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„Druck von allen Seiten“

Talent Management ist wichtiger denn je. Doch die HR-Funktion hat zu kämpfen: mit mangelnden Ressourcen, wenig zeitgemäßen Methoden und gleichzeitig steigenden Erwartungen.
  • März 2025
  • 7 Min. Lesezeit

Der Fachkräftemangel ist zu einer existenziellen Herausforderung für Unternehmen praktisch jeder Branche geworden. 82 Prozent der deutschen HR-Verantwortlichen bezeichnen ihn als eines ihrer drängendsten Probleme. Tatsächlich kommen Studien zu dramatischen Befunden, etwa dass das Arbeitskräfteangebot in Deutschland bis 2035 ohne Gegenmaßnahmen um rund sieben Millionen Personen sinken wird. Unternehmen stoßen im Recruiting also immer häufiger an ihre Grenzen, denn der Markt gibt schlicht nicht mehr genügend passende Talente und erfahrene Expert:innen her.

Talente sind knapp – und haben immer höhere Ansprüche

Das Problem der fehlenden Quantität wird durch mangelnde Qualität verstärkt. Unternehmen klagen, dass das Bildungssystem junge Menschen nicht mehr adäquat auf den Arbeitsmarkt vorbereitet. Zugleich sind die wenigen jungen Nachwuchskräfte anspruchsvoller geworden: Sie erwarten eine hohe Flexibilität im Hinblick auf hybride Arbeitsmodelle, wollen gefördert werden und zügig Karriere machen.

Umfragen unter Personaler:innen unterstreichen damit, was auch wir in unserer Arbeit mit einzelnen Klienten gespiegelt bekommen: Die Bedingungen im Talentmarkt sind härter geworden, die Kosten für externe Talente sind gestiegen. Somit gewinnt der Business Case an Bedeutung, vorhandene talentierte Mitarbeiter:innen zu identifizieren, zu entwickeln, zu motivieren und zu halten.

Der Wertbeitrag des Talent Managements wird wichtiger …

Ein starkes Talent Management wird zum Wettbewerbsvorteil und somit zum kritischen Teil einer Unternehmensstrategie. Es kann sogar fundamental werden für das Funktionieren des Geschäftsmodells.

Derweil wird HR in vielen Unternehmen allerdings weiter als Kostenstelle oder Backoffice-Abteilung missverstanden. Während der Bedarf an strategischem Talent Management enorm steigt, wird die Funktion in vielen Fällen noch sehr transaktional betrieben. Die Frage ist: Was muss passieren, damit Talent Management den notwendigen Platz am Führungstisch bekommt – und so den angestrebten strategischen Beitrag leisten kann?

Ausgehend von dieser Frage haben wir uns in den vergangenen Monaten tiefergehend damit auseinandergesetzt, wie es Talent Manager:innen geht, vor welchen individuellen Herausforderungen sie sich sehen – und was sich daraus für die Disziplin als Ganzes ableiten lässt. Wir haben Interviews mit Leiter:innen der Funktion geführt, haben ausgewählte Talent Manager:innen zu Round Tables geladen. Und wir haben mit unseren eigenen Spezialist:innen über Trends und Herausforderungen diskutiert. Die wesentlichen Ergebnisse: Alle HR-Funktionen stehen gehörig unter Veränderungs- und Erwartungsdruck. Ihr Wertbeitrag fürs Unternehmen wird wichtiger, aber das Umfeld ist dafür alles andere als einfach – und das gilt für Talent Manager:innen ganz besonders.

… doch Ressourcen und Budget dafür fehlen oft noch

Talent Management bedeutet nicht weniger, als sicherzustellen, dass im entscheidenden Moment die notwendigen Talente verfügbar und bereit sind, die anfallenden (Leadership-)Aufgaben und Herausforderungen zu übernehmen. Talent Manager:innen entwickeln also Anforderungsprofile, steuern das Recruiting oder identifizieren Leistungsträger:innen intern. Sie fördern Talente gezielt und organisieren Fortbildungen. Sie ermitteln durch ein effizientes Leistungsmanagement, welche Potenziale in der aktuellen Belegschaft schlummern. Sie entwickeln Karrierepfade und planen die Nachfolge in Schlüsselpositionen. Nicht zuletzt sorgen sie dafür, dass die auf diese Weise identifizierten und aufgebauten Talente im Unternehmen bleiben.

