tages, wenn wir die Rückzahlung verlangen, vielleicht um die Ohren schlagen wird.
Die Hälfte des Netto-Auslandsvermögens der Bundesrepublik Deutschland besteht aus bloßen Ausgleichsforderungen der Bundesbank, weil sie viele der Zahlungen kreditiert hat. Diese Target-Salden betrugen zuletzt 814 Milliarden Euro, ein historischer Höchststand. Ich bin mir nicht sicher, ob wir das jemals zurückkriegen.
Ulrich Deppendorf: Er hat mir heute Mittag schon von Target-Schulden erzählt. Die sind ein Hobby von ihm, darüber könnten wir noch den ganzen Abend reden.
Hans-Werner Sinn: Mario Draghi hat gerade ein Interview gegeben: Wenn Italien aus dem Euro austritt, sollten sie sich mal nicht einbilden, sie müssten das nicht bezahlen; das würde sofort fällig gestellt. Was er vergessen hat zu sagen, ist dass die Zentralbanken des Südens gar nicht zahlen können, wenn sie austreten, weil sie dann pleite sind.
Ulrich Deppendorf: Apropos Draghi: Die Anleihenkäufe sollten jetzt aufhören?
Hans-Werner Sinn: Es ist natürlich schwer auszusteigen. Der ganze Vorgang ist für meine Begriffe unrechtmäßig. Aber der EuGH sieht das anders, und das Bundesverfassungsgericht hat sich dem EuGH unterworfen, obwohl es vor 2 Jahren genau das Gegenteil gesagt hat. Da hat es gesagt, die EZB darf diese Papiere gar nicht kaufen, weil Artikel 123 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union eine Monetisierung der Staatsschuld verbietet. In dem langen Text steht eine lange Liste von Krediten der Zentralbank, die verboten sind. Und dann ganz am Ende steht unscheinbar noch da: Auch der direkte Erwerb von Staatspapieren sei verboten. Als Laie ist man beruhigt, doch der Jurist schließt daraus, dass indirekte Käufe erlaubt sind. Darauf basiert die ganze europäische EZB-Politik. Das kann doch nicht sein! Das ist ein Umgehungstatbestand. Doch der EuGH sieht das anders, und Karlsruhe hat sich nicht getraut, eine Gegenposition aufrechtzuerhalten.
Ulrich Deppendorf: Das Weltwirtschaftsforum in Davos hat sich relativ kritisch mit den Auswüchsen des Kapitalismus beschäftigt. Man spürte deutlich, wir müssen in der Bekämpfung der Armut viel mehr tun. Hieße das nicht auch – jetzt komme ich wieder auf Deutschland –, die Schuldenbremse zu lockern, um dort mehr zu investieren und Ländern in Afrika auch andere Handelsbeziehungen bieten zu können?
Hans-Werner Sinn: Warum die Schuldenbremse lockern in einer Situation, wo wir Vollbeschäftigung haben? Das folgt aus keinem Lehrbuch, noch nicht einmal aus einem keynesianischen. (Gelächter/Applaus)
„Warum die Schuldenbremse lockern in einer Situation, wo wir Vollbeschäftigung haben? Das folgt aus keinem Lehrbuch.“ - Hans-Werner Sinn
Ulrich Deppendorf: Die Forderung von Politikern oder Wissenschaftlern lautet: Wir müssen versuchen, Standards in diesen Ländern anzuheben, sonst kommen wir in eine ganz, ganz schwere globale Krise hinein.
