„Wo liegen die größten Stärken Ihrer Führungskräfte und Mitarbeiter?“ Nicht jeder Entscheider hat auf diese Frage eine gute Antwort. Dagegen fällt es den meisten leicht, die Schwächen der Mitarbeiter zu benennen. Zwar gehört das Schlagwort „Stärkenorientierung“ inzwischen in vielen Unternehmen zum Sprachgebrauch, aber in der Praxis wird die dahinterstehende Idee zu selten umgesetzt. Das ist bedauerlich, weil die Mitarbeiter damit unter ihren Möglichkeiten bleiben. Dabei zeigt die Forschung: Die Menschen sind umso produktiver in ihrer Arbeit, je mehr Stärken sie in ihrem Beruf anwenden können.
Bei der Frage nach dem Potenzial und der Motivation von Führungskräften fallen die Antworten noch ernüchternder aus. Lediglich 40 Prozent der Top-Entscheidungsträger haben laut einer globalen Studie von Egon Zehnder das Gefühl, ihr Arbeitgeber interessiere sich für ihr wirkliches Potenzial und ihre persönlichen Motive. Fast Dreiviertel aller Top-Führungskräfte würden es begrüßen, vom Unternehmen besser dabei unterstützt zu werden, ihre persönlichen Ziele und Motive stärker zu verfolgen. Interessanterweise sehen viele hier eine reine Bringschuld des Unternehmens. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, hat das Folgen: Wenn die Lücke zwischen inneren Motiven und der tatsächlichen Tätigkeit zu groß wird, sind viele eher geneigt, nach anderen Möglichkeiten außerhalb des Unternehmens zu suchen, statt einen Dialog mit dem eigenen Unternehmen zu initialisieren.
Warum ist das so?
Eine Ursache könnte in der Annahme liegen, dass das Thema intrinsische Motivation für andere nicht so wichtig sei. Die Forschung hat dafür den Begriff „extrinsic motivation bias“ gefunden: Vorgesetzte nehmen häufig an, dass ihre Mitarbeiter lediglich des Geldes wegen arbeiten, haben aber selbst das Gefühl, durch andere, nicht-materielle Dinge motiviert zu sein. Interessanterweise trifft die gleiche Annahme auf viele Mitarbeiter zu: Sie glauben, dass der Boss, anders als sie selbst, nur materiell motiviert ist. Hinzu kommt, dass sich erstaunlich viele Führungskräfte ihrer eigenen Stärken und Motive viel zu wenig bewusst sind. Vielleicht wird es in einer nicht allzu fernen Zukunft digitale Messgeräte geben, die ihnen verraten, was sie wirklich wollen, aber im Hier und Jetzt sind Führungskräfte gut beraten, diese Fragen für sich selbst zu reflektieren und zu beantworten.
Auslotung und Entwicklung vorhandener Potenziale ist eine zentrale Führungsaufgabe
Jeder CEO, jeder HR-Chef wird unterschreiben: Die Auslotung und Entwicklung vorhandener Potenziale im Unternehmen ist eine zentrale Führungsaufgabe. Fakt ist: Das könnten die meisten Unternehmen besser machen. Und sie sollten es auch, denn die Forschungsergebnisse sind eindeutig: Die Berücksichtigung von Motiven und Stärken wirkt sich positiv auf Arbeitsleistung, Zufriedenheit und Gesundheit aus. Bleibt die Frage nach dem Wie.
Ich kenne kein Unternehmen, in dem es nicht viele gute Ideen dazu gibt, nicht nur im Personalbereich. Meine Empfehlung: Warten Sie nicht darauf, dass Ihr Unternehmen Sie unterstützt. Initiieren Sie selbst einen Dialog über Ihre Motive, Stärken und Ziele. Sie werden überrascht sein, wie viel Resonanz Sie erzeugen. Und unterstützen Sie andere dabei, ihre Stärken zu stärken und ihre Motive und Ziele zu verfolgen. Als Mentor, Kollege, Vorgesetzter. Es lohnt sich doppelt: Wer anderen dabei hilft, zufriedener zu sein, profitiert selbst davon.
Zum Autor:
Wolfhart Pentz ist Co-Leader der deutschen Leadership Services Praxisgruppe.