Um all das tun zu können, benötigen sie Ressourcen und Budget, nicht zuletzt aber auch Prozesse und Kennzahlen, sowie die Unterstützung durch entsprechend ausgestattete IT-Plattformen, damit Talent Management keine „Bauchentscheidung“ ist. Das zentrale Spannungsfeld liegt darin, dass die Rahmenbedingungen (wie etwa ein leistungsfähiges HR-Informationssystem) oft nicht oder nur unzureichend vorhanden sind, oder dass Talent Manager:innen vollauf damit beschäftigt sind, solch ein Set-up überhaupt erst aufzubauen.

Die Führung wünscht sich eine Revolution …

Die Unternehmensführung hat hohe Erwartungen an ihre Talent Manager:innen, das zeigen die Rückmeldungen aus dem Netzwerk und in unseren Interviews. Sie sollen eine umfassende und langfristige Talent-Strategie vorlegen. Sie sollen agil auf Marktveränderungen reagieren, eine regelhafte, strategische Personalplanung sicherstellen, ständig einen Pool mit unterschiedlichen Kandidat:innen vorhalten, außerdem Lernangebote entwickeln, die möglichst personalisiert auf die Bedürfnisse einzelner Mitarbeiter:innen eingehen, die aber auch zum Upskilling oder Reskilling von ganzen Mitarbeiter:innengruppen beitragen.

Gleichzeitig haben Talent Manager:innen natürlich am besten die Top-Leute fest ans Unternehmen zu binden. Sie sollen Standardprozesse etablieren, damit interne und externe Kandidat:innen eine optimale und vor allem vergleichbare Erfahrung auf ihrer Employee Experience Journey machen, von der Stellenausschreibung bis zum Exit-Interview.

Weil inzwischen generative KI zur Verfügung steht, erwartet die Führung, dass Talent Manager:innen sie auch einsetzen: für die Suche nach externen Kandidat:innen, um deren Daten effizienter zu erfassen und zu analysieren. Bei der Auswertung interner Leistungs- und Motivationskennzahlen. Bei der Entwicklung von Weiterbildungsprogrammen, Coaching und Mentoring. Womöglich gar bei der Retention, indem KI-Prognosen stellt, welche Talente „auf dem Absprung“ sein könnten. KI soll den gesamten Prozess vereinfachen und beschleunigen. Vorständ:innen haben schließlich die Studien gelesen, wonach sich durch intelligente Automation Effizienz und Kund:innenerlebnis in der HR-Organisation verbessern lassen – während zugleich die Kosten sinken.

Und weil all das noch längst nicht ausreicht, wünscht sich das C-Level selbstverständlich ein „Talent-First-Mindset“ bei allen Führungspersönlichkeiten. Die sollen sich von der sach- und aufgabenorientierten Führung emanzipieren und ihre Aufmerksamkeit stärker auf den einzelnen Menschen und seine Potenziale richten. Überhaupt wird die Liste der Kompetenzen, die Führungspersönlichkeiten mitbringen sollen, immer länger. Die wissen angesichts der vielen Erwartungen, die man an sie stellt, inzwischen oft gar nicht mehr, worauf es beim Thema Führung wirklich ankommt. Die gezielte Weiterentwicklung dieser Top-Talente im Unternehmen steht damit ganz oben auf der ohnehin schon langen To-Do-Liste von Talent Manager:innen.

… das Talent Management wünscht sich eine vernünftige Basis

Während die Erwartungen hoch sind, haben sich die Rahmenbedingungen, unter denen Talent Manager:innen arbeiten müssen, verschlechtert. Im Recruiting finden sie am Markt immer schwerer die passenden Talente. Beim Onboarding wird der Druck, durch Digitalisierung und KI-Kosten zu senken, immer höher. Bei der Entwicklung ist immer häufiger ein personalisiertes, nachhaltiges und wirksames Lernen gewünscht – mit modernen Lern-Management-Systemen. Im Performance Management braucht es häufiger moderne, flexible Methoden, die dem Wunsch nach persönlichem Wachstum und Individualität gerecht werden – doch der Standard sind starre Bewertungsmethoden wie das 9-Box-Raster nach Dave Ulrich.

Bei der Nachfolgeplanung, die wegen des Talentmangels enorm wichtig geworden ist, um Lücken zu schließen und Top-Talente zu binden, passiert fast alles ad hoc: Systematische Prozesse gibt es hier kaum. Und für eine strategische und vorausschauende Workforce-Planung bräuchte es schließlich valide und belastbare Daten. Doch die fehlen in vielen Unternehmen, oder die Datenqualität reicht nicht aus.