Hans-Werner Sinn: Wenn wir mehr Entwicklungshilfe geben wollen, heißt das doch nicht, dass wir uns dafür verschulden sollten. Wenn, dann sollte man Steuermittel verwenden. Doch ist die Entwicklungshilfe häufig kontraproduktiv, weil sie die Eigeninitiative erlahmen lässt. Viel besser ist es, die Zollschranken gegenüber den Entwicklungsländern abzubauen. Die EU erhebt sehr hohe Zölle auf Agrarprodukte. Das schadet den Entwicklungsländern mehr, als die Entwicklungshilfe nützt. Freihandel ist gut für die Entwicklungsländer, weil sie mit ihren niedrigen Löhnen ins Geschäft kommen. Man kann das auch messen: Der Anteil der Menschen auf der Welt, die unter der Ein-Dollar-Irgendwas-, unter der Artmutsgrenze der OECD liegen, ist in den letzten zwei Jahrzehnten von 40 Prozent auf 15 Prozent runtergegangen oder so ähnlich.
Es hat also eine dramatische Verbesserung der Weltverteilungssituation gegeben. All diese ehemals kommunistischen Länder, China, Indien, sind durch die Globalisierung in einen Aufschwung gekommen, die Massen haben davon profitiert. Aber der gleiche Effekt, der die Löhne in diesen Ländern hochzieht, ist der Effekt, der die Löhne in Amerika gedrückt hat. Deswegen sind die Chinesen glücklich und die Amerikaner unglücklich. Wir haben ein Paradoxon. Weltweit ist die Ungleichheit zurückgegangen, innerhalb der Länder hat sie zugenommen, und das wirkliche Problem liegt in Amerika, in anderen Ländern, auch in Frankreich, wo doch die Arbeiterschaft jetzt mit diesem Niedriglohndruck aus der ganzen Welt nicht mehr so richtig zurechtkommt. Deutschland hat sich hier noch gerettet: etwa durch die doppelte Abwertung des Euro und die Schröder’schen Reformen und die deutsche Ingenieurskunst, die sich auf den Weltmärkten voll ausspielen konnte. Wir sind prima im Geschäft.
Ulrich Deppendorf: Liebe Gäste, jetzt haben Sie Gelegenheit, Ihre Fragen zu stellen. Ich sehe Massen von Fragen.
Frage aus dem Publikum
Herr Professor Sinn, Ihre letzten Ausführungen waren die spannendsten. Trump sagt ja, durch den Freihandel sind in den USA die Löhne unter Druck gekommen. Was ist denn die Lösung?
Hans-Werner Sinn: Trump sucht die klassische Lösung: Protektionismus. Er kann dadurch tatsächlich Jobs in Amerika halten und die Nachfrage nach den Leistungen der Industriearbeiter hochziehen und den Einkommensverfall dieser Leute stoppen. Nur ist das nicht der richtige Weg, weil er dann den Lebensstandard der Bürger ganz allgemein senkt, die nun die teuren amerikanischen Waren kaufen müssen. Es ist besser, einen Sozialstaat einzuführen, um die Verlierer zu kompensieren.
Aber das Problem ist groß, man kann es nicht einfach kleinreden. Wir haben seit drei Jahrzehnten keine Reallohnsteigerungen mehr in Amerika. Die Leute müssen zwei oder drei Jobs haben, damit sie zurechtkommen.
Ulrich Deppendorf: Wie sehen Sie das in Deutschland?
Hans-Werner Sinn: Hier ist das nicht so. Wir haben zwar eine gewisse Lohnzurückhaltung gehabt, aber die hat auch zu einer Preiszurückhaltung geführt, sodass erstaunlicherweise die Einkommensverteilung seit Schröders Reform nicht ungleicher geworden ist. Man hätte das ja vermutet. Wir wollten ja damals einen Niedriglohnsektor. Die Mindestlohnschranke, die im Sozialstaat lag, sollte beseitigt werden. Die Leute haben weniger Geld fürs Wegbleiben gekriegt. Die Arbeitslosenhilfe wurde von Schröder beseitigt, die Leute wurden runtergestuft auf die Sozialhilfe. Und dann hat er noch ein Lohnzuschusselement in diesen Sozialhilfetarif eingeführt, Hartz IV. Also mehr fürs Mitmachen, weniger fürs Wegbleiben. Das hat die Löhne am unteren Rand gegen den Trend gerechnet gesenkt, und die Folge war, dass sich wieder mehr Geschäftsmodelle lohnten. Es gab die Jobs. Man hätte jetzt gedacht, das macht auch mehr Ungleichheit. Tat es aber nicht, weil viele Leute, die vorher als Arbeitslose darbten, nun ein kleines Lohneinkommen hatten und noch Hartz-IV-Zuschüsse dazubekamen.
