Gefühlt ist es Jahre her, dass wir täglich ins Büro pendelten. Vieles, was vor Monaten noch „feste“ Konstante war, variiert heute flexibel: der Arbeitsplatz, die Arbeitszeiten und auch gewisse Konventionen wie gemeinsame Meetings oder der Pausenkaffee. Mit der Pandemie wurde mit einem Schlag möglich, was vorher umkämpft oder gar undenkbar war. Mehrere CHROs berichteten uns in Gesprächen, dass man in Tagen Lösungen fand, wo vorher über Jahre Betriebsvereinbarungen verhandelt wurden – mit merklichen Veränderungen für die Arbeitswelt. Flexibles Arbeiten ist über die meisten Geschäftsbereiche zum Alltag geworden – nicht zuletzt, weil die Produktivität entgegen aller Unkenrufe bestehen blieb oder gar anwuchs. 90 Prozent der Mitarbeitenden schätzen ein, dass ihre Produktivität gar nicht oder nur bedingt durch das flexible Arbeiten beeinflusst wurde, und mehr als zwei Drittel begrüßen die gewonnene Flexibilität. Gerade deshalb gilt es jetzt, die Weichen für gute Arbeitsmodelle der Zukunft zu stellen. Denn: Es ist zu vermuten, dass die neue Arbeitsrealität auch bestehen bleibt. Wir wagen eine Prognose in das Jahr 2030.
Arbeit, da sind sich alle Expert*innen einig, wird in Zukunft vor allem eins: selbstbestimmter. Die Anwesenheitspflicht hat durch die Corona-Pandemie ein jähes Ende erfahren und wird auch bis ins Jahr 2030 kein Comeback erleben. Die Arbeit löst sich von der Präsenz. An ihre Stelle ist ein flexiblerer Umgang mit Raum und Zeit getreten, die lineare Acht-Stunden-Routine ist nicht mehr als eine blasse Erinnerung. Ebenso die klassische Bürokultur: Statt im zentralen Dienstsitz sind die Office-Worker der Zukunft über verschiedene Standorte verteilt, im Co-working-Space, im Café oder zu Hause. Work-Life-Blending, also die Verschmelzung von Arbeit und Privatleben, ist gelebte Realität. Unternehmensgrenzen sind kaum noch erkennbar, was Kollaboration und cross-organisatorischen Austausch befördert und starken Einfluss auf die Funktionen von Führung und HR hat. Durch das Loslösen von Büro- und Gebäudestrukturen werden Kosten gespart, Unternehmen allerdings fast ausschließlich über ihre Kultur zusammengehalten. Leadership bedeutet längst nicht mehr nur Planung und Organisation, sondern zielt auf das Coaching und das Anleiten der Mitarbeitenden ab – es übernimmt eine kulturvermittelnde Funktion. Führungskräfte der Zukunft sind Motivator*innen, Mentor*innen und Netzwerkende, die ihren Angestellten zu Selbstmanagement verhelfen.
Zurück ins Jahr 2021: Noch ist New Work mit gewissen Wachstumsschmerzen verbunden. Viele Führungskräfte schätzen heute schon die neu gewonnene Flexibilität, Lebensqualität und auch Kostenreduktion, bemerken aber auch, dass sich manche Mitarbeitenden mit den neuen Arbeitsbedingungen schwertun. Ihre Herausforderungen reichen von Isolation über fehlende Konzentration, einem erhöhten Stresspegel und mangelndem Austausch mit Kolleg*innen bis zu fehlendem Coaching. Diese Negativeffekte und ihre entsprechenden Gegenmaßnahmen sind nicht zuletzt von den verschiedenen Arbeitstypen abhängig. Sie zu erkennen ist für die HR von heute von entscheidender Relevanz:
Hinter diesem Arbeitstypus stecken Organisationstalente, die ihre Aufgaben und Arbeitszeiten nicht nur gut organisieren können, sondern müssen, um sich wohlzufühlen. Ihnen sei empfohlen, zu gewohnter Zeit aufzustehen und sich hinsichtlich Arbeitszeit und Pausen auch im Homeoffice nicht aus der Ruhe bringen zu lassen. Führungskräfte können solche Organisationstalente unterstützen, indem sie mit ihnen ihre Zeitpläne und Meilensteine abstimmen und feste Rituale als Struktur für den Arbeitsalltag einführen, aber auch, um regelmäßig in Kontakt zu sein.