Was jetzt zu tun ist

Aus den Diskussionsrunden und unseren Gesprächen lassen sich verschiedene Handlungsfelder ableiten, bei denen sich die Veränderungswünsche von Unternehmensleitungen und Talent Manager:innen überschneiden. Hier eine Auswahl der vier Themen, bei denen wir die aktuell größte Handlungsnotwendigkeit sehen:

  1. Erstes Handlungsfeld: Bringt den Laden in Ordnung!
    Talent Manager:innen benötigen ausreichend Ressourcen, um eine digitale Datenbasis aufbauen und diese dann KI-optimieren zu können. Es geht um leistungsfähige IT-Systeme, es geht um Datenverfügbarkeit. Gute KI-Modelle erfordern viele und valide Daten. Daher liegt großes Potenzial in der Verbindung und Nutzbarmachung aller Daten aus internationalen und funktionalen Geschäftseinheiten.

    Viele Talent Manager:innen müssen sich dieses digitale Fundament für ihre Arbeit erst noch bauen – und dabei den Anforderungen an Datenschutz gerecht werden. Klar ist auch: Weil sie immer mehr mit Datenanalyse zu tun haben, müssen sich Talent Manager:innen in Teilen zu Techniker:innen entwickeln.
     
  2. Zweites Handlungsfeld: Nehmt die Führung in die Pflicht!
    Das „Talent-First-Mindset“, das sich die Führung wünscht, ist eine wichtige Grundhaltung. Allerdings können Unternehmen ihre Talent Manager:innen damit nicht allein lassen.

    Dazu muss unternehmerisches Denken auf allen Ebenen Einzug halten: von der Talentgewinnung über die Entwicklung von Mitarbeiter:innen bis hin zu den Anreizstrukturen. Man hat es mit einem ausgewachsenen Change-Vorhaben zu tun. Hier ist die Unternehmensführung gefordert. Für das C-Level bedeutet das: Es gilt, Talent Manager:innen im Unternehmen den Rücken zu stärken, sie in strategische Überlegungen der Unternehmensentwicklung einzubinden und einen Rahmen zu schaffen, in dem sie Talente mittel- und langfristig erfolgreich weiterentwickeln können.
     
  3. Drittes Handlungsfeld: Macht Schluss mit One-Size-Fits-All!
    Individualisierung entwickelt sich zur entscheidenden (Neben-)Bedingung für erfolgreiches Talent Management. Der Pool potenzieller Bewerber:innen wird kleiner, der Altersdurchschnitt steigt. Mehr denn je müssen Talent Manager:innen also die Vielfalt potenzieller Talente sowohl unter Bewerber:innen als auch in den bestehenden Teams akzeptieren und für sich nutzen. Sie brauchen das Mandat und die Zeit, sich auf diejenigen Bewerber:innen und Mitarbeiter:innen konzentrieren zu können, die wirklich Entwicklungsbedarf und Entwicklungspotenzial haben – und sollten dann sehr individuell auf diese Gruppe eingehen. Die Standardfortbildung für alle hingegen hat ausgedient.
     
  4. Viertes Handlungsfeld: Nutzt KI – wenn das etwas bringt!
    Last, but not least: Statt schlicht „mehr KI“ im Talent Management zu fordern, braucht es einen zielgerichteten Einsatz der neuen Technik. Für Talent Manager:innen geht es darum, Win-Win-Situationen zu gestalten: Sie müssen Strategien für den Einsatz von KI entwickeln, die sowohl den Bedürfnissen des Unternehmens als auch denen der Mitarbeiter:innen gerecht werden.

    Die drei wichtigsten geplanten Anwendungsfälle im internen Talent Management sind aktuell Chatbots für Mitarbeiter:innen, die Generierung von Verwaltungsaufgaben, -richtlinien und -dokumenten sowie die Gestaltung von Stellenbeschreibungen und Qualifikationsdaten.

    Bei der der Gewinnung von Talenten, also dem „Market Search“ kommen derweil funktionale HR-Co-Piloten bereits vielfach zum Einsatz – der Recruiting-Bereich ist damit ein Vorreiter.

    Klar ist: KI wird nicht in allen Prozessen gleichermaßen nützlich sein. Aber sie kann zum Beispiel helfen, digitale Plattformen und Systeme zu schaffen, mit deren Hilfe die Klient:innen des Talent Managements sich ihre Aus- und Weiterbildungsmodule nach Bedarf weitgehend selbständig zusammenstellen.

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