Ulrich Deppendorf: Es gibt natürlich schon Fälle in Deutschland, die so ähnlich sind wie in den USA: Die Leute haben zwei bis drei Jobs. Das kann man nicht übergehen.
Hans-Werner Sinn: Deutschland hat einen der am besten entwickelten Sozialstaaten, das kann man messen. Wenn Sie die OECD-Statistik nehmen und den Gini-Koeffizient für die Bruttoverteilung und die Nettoverteilung, dann ist die Differenz ein Maß für die staatliche Umverteilung. Demnach liegt Deutschland auf dem dritten Platz aller OECD-Länder, aber vor den anderen großen Ländern. Unser Sozialstaat löst in der Tat das Problem.
Frage aus dem Publikum
Herr Professor Sinn, man spricht ja von sogenannten armen Staaten in Südeuropa. Gleichzeitig gibt es zunehmend Statistiken, nach denen der deutsche private Haushalt um die Faktoren zwei bis drei ärmer ist als zum Beispiel in Griechenland, Spanien oder Italien. Muss man das nicht gesamtheitlich sehen? Denn man hat den Eindruck, dass im Süden die privaten Haushalte ihren Staat nicht finanzieren wollen. Ist das ein falscher Eindruck, oder hat sich damit noch keiner beschäftigt?
Hans-Werner Sinn: Nein, nein, der Eindruck ist ja richtig. Die EZB hat ja diese Umfrage jetzt schon zum zweiten Mal gemacht. Bei der ersten Umfrage hatte der deutsche Median-Haushalt 50.000 Euro. Jetzt hat er 60.000 Euro. Die Italiener, Spanier und so weiter liegen bei 170.000 bis 180.000 Euro. Die Durchschnittswerte sind nicht so stark unterschiedlich, weichen aber auch noch stark von den deutschen Werten ab.
Es liegt daran, dass die Wohneigentumsquote groß ist – das ist die eine Interpretation. Die andere ist die: Im Süden und im Norden hat der Staat den Leuten Geld abverlangt für seine Ausgaben. Nur, im Süden hat er ihnen dafür Schuldscheine gegeben, im Norden nicht. Die Schuldscheine zählen mit zum Vermögen der Haushalte. Aber wenn man die Schuld des Staates auf die Bürger umlegt, dann sind sie doch nicht so viel besser. Nur angesichts der Schulden finden sie nun, dass die Steuerzahler anderer Länder dafür mit aufkommen müssen.
„Nullzinsen führen ja zu einer Zombie-Ökonomie. Zombies sind Scheintote, die da noch rumgeistern, aber eigentlich in den Sarg gehören.“ - Hans-Werner Sinn
Frage aus dem Publikum
Sind wir Deutschen machtlos?