Diese Kommunikationstalente sind zu Hause vor ihrem Laptop hart auf die Probe gestellt. Sie sind insbesondere bei Team-Sessions produktiv und engagiert. Ohne direkten oder ungezwungenen Austausch fühlen sie sich schnell isoliert. Für sie sind Video-Calls essenziell. Gern verbringen sie auch Auszeiten auf diese Weise. Digitale Pausen werden von ihnen geschätzt; virtuelle Teamabendessen, bei denen Lieferdienste zeitgleich alle Teammitglieder beliefern, noch mehr. Hier gilt es nach Aussagen verschiedener HR-Führungskräfte, die richtige Balance zu finden. Werden zu viele digitale informelle Formate angeboten, kommt es schnell zu Überdruss oder auch Ablenkung – es entsteht ein unbegrenztes Angebot an Online-Aktivitäten. Gleichzeitig ist eine gezielte Steuerung von Angeboten wichtig – in Kleingruppen, Teams, existierenden Führungskreisen, aber auch übergreifend für die Firma. Dies sind auch wichtige kulturerhaltende Methoden und sollten, wo möglich, über die Zeit wieder mit Präsenzformaten kombiniert werden.
Sie haben oft einen Sinn für Ästhetik und Visuelles. Ihr Schreibtisch ist selten unaufgeräumt. Für sie ist es empfehlenswert, auch daheim die übliche Arbeitskleidung anzuziehen und einen schönen, aufgeräumten, ruhigen Arbeitsplatz einzurichten. Ein bequemer Stuhl, Zimmerpflanzen oder eine Tasse Tee haben nicht selten ebenso starke Auswirkungen auf ihre Produktivität und ihr Wohlbefinden wie die neueste Kollaborationssoftware. Einige CHROs wurden regelrecht zu digitalen Champions und haben mit ihren Teams virtuelle Lean- und Kanban-Methoden erprobt und ein „Online-Whiteboard“ eingerichtet, in dem alle Teammitglieder in Echtzeit und virtuell zusammenarbeiten. Hier können die HR-Abteilungen auch als Vorbild für die breitere Organisation agieren – was dort funktioniert, ist ggf. auch spannend für den Rest der Firma.
Die Abgrenzung von Arbeit und Erholung fällt beim flexiblen Arbeiten vielen schwer. Besonders schwer trifft das die Seiltänzer*innen, die schnell und oft zwischen beiden Welten hin und her springen. Ihnen helfen Rituale wie morgendliche Kick-off-Calls oder eine Wochenzusammenfassung am Freitag. Auch feste Erholungszeiten sind für sie empfehlenswert. Egal ob Sport, Chor, Spanischunterricht oder geplante Mahlzeiten mit Familienmitgliedern: Hauptsache die Zeiten stehen fest. Ein CHRO berichtete, dass es auch wichtig ist, die Erwartungshaltung des Arbeitgebers hinsichtlich dieser Ruhepausen klar zu artikulieren. Beim flexiblen Arbeiten kommt schnell das Gefühl von ständiger Erreichbarkeit auf. Hier müssen Regeln gefunden werden, die die Kontrolle der Arbeitsleistung ermöglichen, aber gleichzeitig auch so etwas wie Kernarbeitszeiten und Pausenzeiten erhalten. Auch diese Themen können aktiv in die Kalender eingestellt und vereinbart werden und sind als Termine genauso wichtig wie Meetings. Führungskräfte sind Vorbilder – je mehr sie so agieren und auch transparent darüber sprechen, umso leichter ist es für die Mitarbeitenden, ähnliche Verhaltensweisen anzunehmen.
Natürlich lassen sich nur die wenigsten Mitarbeitenden ausschließlich einer Kategorie zuordnen. Menschen sind größer als Boxen. Doch diese Arbeitstypen helfen, das Personalmanagement an die unterschiedlichen Bedürfnisse bezüglich flexiblen Arbeitens anzupassen.