Hans-Werner Sinn: Den verschuldeten Ländern zu helfen und bei den Bürgern nicht zuzufassen, das ist falsch. Die Italiener können ihr Schuldenproblem sehr wohl lösen. Die Schuldenquote ist bei 133 Prozent, die Italiener sind reich, alle haben sie tolle Immobilien, wo wir Deutschen uns nur wundern können. Und man kann die ohne Weiteres mit einer Immobiliensteuer belasten. Aber weil 80 Prozent der Leute Immobilien haben, kommt das politisch nicht. Da sucht man eher andere Mechanismen, die die Steuerzahler anderer Länder zu Kasse bitten. Einer ist jetzt die große Aufkaufaktion der Europäischen Zentralbank. Die Banca d’Italia kauft die Papiere des italienischen Staates auf der ganzen Welt zusammen. Damit sind das dann keine Staatsschulden mehr bei den Privaten. Es sind dann nur noch Schulden bei dieser Banca d’Italia. Und sollte es mal knallen, geht die Banca d’Italia pleite. Das kann sie ohne Weiteres. Das ist eine private Einrichtung, der Staat hat keine Nachschusspflicht. Sie hätte beim Austritt aus dem Euro nur noch Lira-Forderungen gegen ihre Banken und Target-Schulden gegenüber dem Eurosystem. Sie kann sie nicht erfüllen, geht pleite, und der Rest des Eurosystems, allen voran die Bundesbank, schaut in die Röhre.
Ulrich Deppendorf: Hätten Sie mehr Widerstand von Bundesbankpräsident Weidmann erwartet?
Hans-Werner Sinn: Er hat ja Widerstand geäußert. Seit 2010 ging praktisch jede Entscheidung gegen das explizite Votum der Bundesbank. Herr Weidmann tritt nur nicht zurück wie sein Vorgänger Axel Weber oder der Chef-Volkswirt der EZB, Jürgen Stark, sondern er bleibt dabei, weil er glaubt, dann käme nur der Nächste, und das Spiel ginge so weiter. Bei der letzten Sitzung des EZB-Rates konnte Herr Draghi stolz verkünden, es hätte keine Gegenstimme gegeben. Herr Weidmann war nicht stimmberechtigt.
Frage aus dem Publikum
Herr Professor, vor 25 Jahren haben Sie den Studenten an der Universität Passau in einem Vortrag beigebracht, viele Fehlallokationen in den neuen Bundesländern seien durch den negativen Preis des Kapitals entstanden. Welche Fehlallokation sehen Sie im Augenblick? Wie groß ist die Gefahr einer Blase?
Hans-Werner Sinn: Nullzinsen führen ja zu einer Zombie-Ökonomie. Zombies sind Scheintote, die da noch rumgeistern, aber eigentlich in den Sarg gehören.
Ulrich Deppendorf: Die sind in der Filmindustrie aber ganz beliebt.
Hans-Werner Sinn: Durch Nullzinsen wird der Zusammenbruch verhindert. Die Zombies leben weiter, die Arbeitsplätze bleiben gesichert. Aber der Wandel, die schöpferische Zerstörung von Schumpeter, findet nicht statt. Denn das ist ja das normale Element einer kapitalistischen – ich sage es extra mit diesen Worten – Krise: Es gibt eine Blase, entstanden durch überhöhte Erwartungen. Immobilienpreise steigen zu schnell, die Binnenwirtschaft steigt zu schnell. Alles wird durch Kredit hochgetrieben, und irgendwann geht es knallhart runter. Dann kommt die Entwertungskrise, und auf den Ruinen der kaputten Firmen können Start-ups etwas Neues aufbauen.
So war es immer, bis Japan kam. Die Japaner haben es das erste Mal anders gemacht: 1990 haben sie die Blase nicht platzen lassen, sondern den Verfall der Assetpreise auf halbem Wege gestoppt: durch ihre Nullzinspolitik und ausufernde keynesianische Schuldenpolitik, die inzwischen die Schuldenquote von 60 Prozent auf 250 Prozent des BIP gehoben hat. Massive Staatsintervention! Dadurch blieben die Zombies am Leben, mit der Folge, dass Japan seit 25 Jahren nicht mehr wächst. Danach haben die Amerikaner es gemacht, und jetzt macht es die EZB. Es verhindert zwar die Krise, führt aber zu schleichendem Siechtum und verhindert, dass man da überhaupt jemals wieder rauskommt. Ich glaube, dass das echt gefährlich ist mit den Nullzinsen und Negativzinsen. Wir müssen so schnell wie möglich zu einer normalen Zinswelt zurückkehren, natürlich in geordneten Schritten.
Ulrich Deppendorf: Aber ist das nicht der einzige politische Weg, dieses Europa irgendwie auch zusammenzuhalten? Der Druck ist ja ziemlich groß.
„Ich halte es für falsch, den Euro unter allen Umständen zu retten.“ - Hans-Werner Sinn
Hans-Werner Sinn: Ich halte es für falsch, den Euro unter allen Umständen zu retten. Das führt zu so viel Verwerfungen und so viel Staatswirtschaft in Europa, dass wir mit diesem Eurogebiet, das da entsteht, nicht glücklich sein können.
Ich glaube indes nicht, dass der Euro zerbrechen muss. Ich kann mir vorstellen, dass Länder wie Italien und Frankreich schon die Kurve kriegen durch Reformen, aber wenn man ihnen eine Transferunion schafft, dann machen sie die Reformen nie. Wenn die Länder nicht bereit sind, dann geben wir den Euro halt wieder auf.
Der Euro ist zwar von großer Symbolkraft, aber wir sollten ihn nicht überhöhen, sondern sehen, was in Europa das Wesentliche ist. Wesentlich ist die EU, eine Freihandelszone. Ohne Zollschranken kann man in jede Richtung Waren verkaufen. Die EU war ein Riesenvorteil für Europa. Und der Euro droht, die EU zunehmend zu beschädigen. Das ist die Wahrheit.
Ulrich Deppendorf: Dennoch haben wir in Ländern wie Italien, Spanien oder Frankreich Arbeitslosigkeit von zum Teil 36 Prozent und mehr.
Hans-Werner Sinn: Ja. Das ist das Ergebnis des Euro.
Ulrich Deppendorf: Nur ist die Frage: Wie kommen wir da raus? Muss man nicht trotzdem Sozialleistungen in diesen Ländern noch stärker betonen? Wenn wir in Holland eine nationalistische Regierung bekommen oder Marine Le Pen in Frankreich, könnte es für Europa noch schwieriger werden.
Hans-Werner Sinn: Was wollen Sie denn mit dem Sozialstaat machen? Der kann ja keine Jobs schaffen. Der Sozialstaat kann die Arbeitslosen ernähren, die richten sich dann in der Arbeitslosigkeit ein. Und was ist mit Jugendlichen, denen Sie permanent Transfers geben? Die kommen nie in die Arbeitswelt hinein. Das wird ja eine verlorene Generation. Das kann nicht die Lösung sein.
Es ist viel besser, wenn man einen wettbewerblichen Weg sucht. Ich bin fest davon überzeugt: Hätte man Griechenland 2010 rausgelassen, dann hätten sie abgewertet mit einer kleinen Krise, aber im nächsten Jahr schon wäre der Aufschwung gekommen. Inzwischen wären die durch, und es wären Jobs für die jungen Leute in Griechenland da. Dieser Weg ist doch viel besser für die Stabilität Europas. Es geht nur über echte wirtschaftliche Gesundung.
Eine Transferökonomie ist keine Zukunftsvision für Europa. Sie ist eine Vision der Ängstlichen. (Applaus)
Frage aus dem Publikum
Herr Professor Sinn, für mich ist die Art und Weise extrem beunruhigend, wie man mit Verträgen umgeht. Wo soll das hinführen?
Hans-Werner Sinn: Ich sehe das genauso. Nehmen Sie Äußerungen aus Frau Merkels Kabinett zu Trump. Da wird beschworen, dass man ein regelgebundenes Weltsystem braucht, dass man sich an Vereinbarungen hält, dass man nicht ad hoc seinen Vorteil suchen darf und so weiter.