Die Eigenverantwortung der Mitarbeitenden ist gerade für die flexible Arbeit essenziell. Teammitglieder sollten daher die Möglichkeit erhalten, sich zu fragen, welchem Typus sie entsprechen, um ihre Arbeitsweise gegebenenfalls zu optimieren. Führungskräfte wiederum brauchen die Möglichkeit, diese Ansprüche zu erfassen, sie zu verstehen und auf sie einzugehen. Dabei braucht es Fingerspitzengefühl: Gute Führungskräfte befähigen zur Eigenverantwortung, sie erkennen Stärken und festigen den unternehmensinternen Austausch, während sie bei heiklen Punkten wie der Kontrolle der Arbeitszeit die Zügel lockerer lassen. Gerade in Zeiten räumlicher Distanzierung wird es immer stärker auf diese cross-organisationalen Netzwerke ankommen, um weiterhin gemeinsam Trends zu erkennen und damit agil zu bleiben.
Thomas Perlitz, Geschäftsführer/Managing Director & Chief Human Resources Officer bei BestSecret/Schustermann & Borenstein, über die Mobile-Working-Euphorie während der Anfangsphase der Pandemie: „Es gelangen Dinge, die vorher nicht denkbar waren. Mit hoher Energie und Umsetzungskraft haben Unternehmen das ‚Notwendige‘ auf den Weg gebracht: die benötigte Anzahl an Laptops zu bekommen, die IT-Sicherheit zu gewährleisten, die erforderlichen Bandbreiten und Software zur Verfügung zu stellen. Bei uns und in mir bekannten mitbestimmten Unternehmen kam es zu pragmatischen, schnellen und an der Sache orientierten Lösungen.“
Dr. Martina Lambeck, Chief Human Resources Officer bei Bilfinger, über die Herausforderungen der Flexibilisierung unserer Arbeitswelt: „Während viele zu Beginn der Pandemie Homeoffice ausschließlich positiv bewertet haben, haben sich zwischenzeitlich einige Effekte eingestellt, die für ein dauerhaftes mobiles Arbeiten berücksichtigt werden sollten: Wie kann einer gewissen ‚Lockerung‘ der Bindung zwischen Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen positiv entgegengewirkt werden? Wie gewährleisten wir eine konstant hohe Performance, wenn Teams nicht mehr persönlich zusammenkommen und interagieren wie bisher? Hier sind HR-Expert*innen gefordert, für die Zukunft nachhaltige Lösungen und Ansätze zu entwickeln.“
Christoph Grandpierre, Geschäftsführender Partner und Gründer der Metakomm Partnergesellschaft, über die Erkenntnisse aus der flexiblen Zusammenarbeit: „Wir konnten 95 Prozent unserer Mitarbeitenden kurzfristig das mobile und flexible Arbeiten ermöglichen. Der größte Fortschritt ist die Akzeptanz der Führungskräfte für verschiedene Arbeits- und funktionsübergreifende Zusammenarbeitsmodelle. Zusätzlich hat es uns als Firma geeint und gezeigt, was alles erreicht werden kann, wenn alle ihren Fokus auf eine gemeinsame Zielsetzung für Unternehmen und Mitarbeitende richten. Jetzt ist es an uns, diese Ausrichtung nachhaltig zu verankern.“
Dr. Thorsten Schlüter, Member of the Group Executive Board bei REHAU Group, über Management-Rückschlüsse: „Vertrauen ist die Basis – wir mussten Führungskräften und Mitarbeitenden in dieser Sondersituation vertrauen – und das hat funktioniert. Auf der obersten Managementebene haben wir erkannt, dass virtuelles Führen die neue Realität ist. Das ist wahrscheinlich die größte kulturelle Herausforderung: Wie können wir unsere Mitarbeitenden motivieren, abgestimmt bleiben und effektiv führen bei einer viel geringeren physischen Präsenz? Wir müssen unsere Führungs- und Zusammenarbeitsmodelle neu definieren und unsere Fähigkeiten im Bereich virtueller Führung schulen.“
Der Beitrag ist Teil unserer Artikelserie „Wie weiter, wenn alles anders ist? HR und das neue Arbeiten“, die zentrale Einsichten aus regelmäßigen Zoom-Calls mit HR-Führungspersönlichkeiten wiedergibt.