Und in Europa? Lauter Regelbrüche. Wir haben das Bailout-Verbot bewusst verletzt, Artikel 125 AEUV. Frau Lagarde hat zu den Entscheidungen vom Mai 2010 gesagt: Wir wussten, dass wir den Vertrag brechen, aber wir mussten es machen, um den Euro zu halten. Und dann Artikel 123, der die Monetisierung der Staatsschulden verbietet: in riesigem Umfang gebrochen. Wir haben Ende 2016 schon für 1.200 Milliarden Staatspapiere gekauft, dazu kommen 200 Milliarden vom SMP-Programm, einem EZB-Programm zum Ankauf von Staatsanleihen und privaten Anleihen. Also 1.400 Milliarden Staatspapiere. Dass das nicht passiert, war die deutsche Bedingung dafür, dass wir die D-Mark aufgegeben haben. Helmut Kohl hat im Bundestag sinngemäß gesagt: „Habt keine Angst, die bürden uns ihre Staatsschulden nicht auf. Das ist explizit ausgeschlossen“. Und jetzt? Alles Makulatur.
Oder nehmen Sie die Flüchtlingsfrage. Ich habe viel mit den ehemaligen Verfassungsrichtern Udo di Fabio und Hans-Jürgen Papier darüber gesprochen und die Gesetze gelesen. Im deutschen Asylrecht und im Grundgesetz, Artikel 16a, steht eindeutig: Es darf niemand die deutsche Grenze überschreiten, wenn er über ein sicheres Drittland kommt, um in Deutschland Asyl oder anderen Schutz zu verlangen. Er ist zurückzuweisen. Das steht da drin. Noch mal: Er ist zurückzuweisen. Und was machen wir? Wir lassen einfach Hunderttausende rein und sagen, egal, das interessiert uns nicht. Die Kanzlerin behauptet sogar, es gehe rechtlich nicht anders, weil es keine Obergrenze für Asyl gäbe. Das ist nicht wahr. Nach dem deutschen Recht ist die Obergrenze praktisch Null. Nur jemand, der uns über den Luftweg, die Nordsee oder die Ostsee erreicht, darf herein, um Asyl zu beantragen. Aber die Fluggesellschaften nehmen nur Leute mit Visa, und wie soll ein Flüchtling die beiden nördlichen Meere erreichen? Es wird entschieden, wie es im Moment opportun ist, und das Recht wird gebogen. Und so kann ein System tatsächlich nicht funktionieren.
Ulrich Deppendorf: Niemand hätte im September 2016 vor der Entscheidung stehen wollen, vor der die Bundeskanzlerin gestanden hat. Dass danach viel passiert ist und gerade im Fall des Attentäters vom Berliner Weihnachtsmarkt, Anis Amri, Behördenversagen erkennbar wird, ist etwas anderes.
Hans-Werner Sinn: Es ist ja auch zu tolerieren, dass sie das gemacht hat. Es gibt im Asylrecht eine Ausnahmeklausel. Das ist eigentlich ein Individualrecht, das hat sie auf eine Gruppe erweitert. Okay, nach Aussage der Verfassungsrichter kann sie das für ein paar Tage machen, aber nicht für eine längere Zeit. Sie hätte die Flüchtlinge aus Ungarn nehmen und erklären sollen, das ist eine Einmalaktion, jetzt wenden wir wieder das deutsche Asylrecht an. Das hat sie aber nicht getan.
Frage aus dem Publikum
Finnland überlegt, das bedingungslose Grundeinkommen einzuführen, 560 Euro, um das Sozialsystem zu vereinfachen. Was halten Sie davon?
Hans-Werner Sinn: Wenn wir jemanden hätten, der das bezahlt, dann fände ich das gut. Aber es ist unbezahlbar, Sie können das in Deutschland leicht ausrechnen. Man redet über 1.000 Euro pro Monat. Das sind bei der Bevölkerung, die wir haben, genau 1 Billion Euro. Der ganze Sozialetat, den wir haben, reicht nicht aus. Und wenn man das durch eine Mehrwertsteuer finanzieren wollte, bräuchte man einen Steuersatz von weit über 100 Prozent.
„Eine Transferökonomie ist keine Zukunftsvision für Europa. Sie ist eine Vision der Ängstlichen.“ - Hans-Werner Sinn
Es ist astronomisch und surreal. So geht es nicht. Man muss dann alles andere abschaffen, Hilfen für Schwerbehinderte und erarbeitete Rentenansprüche zum Beispiel, oder auch die Arbeitslosenversicherung. Das ist alles nicht sinnvoll, zumal ein Teil der Ansprüche eigentumsrechlich geschützt ist. Im Übrigen haben wir ja in gewisser Weise ein bedingungsloses Grundeinkommen in Deutschland, das heißt Sozialhilfe: Ganz egal, warum ich arm bin, ich kriege meinen Tausender im Monat mit Sachleistungen, freier Krankenversicherung, Wohnung kostenlos – das sind in München sogar 1.200 Euro. Das kriegt jeder, bedingungslos. Aber das Problem ist: Wenn man arbeitet, muss man irgendwie in ein Steuersystem kommen, und die Leistungen müssen mit wachsendem Einkommen zurückgefahren werden. Alle halbwegs seriösen Vorschläge beschäftigen sich mit diesem Ausstieg, also der Frage, wie man die Leistungen bei wachsendem Einkommen sukzessive zurückfährt, ohne dass zu viele negative Anreize entstehen; das ist die ganze Kunst. Wer bedingungsloses Grundeinkommen sagt, will das Thema einfach beiseitewischen.
Frage aus dem Publikum
Herr Professor Sinn, es gibt so viele Krisen in der Welt: die Wirtschaftskrise, die Finanzkrise, die Migrantenkrise, die Kriege in Nordafrika, die Destabilisierung der Türkei, der politische Rechtsdrall, Vertrauensverlust in die Politik und in die Presse. Kann das alles eskalieren? Wie groß ist die Gefahr, dass wir in Europa in eine unkontrollierbare Situation kommen?
Hans-Werner Sinn: Wir wollen es nicht hoffen, aber natürlich kann so was eskalieren. Aber was sollte die Politikreaktion darauf sein? Einfach nur alles zuzukleistern mit noch mehr Geld? Nein, wir müssen erkannte Fehler korrigieren. Man muss also schon mutige Reformen machen. Jede Reform ist eine kleine Kulturrevolution, wenn es eine richtige ist.
Solche Reformen muss man rechtzeitig gegen Widerstände durchbringen, damit sie auf lange Frist systemstabilisierend werden. Das gilt ganz besonders für Europa. Europa ist auf dem falschen Weg durch den Euro und die gesamte angehängte Rettungsarchitektur. Die Konsequenz kann nur sein, sich auf ökonomische Grundregeln zu besinnen, mit dieser Sozialisierungsmasche aufzuhören und für alle Beteiligten wieder eine Eigenverantwortung einzuführen, für das, was sie tun. (Applaus)
Ulrich Deppendorf: Ich mache einen Vorschlag: Wir kommen in fünf Jahren noch mal zum gleichen Thema wieder. Mal schauen, wie sich Europa dann entwickelt hat.
Das waren unsere 60 Minuten. Schönen Dank für Ihre Fragen. (Applaus)
Leo Barth: Meine Herren, herzlichen Dank für diese tiefen Einblicke in die Vielfalt und die Tragweite der Herausforderungen, die vor uns liegen. Danke auch für die möglichen Lösungsansätze. Was wir von Ihnen gehört haben, war keine leichte Kost. Dennoch wünsche ich uns, dass wir mit Zuversicht und einem Schuss Leichtigkeit in die Zukunft schauen. Dafür wünsche ich uns jetzt als ersten Schritt einen schönen Abend mit guten Gesprächen. Vielen Dank.